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Sprache als Vermittler

Jürgen Stähle ist seit bald 40 Jahren Simultanübersetzer: Er reiste mit Willy Brandt durch die Welt und lieh Barack Obama seine deutsche Fernsehstimme. Promiklatsch sucht man in Stähles Buch über die Profession des Übersetzen jedoch vergebens: Ihm geht es um die Rolle der Sprache als Mittler.

Von Lerke von Saalfeld | 10.07.2009
    "Ich bin im nächsten Jahr im 40.Berufsjahr. Zunächst einmal habe ich es für mich geschrieben. Das ist auch so eine Suche nach der eigenen Identität, die durchaus nicht immer so klar ist - zwischen zwei Sprachen, in zwei Sprachen leben, an der Schnittstelle von Sprachen und damit auch von Identitäten - weil ich wirklich glaube, dass so viel über die Sprache läuft, dass sie viel mehr ist als das Wasser für den Fisch, der darüber nicht nachdenkt. Es sind die verschiedensten Antriebe dabei. Diese Vielfalt entsteht dadurch, dass man beschreiben möchte, was ist das für ein unbekanntes Wesen, ein Simultan- oder Synchronübersetzer; aber dann eben auch das Bedürfnis, einmal ganz deutlich zu machen, was für eine Rolle und für eine Bedeutung die Sprache für diese Tätigkeit hat, weil es doch sehr, sehr viele Menschen gibt, die meinen, der Austausch von Wörtern durch Wörter sei übersetzen. Und da muss man möglicherweise sogar übertrieben deutlich machen, wie weit dieses ganze Universum der Sprache in diesen kleinen Prozess des Übersetzens eines Satzes einfließt."

    Auf über vierhundert Seiten breitet Jürgen Stähle sein Wissen über das Übersetzen aus, als Handwerk wie als Kunst des zweitältesten Gewerbes, wie es im Untertitel seines Buches heißt. Das klingt ein wenig reißerisch, aber wer dahinter erwartet, der Simultandolmetscher würde aus dem Nähkästchen plaudern, würde zum Beispiel erzählen, was er an der Seite von Willy Brandt als dessen Dolmetscher erlebt hat, welche Erfahrungen er mit dem Tennisprofi André Agassi oder dem Philosophen Pierre Bourdieu gemacht hat, der wird enttäuscht - keine Anekdoten. Jürgen Stähle ist diskret, ihm geht es nicht um Enthüllungen aus seinem Berufsalltag, sondern er möchte mit seinem Buch sensibilisieren, was Sprache bedeutet, welch feines Instrumentarium die jeweilige Sprache ist, die uns das Kommunizieren ermöglicht, die aber auch im Übergang von einer Sprache in die andere voller Tücken steckt. Deshalb wendet sich das Buch nicht nur an seine Dolmetscherkollegen, sondern auch an jeden Menschen, der bewusst mit der Sprache umgehen möchte. Verarmung, Verhunzung, Verballhornung von Sprache sind ihm ein Gräuel:

    "Ich glaube schon, dass ich im Laufe der Jahre empfindlicher geworden bin, und das liegt sicherlich auch daran, dass man dieses Gefühl des Ausgeliefertseins hat, wenn einem jeder Müll präsentiert wird, und man alles übersetzen muss. Das ist natürlich schon ein Aspekt, nach dem man fragen kann im Zusammenhang mit der Arbeit. Aber auf der anderen Seite, wenn Sie an Thomas Bernhard denken, wie er in seinem 'Holzfällen' Wien beschimpft, und plötzlich kippt er um, während er noch läuft, er rast ja sprachlich, und ohne dass er es selber merkt, kippt er um in eine Liebeserklärung. Dieses Gefühl hat man sehr oft, wenn man mit Sprache umgeht, als Übersetzer oder als Dolmetscher, dass man das Gefühl hat, man wird auf der einen Seite überschüttet, auf der anderen Seite entdeckt man gerade dadurch, was für eine tief gehende intime Beziehung man zu seiner Sprache hat."

    Jürgen Stähle beschäftigt sich nicht mit dem Übersetzen von Belletristik oder Lyrik; als Simultandolmetscher fächert er all die Schwierigkeiten auf, die dem einsamen Mann oder der einsamen Frau in der Dolmetscherkabine widerfahren können und versucht Wege aus dem täglichen Dilemma der fast simultanen sprachlichen Übertragung von einer Sprache in die andere zu weisen, und er möchte den interessierten Zuhörer aufklären. Denn immer wieder werden ihm Fragen gestellt, ob es nicht Hexenwerk sei, was dort passiert und ob der Dolmetscher überhaupt den Sinn eines Textes in so kurzer Zeit erfassen könne. Das sind Fragen, die den erfahrenen Übersetzer besonders erbosen, denn - so seine These - wer Wort für Wort von einer Sprache in die andere umcodiert und nicht vom Sinnzusammenhang ausgeht, wird niemals die Kunst des Übersetzens beherrschen.

