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Spiritualität
Etwas Hare Krishna, etwas Halleluja

Rund ein Fünftel der Deutschen praktiziert eine Patchwork-Religion: Sie stellen sich aus dem Glaubensangebot das zusammen, was ihren Bedürfnissen und Sehnsüchten entspricht. Jesus verbindet sich mit Yoga, Choral mit Sufismus. Was alle eint: auf Dogmen reagieren sie allergisch.

Von Michael Hollenbach | 15.09.2017
    Religiöse Traditionen haben an Bedeutung verloren. Ihre Spiritualität leben viele Menschen heute anders aus.
    Religiöse Traditionen haben an Bedeutung verloren. Ihre Spiritualität leben viele Menschen heute anders aus. (imago stock&people)
    Die 50-jährige Kyra hat einen langen Weg zurückgelegt bei der Suche nach einer zu ihr passenden Spiritualität. Aufgewachsen ist die Frau aus Hannover in einer katholischen Familie:
    "Ich habe mich dann schon sehr früh mit anderen Religionsgemeinschaften auseinandergesetzt: von der Esoterik hin zu anderen Christengemeinschaften bis hin zum Buddhismus, auch Bhagavad Gita - und habe letztendlich für mich persönlich meine Form der Spiritualität gefunden."
    Eine Patchwork-Spiritualität, die aber die katholischen Wurzeln nicht verleugnet:
    "Ich bin kein Kirchgänger: also ich halte mich nicht so gern an Traditionen oder Systeme. Aber für mich ist es wichtig, einmal im Jahr mit meiner besten Freundin an Weihnachten die Klostermesse zu besuchen mit all ihren Ritualen mit ihrer Sinnlichkeit. Das ist für mich auch eine Form, Spiritualität zu leben."
    Doch neben dem Gottesdienst praktiziert sie auch nordische Rituale, die an die alten keltischen Feste wie Beltane, Sumhain und Brigid anknüpfen; oder eine so genannte energetische Raumreinigung:
    "Ich habe hier hinten so ein Töpfchen stehen mit dem Salbei drin. Das ist so ein Rauch, der entsteht, wenn man den Salbei anzündet und dann gehe ich durch den Raum, gehe erstmal durch alle Ecken, stelle mich dann in die Mitte und konzentriere mich darauf, dass alle negativen Gefühle, dass die aus dem Raum verschwinden."
    Traditionelle Vorstellungen verschwinden
    Selbst unter Kirchenmitgliedern gehen traditionelle Glaubensvorstellungen verloren. So glaubt mittlerweile nur noch ein Drittel der Protestanten an eine Auferstehung der Toten. Andere Vorstellungen werden populärer:
    "Ich glaube auch an Reinkarnation."
    Sagt Kyra und erzählt von einem so genannten Pastlife-Experience, als sie sich unter Hypnose auf die Suche nach einem früheren Leben begab.
    Rund ein Fünftel aller Deutschen legt sich so etwas wie eine Patchwork-Religiosität zurecht.
    "Patchwork heißt eigentlich Flickenteppich. Ein Teppich, der aus verschiedenen Mustern zusammengesetzt ist. Ursprünglich wurde dieser Begriff Patchwork-Religiosität eindeutig negativ verwendet", erklärt Perry Schmidt-Leukel. Er ist Professor für Religionswissenschaften und interkulturelle Theologie an der Universität Münster.
    "Ich möchte meinen freien Geist leben"
    "Man hat es abschätzig gebraucht für Leute, die sich ihre eigene Religion zusammenbasteln. Ich finde jedoch, dass diese negative Verwendung des Begriffs eigentlich unzulässig ist, denn im Grunde genommen lebt jeder Mensch in jeder Religion immer schon eine Art von Patchwork-Religiosität."
    Für das Christentum bedeutet das beispielsweise: Dem einen ist vielleicht die Marienfrömmigkeit wichtig, der anderen das karitative Engagement, dem dritten eine Jesusverehrung.
