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Sportwissenschaftler Ingo Froböse
"Die tägliche Sportstunde ist notwendig"

Einer neuen Studie zufolge bewegen sich die Menschen in den westlichen Industrieländern zu wenig. Das liege auch an der digitalen Revolution, meint der Sportwissenschaftler Ingo Froböse. Die Politik müsse die körperliche Aktivität in allen Lebensbereichen mehr fördern, sagte er im Dlf.

Ingo Froböse im Gespräch mit Dirk Müller | 06.09.2018
    Der Sportwissenschaftler Ingo Froböse sitzt am 17.08.2017 in Köln (Nordrhein-Westfalen) an der Sporthochschule vor dem eSport-Team der Sporthochschule.
    Der Sportwissenschaftler Ingo Froböse sitzt am 17.08.2017 in Köln (Nordrhein-Westfalen) an der Sporthochschule vor dem eSport-Team der Sporthochschule. (Oliver Berg/dpa)
    Dirk Müller: 150 Minuten spazieren gehen zum Beispiel in der Woche, oder 75 Minuten Sport. Das ist alles. Das reicht schon, um Diabetes vorzubeugen, Krebs vorzubeugen, Herzinfarkten vorzubeugen. Ja ist das denn zu viel verlangt? – Ist es offenbar, denn für viele Millionen Menschen ist das viel zu viel, für viele Millionen Deutsche auch, wie auch für viele Millionen in anderen Industrieländern. Wir sprechen von den reichen Ländern, wie jetzt eine Studie der Weltgesundheitsorganisation WHO herausgefunden hat. Massiver schädlicher Bewegungsmangel, das trifft auf jede dritte Frau zu und auf jeden vierten Mann. – Unser Thema nun mit dem Kölner Sportwissenschaftler Professor Ingo Froböse. Guten Morgen!
    Ingo Froböse: Guten Morgen, Herr Müller.
    Müller: Gibt es diesen inneren Schweinehund wirklich?
    Froböse: Oh ja! Ich glaube, ja. Die meisten Menschen merken das ja. Am Sonntag, wenn sie irgendwie Zeit haben und man schaut viel Sport, hat man immer eine gewisse Beziehung zum Sport. Aber selber treiben gelingt den meisten Menschen nicht. Und wenn ich mit den Menschen wirklich rede da draußen, dann gibt es unendlich viele Ausreden. Im Sommer ist es zu warm, im Winter ist es zu kalt, im Herbst ist es zu nass. Zeit hat man sowieso gar keine. Die Priorisierung ist eine ganz andere. Das nennt man heute Schweinehund.
    Müller: Das nennt man Schweinehund. Das heißt, ein Bewegungsdrang ist genetisch gar nicht gegeben?
    Froböse: Ja doch, bei den Kindern schon. Das muss man wirklich sagen. Die Kinder haben alle einen Bewegungsvirus. Das sehen wir ja, wenn wir sie mal loslassen. Die toben, rennen, springen, hüpfen. Das sind Dinge, die wir natürlich bei uns angelegt haben, und auch die Evolution hat das mitgebracht, dass wir nämlich Gene bekommen haben, die uns wirklich primär zu einem Ausdauerathleten gemacht haben. Das heißt, wir sind genetisch schon wunderbar vorbereitet, dass wir es tun. Aber auf der anderen Seite haben wir leider ein Problem: Wir sind auch genetisch eine Energiespar-Institution. Wir wollen keine Energie verbrennen. In diesem Spagat befindet sich der Organismus. Er braucht Bewegung, um zu wachsen, um zu fördern. Auf der anderen Seite aber will er Energie sparen, und das kriegen wir offensichtlich nicht richtig gelöst.
    Müller: Das heißt, es ist in uns angelegt, uns zu bewegen. Sie haben gerade das Beispiel gebracht, leuchtet jedem ein: Kinder spielen, tanzen, raufen, wie auch immer, bewegen sich die ganze Zeit. Um da einen Schnitt zu machen, ganz anders zu argumentieren: Wir wollen uns originär ursprünglich bewegen. Dann kam der Wohlstand? Spielt das eine Rolle?
    "Erst als die digitale Revolution kam, kippte es um"
    Froböse: Dann kam Bill Gates, ich würde das mal sagen, die digitale Revolution, und damit verschwand letztendlich ganz viel körperliche Aktivität im Zuge der Arbeit, und das ist an sich der ganz wichtige Faktor. Wir haben eine Veränderung in der Umwelt dahingehend, dass wir ganz viel früher im Zuge der normalen Abwicklung unserer Alltagsaktivitäten gemacht haben, die uns viel bewegt haben. Wir brauchten damals keinen Sport, keine körperliche Aktivität. Wir mussten wirklich vor vielen, vielen Jahren noch auf die Jagd gehen und haben 30 Kilometer am Tag zurückgelegt. Selbst als die Dampfmaschine kam, haben wir immer noch acht bis zehn Stunden körperlich aktiv auf dem Feld gearbeitet, Kohle geschüppt, Energie gehackt und ähnliche Dinge. Erst als die digitale Revolution kam, kippte es um, und dementsprechend heißt das, wir haben eine andere Arbeitswelt, dementsprechend keine Bewegungsressourcen mehr dort. Heißt: Wir müssen es anders kompensieren.
