Donnerstag, 28. März 2024

Archiv


Spöttische Verbeugung vor den Zeitgenossen

Eine Gruppe junger Männer, die das haben, was man "Herzensadel" nennen könnte, stehen im Mittelpunkt des 1912 spielenden Romans "Islands Adel". Trotz schlichter Herkunft und geringer Bildung sind sie erfüllt von hochfliegenden Idealen. Ohne höhnisch zu werden, hält Thórbergur Thórdarson seinen Landsleuten und sich selbst einen Spiegel vor.

Von Sabine Peters | 21.12.2011
    Island Anfang des zwanzigsten Jahrhundert: Die Landwirtschaft ist aufgrund der klimatischen und geologischen Bedingungen wenig ertragreich. Auch von einer industriellen Entwicklung lässt sich allenfalls in Ansätzen sprechen; es fehlt an einer Infrastruktur, erst langsam kommt der Straßenbau voran. Die Verbindungen zur Außenwelt sind rudimentär. Dominierender Wirtschaftszweig ist der Fischfang. Die Witterung: Regen, Graupel, Schnee. Und Regen und Niesel und Regen. Vielleicht müssen die Bewohner einer solchen Gegend am Ende der Welt zwangsläufig zu Poeten werden. Die Dichtung war buchstäblich in aller Munde; sie half den Leuten, mit den harten Lebensbedingungen zurechtzukommen.

    Der Schriftsteller Thórbergur Thórdarson, der von 1888 bis 1974 lebte, gehörte mit zu den Begründern der isländischen literarischen Moderne, und seine autobiografisch geprägten Romane sind eine oft ironische Auseinandersetzung mit den Lebensverhältnissen und der Mentalität seiner Landsleute. Der Autor ließ in seinen Grabstein folgende Sätze einmeißeln: "Hier ruht Thórbergur. Er lebte im Land der Armut. Er starb im Land der Verdummung." Vielleicht war es die Trauer über das vorhersehbare Ende der Literatur als Leitmedium, das ihn zu diesem harschen Kommentar bewog. Aber war das "Land der Armut" seiner Jugendzeit geistig so viel höher stehend als die Jahre nach '45, in denen Island sich vergleichsweise schnell entwickelte?

    Der Roman "Islands Adel" spielt 1912 in Nordisland, und schon der Titel des Buchs ist als spöttische Verbeugung vor den Zeit- und Leidensgenossen zu verstehen. Die jungen Männer, von denen Thórdarson erzählt, haben sicherlich das, was man "Herzensadel" nennen könnte. Trotz schlichter Herkunft und geringer Bildung sind sie zartfühlende Menschen, erfüllt von hochfliegenden Idealen. Sie philosophieren und dichten, ansonsten ernähren sie sich von Pumpernickeln mit Margarine; und sie wandern den wenigen Verdienstmöglichkeiten nach, selbst wenn sie sich für körperliche Arbeit nicht geeignet fühlen und sie für Angeberei halten.

