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Sportpolitik vor Sicherheit?

Bereits vor vier Jahren war die WM nach Japan vergeben worden. Die spärlichen Nachrichten, die uns in den letzten Wochen aus Fukushima erreichen, sind alles andere als beruhigend. Und trotzdem hat der Internationale Turnerbund nun entschieden, die WM und Olympiaqualifikation im rund 200 Kilometer entfernten Tokio auszutragen.

Von Sandra Schmidt | 30.05.2011
    Während der Europameisterschaft im April gab es kaum einen Zweifel: Die Weltmeisterschaft wird nicht in Tokio stattfinden. Einmütig wurde beteuert, die gesundheitlichen Gefahren der Reaktorkatastrophe seien nicht einschätzbar.

    Wolfgang Willam, Mitglied der FIG-Exekutive und DTB-Sportdirektor damals:

    "Ich glaube, das ist nicht nur ein Thema von minderjährigen Turnerinnen ist, sondern es geht uns alle an. Da darf ich bei mir direkt anfangen, ich möchte auch noch eine Weile leben."

    Allein die Organisatoren in Japan blieben anderer Meinung. Sie warfen kritischen Stimmen Desinformationspolitik vor und betrieben diese dann vor allem selbst.

    Dann kam die große Überraschung: Die FIG-Exekutive sprach sich geschlossen für Tokio aus, es sei dort "absolut sicher". Die vorgesehene Abstimmung im Council fand gar nicht erst statt.

    Auch Willam sieht die Sache heute ganz anders: Es gäbe es eine "analytische, wissenschaftlich aufgebaute Faktenlage" und er habe "überhaupt keine Sorge" nach Tokio zu reisen, schließlich habe das Auswärtige Amt die Reisewarnung aufgehoben.

    Über die wahren Motive des plötzlichen Sinneswandels darf spekuliert werden. Sicher ist, dass diejenigen, die es betrifft, - die Trainer, die Aktiven und die Eltern - nicht gefragt worden sind. Dazu Willam:

    "Darin haben wir jetzt keine Veranlassung gesehen, weil es ja nicht darum geht, eine Bauchentscheidung zu treffen, sondern hier sind ja Entscheidungen zu treffen, die von vorgelagerten Institutionen zu treffen sind."

    Als solche nennt er das Internationale Olympische Komitee und den Deutschen Olympischen Sportbund. Andere Stimmen allerdings sagen, IOC und DOSB hätten Druck ausgeübt, um eine Verlegung zu verhindern - selbstverständlich stand auch hier die Gesundheit der Sportler im Vordergrund. Ein Schelm wer an die zwei IOC-Vertreter aus Japan denkt, die in wenigen Wochen für Spiele in München 2018 stimmen sollen.

    Bundestrainer Andreas Hirsch ist auch Tage nach der Entscheidung von der angeblichen Faktenlage nicht überzeugt. Er spricht über die Langzeitwirkungen des Super-Gaus in Tschernobyl und gibt zu:

    "Dann muss ich jetzt an der Stelle eben auch rumeiern, und sagen, ich bin selber hin- und her gerissen, weil ich nicht schlüssig bin."

    DTB-Präsident Brechtken hingegen erklärt, er stehe hundertprozentig hinter dem Entschluss. Großmütig betont er, natürlich dürfe jeder Turner selbst entscheiden, ob er nach Tokio reisen mag oder nicht.

    Dazu Claudia Schunk, Trainerin der Vize-Europameisterin Elisabeth Seitz:

    "Ist lächerlich, ne, im Prinzip. Natürlich kann jeder entscheiden, ob er will, das ist schon klar, aber...Aber wenn alle dagegen entscheiden, dann sind wir ja ganz sicher bei Olympia nicht, wenn wir bei Olympia nicht sind, dann fallen wir wieder in der Förderkategorie, das hat ja einen Rattenschwanz."

    Auch Familie Jarosch versteht die Funktionäre nicht. Käme Tochter Nadine in diesem Sommer auf die Idee, nach Japan in Urlaub zu fahren, sie würden es definitiv verbieten. Doch die Sechzehnjährige arbeitet seit Jahren hart für ihren Traum von Olympia und ist aussichtsreiche Kandidatin für das WM-Team. Ihre Mutter hat Bauchschmerzen:

    "Wir wüssten jetzt nicht, wie wir entscheiden sollten, wir wären wirklich, also die Eltern, oder die Turner als solches, die werden jetzt die Dummen und wenn jetzt nicht die Qualifikation für Olympia wäre, ich glaub, da würden auch viele sagen, wir fahren nicht hin, das ist mir zu gefährlich."

    Dass die Eltern in einem Dilemma stecken, interessiert die Verantwortlichen im DTB nicht. Wie so oft, wenn Sportverbände nicht willig sind, Probleme zu lösen, reichen sie die Entscheidung nach unten weiter. So wird das Problem eben ein Problem des Einzelnen. Und der Verband verkauft das Ganze dann gerne noch unter dem Begriff der Demokratie und der Mündigkeit des Athleten.