    Müller: Das heißt, Microsoft ist mal wieder Schuld?
    Froböse: Ja, Bill Gates im weitesten Sinne. So kann man es sagen.
    "Sport ist in vielen Schulen leider auf der Strecke geblieben"
    Müller: Wenn ich da noch mal nachfragen darf, Herr Froböse? Sie sagen, Digitalisierung. Das leuchtet auch vielen ein, die da sagen, klar, da kann man noch stärker am Arbeitsplatz verhaftet bleiben in irgendeiner Form. Wenn aber diese große Studie der WHO, der Weltgesundheitsorganisation, wenn das stattgefunden hätte auch in diesem Format, in dieser Dimension in den 70ern, 80ern, Anfang der 90er, wäre da ein anderes Ergebnis noch herausgekommen? Ist das wirklich so?
    Froböse: Ja, teilweise schon. Ich glaube schon, dass Pisa zum Beispiel im Bereich der Kinder und Jugendlichen wirklich der Supergau für die körperliche Aktivität war. Warum ist das so? Weil wir ganz viele Ressourcen in andere Fächer gesteckt haben und der Sport und die körperliche Aktivität, wissen wir doch in vielen Schulen, leider ein wenig auf der Strecke geblieben ist. Nicht die Qualität, aber die Quantität geht ein wenig den Bach herunter. – Das ist das erste.
    Das zweite ist, dass wir so viel Automatismen mittlerweile haben. Nehmen wir nur mal das gesamte Internet, wo wir nicht mehr einkaufen gehen müssen, sondern wir rufen an und alles kommt quasi free flow nachhause geflogen. Wir haben viele, viele Ressourcen, die wir im Alltag auch nicht mehr benötigen. Das ist das Treppenhaus, was ja quasi verschwunden ist und wir nur noch den Fahrstuhl haben, die Rolltreppen haben. Das hat sich verändert. Wir bauen komplett barrierefrei, was auf der einen Seite super ist, aber auf der anderen Seite auch hier sämtliche Dinge dem Körper an Belastung wegnimmt. Die Eltern fahren die Kinder bis vor die Schule und vor den Kindergarten. Auch das war früher absolut nicht normal. Wir mussten alle unseren Schulweg zurücklegen. – Ja, die körperliche Aktivität ist aus dem Leben verschwunden.
    Müller: Das ist auch ein interessanter Punkt, was Sie sagen mit der Schulsport-Philosophie, wenn ich das so nennen darf.
    Froböse: Genau.
    "In der Politik sehe ich kein sportliches Vorbild"
    Müller: Gibt es keine richtige Lobby, auch keine politische Lobby für Schulsport?
    Froböse: Ich sehe sie jedenfalls nicht. Ich sehe sie wirklich nicht – und da gibt es viele, viele Studien, warum man es denn wirklich nicht nutzt. Es gibt wunderbare Belege dafür, dass eine morgendliche erste Stunde Sport die Lernleistung, die Lehrleistung komplett motiviert und maximiert sogar. Wir wissen, dass man Vokabeln viel besser in körperlicher Aktivität lernt. Wir wissen, dass die Kinder sehr viel aufmerksamer sind, wenn sie die Möglichkeiten hatten, sich vorher auszutoben und dementsprechend auch aktiv zu werden. Wir wissen, wenn wir die Offenheit der Kinder durch körperliche Aktivitäten morgens gefördert haben, indem wir sie wachgemacht haben, ist die nächste Mathematikstunde deutlich einfacher durchzuführen. – Ja, wir haben eben diese Lobby nicht, und wenn ich in die Politik schaue, sehe ich kein sportliches Vorbild, was das wirklich mal nach vorne treiben könnte.
    Müller: Wir haben gestern von einem Beispiel in einer Kölner Schule gehört, wonach dort immer zur Hälfte des Unterrichtstages, also irgendwie um elf, zwölf Uhr, immer eine Stunde Sport stattfindet, jeden Tag. Ist das ein Weg?
    Froböse: Ja, ich glaube schon. Das fordern wir ja seit vielen, vielen Jahren, alle die, die aus dem Sport herauskommen. Die tägliche Sportstunde ist notwendig, gerade für die kindliche Entwicklung. Sie haben ja gerade auch die erschreckenden Zahlen der Weltgesundheitsorganisation für die Erwachsenen gesagt. Für die Kinder wird es doch mindestens genauso schlimm. Wir haben noch nie so viele Altersdiabetes im Kinder- und Jugendlichen-Bereich gehabt. Wir haben Schlaganfälle, Herzinfarkte, hohen Blutdruck bei Kindern und Jugendlichen. Da schauen wir einfach hin und da kann körperliche Aktivität so wunderbar helfen, und das machen wir nicht. Das ist eine große Gefahr für die gesamte Gesellschaft.