    "Der Punkt ist nur, dass in der Vergangenheit diese Patches nur aus dem Reservoir einer einzigen religiösen Tradition stammten, nämlich in der, in der sie gelebt haben. Und das ändert sich heute zusehends, weil wir nicht mehr in einem religiös homogenen Land leben."
    Gemeinsam ist vielen Menschen, die sich ihre eigene Religion zusammenstellen, dass sie allergisch auf Dogmen reagieren. So wie bei Claudia Patzig, die heute im Yoga-Vidya-Aschram in Bad Meinberg wohnt:
    "Ich muss mich nicht gängeln lassen, ich muss mich nicht konditionieren lassen, ich möchte meinen freien Geist leben."
    In ihrem Zimmer hängen Bilder von Buddha und Jesus. Daneben eine Darstellung der elefantenköpfigen hinduistischen Ganesha-Gottheit. Hare Krishna und Halleluja - für Claudia Patzig passt das alles wunderbar zusammen.
    "Alle wollen zu Liebe und Harmonie"
    Auch Kyra und Helene Horsch betonen nicht das Trennende, sondern das Gemeinsame der Religionen. Kyra sagt:
    "Ich glaube, es gibt auch in den einzelnen Religionen ganz viele Ähnlichkeiten, nur der Weg ist ein anderer, aber das Ziel, das ist sehr ähnlich: alle wollen zur Liebe, alle wollen zur Harmonie, die einen wollen ins Paradies. Also wir haben eigentlich sehr viele Gemeinsamkeiten. Und ich bemühe mich um diese Gemeinsamkeit."
    Helene Horsch:
    "Für mich gibt es nichts mehr, was sich nicht verknüpfen lässt. Ich muss nichts ablehnen. Es gibt für mich nichts, was ich da nicht einordnen oder einfügen könnte, was sich nicht gut anfühlt."
    Gerade die Praktiken des Hinduismus und des Zen-Buddhismus sind in den vergangenen Jahren auf großes Interesse zum Beispiel auch bei katholischen Theologen gestoßen. Und selbst unter Muslimen scheint es eine Attraktivität von spirituellen Yoga-Übungen zu geben, sagt Perry Schmidt-Leukel.
    "Es hat in den letzten Jahrzehnten vor allem in Asien mehrere Fatwas, also Rechtsgutachten, gegeben, die Muslime vor der Praxis von Yoga warnen. Das ist ein Zeichen dafür, dass es viele Muslime gibt, die Yoga praktizieren, sonst bräuchte man keine Warnungen herauszugeben."
    So wie immer mehr Menschen sich Elemente aus anderen Glaubensrichtungen aneignen, so sei das auch allgemein mit den Religionen, meint der Münsteraner Religionswissenschaftler:
    "Also Patchwork-Religiosität finden wir nicht nur auf der Ebene von Individuen, wir finden sie auch in den Religionen selber. Sehen Sie sich die großen Religionen an. Jede von ihnen ist aus solchen synkretistischen Prozessen entstanden."
    Vermeidung von unangenehmen Fragen?
    So habe das Christentum viele jüdische, griechische, römische und später auch germanische Rituale für sich adaptiert.
    "Es gibt keine Religion, die sozusagen nur sie selber wäre, sondern jede der großen Religionen setzt sich immer auch aus Elementen anderer Religionen zusammen und entwickelt sich im Laufe der Geschichte auch weiter."
    Perry Schmidt-Leukel vermutet, dass sich viele Menschen die religiösen Inhalte heraussuchen, die sie am angenehmsten finden. Dem würde Claudia Patzig gar nicht widersprechen:
    "So wie die Rosinen aus dem Kuchen picken? Wenn Sie das Bild so wollen und das dann besser verständlich wird, ja dann würde ich sagen: Ich nehme von allem das Beste und mache das Beste draus."