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Spontanes schriftlich fixiert

Joseph Haydn wird sich kaum Gedanken über Tierschutzfragen gemacht haben, als er die Melodie eines Volkslieds über das Handwerk der österreichischen Viehkastrierer für sein Capriccio G-dur vewendete. Der Pianist Nicholas Rimmer hat es neu eingespielt.

Von Jochen Hubmacher | 20.03.2011
    Acht Sauschneider müassn sein, wenns an Saubärn wulln schneidn.
    Zwoa vorn und zwoa hintn, zwoa holtn, uana bintn und uana schneidt drein,
    iahna achti müassn sein!


    Es ist ein grausames Geschäft, dem die acht Sauschneider aus dem Salzburger Land nachgehen. Die Volksliedzeilen erzählen von der traditionellen Methode, wie ein Eber (ziemlich) brutal seine Männlichkeit verliert. Die fröhlich-unbeschwerte Melodie, die das blutige Handwerk der österreichischen Viehkastrierer-Brigade untermalt, klingt aus heutiger Sicht reichlich zynisch. Joseph Haydn wird sich jedoch Mitte des 18. Jahrhunderts kaum Gedanken über Tierschutzfragen gemacht haben. Er verwendet das damals äußerst populäre Volkslied als musikalisches Ausgangsmaterial für sein Capriccio G-dur und lässt es darin variiert in acht weiteren Tonarten auftauchen. Wie sich das anhört, zeigt uns der englische Pianist Nicholas Rimmer auf seinem beim Label mvh-music erschienenen Solo-Debüt mit dem Titel "Acht Sauschneider und andere Improvisationen".

    " Capriccio in G, "Acht Sauschneider müssen sein" K: Joseph Haydn "

    Mit "Acht Sauschneider und andere Improvisationen" hat Nicholas Rimmer zwar sein erstes Solo-Album vorgelegt. Dennoch ist er kein Neuling, was CD-Aufnahmen angeht. Seit Jahren arbeitet er mit dem Bratscher Nils Mönkemeyer zusammen und schon die erste gemeinsame Einspielung hat den beiden Musikern einen Echo-Klassik-Preis beschert. Außerdem hat Nicholas Rimmer das Kunststück vollbracht, gleich zweimal den Deutschen Musikwettbewerb zu gewinnen. 2006 als bester Klavierpartner und vergangenes Jahr mit dem Leibnitz Klaviertrio.

    "Acht Sauschneider und andere Improvisationen", der Titel von Rimmers Solo-CD, könnte den Hörer im ersten Moment auf eine falsche Fährte schicken. Denn genau genommen findet sich keine einzige lupenreine Improvisation darauf. Also Musik, die erst im Augenblick der Aufnahme neu entstanden ist. Sämtliche Stücke sind teilweise seit Jahrhunderten schriftlich fixiert. Und trotzdem atmen die Klavierfantasien, Variationen und ausnotierten Improvisationen, die Rimmer auf seinem Album vereint, allesamt etwas vom Geist der improvisatorischen Freiheit. Egal ob bei Wiliam Byrd, Joseph Haydn oder Béla Bartók, die auf der Aufnahme vertretenen Komponisten wollten Spontaneität und Experimentierfreude auf Notenpapier festhalten. Die kreative Energie des musikalischen Augenblicks konservieren für die Ewigkeit.

    " John Come Kiss Me Now. K: William Byrd "

    William Byrds Variationen über das englische Volkslied "John Come Kiss Me Now" aus dem späten 16. Jahrhundert waren das in der Interpretation von Nicholas Rimmer. Nachzuhören auf Rimmers Solo-Album mit dem Titel: "Acht Sauschneider und andere Improvisationen". Die ersten Stücke auf dieser CD, die tatsächlich die Bezeichnung "Improvisation" tragen, stammen von Francis Poulenc. Seine 15 Improvisationen für Klavier hat der Franzose über eine Zeitspanne von knapp 3 Jahrzehnten geschrieben. Die letzte, die 15. Improvisation, entstand Ende der 1950er Jahre und ist dem "Spatz von Paris" gewidmet, eine Hommage an die große Chanteuse Edith Piaf. Die Glitzerwelt der Montmartre-Cabarets, aber auch Tragik und emotionale Zerrissenheit der Piaf klingen darin an. Francis Poulenc hat hier in nicht mal drei Minuten, das bewegte Leben einer Legende genial zur musikalischen Miniatur verdichtet.

    " Improvisation Nr.15 K: Francis Poulenc "

    Francis Poulenc hat sich die Inspiration für seine gerade gehörte Improvisation in der Weltmetropole Paris geholt. Béla Bartók zieht es zum gleichen Zweck hinaus aufs Land. In den entlegensten Winkeln Osteuropas kreuzt er Anfang des 20. Jahrhunderts mit seinem Phonographen auf und sammelt die traditionellen Lieder der Landbevölkerung. Bartók ist überzeugt:

    "Menschen, die in primitiven Verhältnissen wohnen, können nur im Einklang mir Ihren eigenen Instinkten musizieren, können nur spontan Musik machen!"

    Und genau diese Spontaneität und Vitalität vermisst Bartók in der immer komplexer werdenden Musik vieler seiner Zeitgenossen. Also beginnt er mit den dokumentierten Melodien zu experimentieren, seinem eigenen Werk eine Art musikalische Frischzellenkur zu gönnen.

    Zum Ergebnis dieser künstlerischen Auseinandersetzung, die ihn bis zu seinem Lebensende beschäftigen wird, gehören auch die acht Improvisationen über ungarische Bauernlieder.

    " Improvisationen V und VI über ungarische Bauernlieder, op. 20 K: Béla Bartók "

    Zwei der Improvisationen über ungarische Bauernlieder, opus 20 von Béla Bartók mit dem englischen Pianisten Nicholas Rimmer. Die Aufnahme findet sich auf Rimmers erster Solo-CD, die kürzlich beim Label mvh-music erschienen ist. Unter dem Titel: "Acht Sauschneider und andere Improvisationen". Ein gelungenes Debüt, klanglich tadellos eingespielt in der fast schon legendären Berlin-Dahlemer Jesus Christus - Kirche. Dort wo die Karajans, Mutters oder Kremers dieser Welt auch schon etliche ihrer Platten produziert haben.

    Technisch sauber und mit Sinn für Details zeigt Nicholas Rimmer eine enorme stilistische Wandlungsfähigkeit. Ob Renaissancemusik, Wiener Klassik oder Moderne, ganz gleich, was ihm unter seine Pianistenfinger kommt, er sprüht hörbar vor Spielfreude. Bei Percy Graingers Cakewalk "In Dahomey" können wir uns davon jetzt noch mal überzeugen. Zuvor verabschiedet sich am Mikrofon, mit Dank fürs Zuhören, Jochen Hubmacher.

    " In Dahomey "Cakewalk Smasher". K: Percy Grainger "

    Besprochene CD:
    Acht Sauschneider und andere Improvisationen - Klavierfantasien, Variationen und Improvisationen

    Nicholas Rimmer, Klavier
    Label: mvh-music
    Bestell-Nr.: MVH7001
    LC: 23287