    "Es wird immer nur an die Spitze des Sports geschaut"
    Müller: Machen wir, Herr Froböse, einen Schlenker in die Politik, Ihr Punkt. Sie haben gerade gesagt, es gibt da auch kein sportliches Vorbild, wenn ich Sie richtig verstanden habe, oder jedenfalls keine große politische Lobby, keine Person, die das in irgendeiner Form verkörpert. Sportminister – das ist bei uns traditionell der Innenminister, und das ist jetzt Horst Seehofer, der sich um die Sportbelange bundesweit zumindest kümmern muss. Würde das helfen, wenn man einen prominenten Sportler mit dieser Aufgabe in irgendeiner Form betraut? Hat das eine Wirkung?
    Froböse: Das muss kein prominenter Sportler sein. Das haben andere Länder versucht, ist auch dadurch nicht besser geworden. Auf der anderen Seite aber, was ich möchte ist, dass man den Sport nicht nur als Spitzensport beschreibt. Beim Innenminister wird es ja immer an Medaillen festgemacht, wieviel bekommen die Sportverbände dann an Ressourcen zugewiesen. Das heißt, es wird immer nur an die Spitze des Sports überhaupt geschaut, der Aufmerksamkeit nach draußen generiert. Viel wichtiger ist doch, das Massenphänomen körperliche Aktivität und Sport insgesamt in unsere Gesellschaft wieder hineinzutragen, und das ist eben nicht nur ein Phänomen, ein Problem des Innenministers. Es ist ein intern ministerielles Problem. Es gehört das Thema an die Arbeit, es gehört das Thema in die Gesundheit, es gehört das Thema in den Verkehr in das Innenministerium. Letztendlich überall dorthin, wo Menschen agieren, muss körperliche Aktivität stattfinden. Warum beschäftigt sich der Verkehrsminister nicht mal mit der körperlichen Aktivität des Fußgängers? Das ist mindestens genauso bedeutsam als möglicherweise Verkehrspolitik mit anderen Dimensionen.
    Müller: Bessere Radwege, mehr Radwege führen zu mehr Radfahren?
    Froböse: Zum Beispiel, oder bessere Fußwege.
    Müller: Ist das so, ist das ein Automatismus?
    Froböse: Das ist ein Automatismus – natürlich! Ich lebe ja in Köln und ich fahre sehr gerne Fahrrad, aber da sehr ungerne, weil es ist hoch gefährlich, dort Fahrrad zu fahren. Wir sehen das in anderen Ländern, wenn wir nur mal nach Holland oder Dänemark schauen, was doch die Innovation in den Fahrradverkehr gebracht hat an Ressourcen, letztendlich die Aktivität der Gesellschaft deutlich zu fördern. – Ja, wenn wir den Autoverkehr ein wenig zurückfahren, allein durch andere Strategien oder Konzepte, dann fördert das den Personenverkehr mit körperlicher Aktivität.
    "Der Gesetzgeber hat schon reagiert"
    Müller: Und die Unternehmen könnten auch noch eins drauflegen, indem sie auch ihre Mitarbeiter fördern, anhalten, Sport zu betreiben?
    Froböse: Ja! Es gibt ja – und da freue ich mich natürlich – das Präventionsgesetz seit einigen Jahren, seit 2014/15. Da ist festgeschrieben im Gesundheitsgesetz, dass die betriebliche Gesundheitsförderung dort besser ausgestattet wird. Das heißt, Unternehmen haben die Ressourcen, um Mitarbeiter einfach im Sinne dieser körperlichen Aktivität, insgesamt auch der Gesundheit besser zu fördern. Da hat der Gesetzgeber schon reagiert. Das Problem ist nur, dass die kleinen und mittelständischen Unternehmen andere Probleme haben. Die haben nämlich volle Auftragsbücher aktuell und suchen händeringend nach entsprechenden Arbeitnehmern. Die großen Unternehmen machen das schon, aber die große Menge der kleinen und mittelständischen Unternehmen nutzen diese Möglichkeiten, die die Politik hier geschaffen hat, überhaupt noch nicht.
    Müller: Die Deutschen bewegen sich nicht genug – unser Thema war das mit dem Kölner Sportwissenschaftler Professor Ingo Froböse. Danke, dass Sie so früh für uns Zeit gefunden haben. Ihnen noch einen schönen Tag und viel Aktivität.
    Froböse: Sehr gerne! Ich gehe jetzt laufen. – Tschüss!
    Müller: Tschüss!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.