    Der Icherzähler Thórbergur lebte monatelang unter demselben Dach wie seine angebetete heimliche Geliebte; er hat ihre schneeweißen Hände bewundert, sich nach einer stillen Stunde mit ihr gesehnt – aber dann hat er sich doch lieber zurückgehalten. Denn vielleicht hätte sie seine Annäherungsversuche unzüchtig gefunden oder ihn ausgelacht. Hätte sie? Warum hat sie eines Abends am ganzen Leib gezittert und die Gesichtsfarbe eines Rotbarschs bekommen? Ein Freund vermutet, sie leidet an "Mannlosigkeit" – aber Thórbergur hat ihr geraten, ins Bett zu gehen, um einer Lungenentzündung vorzubeugen, und er hat sich selbst schleunigst in seine eigene Kammer verzogen. War das falsch? Warum ging das Mädchen anderentags putz munter zum Schulball, und was hatte sie überhaupt abends nach neun Uhr ständig aus dem Haus zu verschwinden? Sie sprach von Orgelunterricht. Thórbergur, der mittlerweile in einer Heringsfabrik schuftet, geht die Ereignisse wieder und wieder durch. Er findet, Mädchen sollen nicht orgeln, vor allem nicht abends. Warum hat man ihm nicht rechtzeitig geraten, seiner Angebeteten zumindest den Nacken zu streicheln? Tagsüber Fragen, nachts unzüchtige Träume von Raubkatzen. Mit den Arbeitskollegen in der Fabrik tauscht er Theorien über Mädchen aus. All diese jungen Männer sind unendlich naive und dabei äußerst originelle Schwarmgeister. Halb verdaute christliche Lehrsätze spuken neben sehr undogmatischen mystisch-philosophischen Überlegungen durch ihre Köpfe. Wenn das Wesen Gottes a l l e s umfasst, dann ist Gott auch im Misthaufen auf der Wiese, der vormals das Gras war, das durch die Kuh gegangen ist, so vermuten sie. Dann wieder wollen sie wissen, ob sie sich, gut dualistisch, ums fleischliche Verlangen oder um die reine Liebe kümmern sollen. Einer von ihnen ist stolz darauf, dass er "in Versen weinen kann" - und natürlich müssen sie sich gelegentlich prügeln.

    "Islands Adel" erschien erstmals 1938. Das Buch ist kein positiver oder negativer Entwicklungsroman; eher werden die entsprechenden Genres auf die Schippe genommen. In diesem Roman passiert im Grunde überhaupt nichts. Der Icherzähler schwadroniert, verliert sich leider manchmal in nichtssagenden Personenbeschreibungen; er und seine Freunde scheinen alle Zeit der Welt zu haben. Deshalb wird die Begegnung mit einem geliebten Frauenzimmer immer wieder verschoben. Es ist ja auch sehr schön, die Türklinke zu liebkosen, die ein Mädchen anfasste, oder davon zu träumen, für eine Frau gekreuzigt zu werden, und zwar mit dem Kopf nach unten.

    Warum lässt sich ein solch langsames, weitschweifiges Buch, das vor knapp hundert Jahren spielt, auch jetzt noch mit Vergnügen lesen? Weil die Figur des tumben Tors zumindest in der Fiktion so liebenswerte Züge hat. Und diese Figur ist ja auch nicht so eindimensional, wie das vielleicht auf den ersten Blick wirkt. Denn die Unschuld und Neugier, mit der in diesem Roman nachgedacht- und gefragt wird, hat eben auch ein subversives, anarchistisches Potenzial. Island, das abgeschiedene "Land der Armut", in dem auch die literarische Moderne erst vergleichsweise spät ankam, fand in Thórdarson einen eigenwilligen Nationaldichter, der seinen Landsleuten und sich selbst einen Spiegel vorhielt, ohne dass er dabei höhnisch oder denunziatorisch wurde. Angesichts der heutigen gigantischen Unterhaltungsindustrie, von der man sich berieseln lässt, mutet es beinahe märchenhaft an, mit welcher Unbefangenheit die Leute dichteten, ob zu Ehren der Leiterin einer Mädchenschule oder voll Teilnahme für ein bedrohtes Schneehuhn. Dichtung und das Gespräch darüber waren nicht einer Elite von "Kreativen" vorbehalten, sondern beides wuchs und wucherte eben auch in einer Fischfabrik.

    Die schüchternen jungen Männer leben trotz Armut und widrigen Wetterverhältnissen in einer überschaubaren, unschuldigen, heilen Welt. Und daraus gewinnt der Roman in heutigen tabufreien, abgebrühten, zynischen Zeiten wahrscheinlich seine Anziehungskraft. Man wird bei der Lektüre nicht nostalgisch – das Buch erinnert schlicht daran, dass es nicht nur die Gegenwart gibt, sondern eben auch eine lange Vergangenheit, die von Thórdarson mit einem gehörigen Schuss Ironie gewürdigt wird.

    Thórbergur Thórdarson: Islands Adel. Roman. Aus dem Isländischen von Kristof Magnusson. Fischer Verlag, 320 Seiten, 22,95 Euro