    Zwischen den Zeilen erfährt der Leser, dass der Autor auch einen Kampf mit seiner eigenen Zunft ausficht. Vehement verteidigt Jürgen Stähle seine Position, dass die Voraussetzung für jedes Dolmetschen das Übersetzen ist; dass jeder gute Simultandolmetscher regelmäßig auch schriftlich übersetzen sollte.

    "Dass man nur beim Übersetzen, nur wenn die Zeit vorhanden ist am Schreibtisch für eine Recherche und für einen Vergleich von Alternativlösungen für eine optimale Übersetzung, kann man lernen, welche Prozesse beim Übersetzen ablaufen. Da ich glaube, dass Dolmetschen ein Schritt weiter auf diesem selben Weg ist, dass beide aus derselben Wurzel kommen, halte ich es nicht für verkehrt, ohne die Komponente des Zeitdrucks, die beim Dolmetschen entsteht, beim Übersetzen zunächst einmal lernt, was man tut. Ich sehe die ganz große Gefahr, dass jemand, der diese Etappe überspringt und der von einem Lehrer in eine Kabine gesetzt wird, den Kopfhörer aufbekommt und anfängt zu dolmetschen, dass der tatsächlich nur umcodiert, keine Textanalyse macht, keine Bedeutungsanalyse - diese Schritte sollte man zerlegt einzeln geübt haben, bevor man dann den Anspruch erheben kann, auch bei einer guten Verdolmetschung zu sagen, das hätte ich beim Übersetzen kaum besser oder kaum anders gemacht."

    Vergnügen an diesem Buch macht, dass der Autor nicht nur berufsspezifisch als Simultandolmetscher argumentiert, sondern sich immer wieder als Sprachkritiker einmischt, auf den liederlichen oder gedankenlosen Umgang mit Sprache puristisch hinweist. Ein Beispiel: Im Deutschen ist das Wort 'flair' als Entlehnung ganz selbstverständlich, bedeutet Atmosphäre, eine besondere Stimmung. Das französische Originalwort ist dagegen viel trivialer, 'flair' ist da der Geruchs- oder Spürsinn, nicht mehr und nicht weniger. Ein anderes Beispiel sind die wörtlichen Übertragungen, die meist schief zum intendierten Sinn liegen oder die Sprache vergewaltigen:

    "Was mich in dem Buch etwas mehr anspricht und worauf ich mehr abhebe, weil es den direkten Zusammenhang zum Übersetzen und Dolmetschen bringt, sind diese Interferenzen aus anderen Sprachen. Wenn zum Beispiel auf der Titelseite der FAZ steht, die französische Regierung habe der deutschen 'brutal' klar gemacht, dann hat da im Französischen zwar 'brutal' gestanden, aber der deutsche Übersetzer hätte besser gesagt 'unverblümt' oder so etwas Ähnliches. Oder die vielen Dinge aus dem Englischen, das wirkt viel intensiver und länger auch im Alltag auf uns ein, und wir wehren uns nicht dagegen. Das heißt, wir gehen mit Sprache unkritisch um, wir kreieren selber diese Interferenzen und machen aus denen neue Wendungen oder laufen denen blind hinterher. Es ist ja inzwischen ein viel zu abgedroschenes Beispiel, aber man sollte es trotzdem sagen, wenn immer wieder gesagt wird, 'etwas mache keinen Sinn', dann ist das nach wie vor im Deutschen falsch und es bleibt auch falsch. Und ich habe immer so ein bisschen die Angst - das ist auch einer der Gründe für mein Engagement für die Sprache - dass doch auch eine Verarmung des Denkens und des Fühlens über die Sprache zwangsläufig eintreten wird, wenn wir mit der Sprache nicht sorgfältig umgehen und wenn wir Wörter, die ohnehin schon so viel leisten müssen, weil wir nicht genug Wörter haben, wenn wir diese Wörter nicht mit der erforderlichen Schärfe benutzen."

    Jürgen Stähle gelingt der akrobatische Spagat, sowohl ein Buch für angehende Dolmetscher geschrieben zu haben, mit vielen praktischen Ratschlägen, wie aber auch ein nachdenkliches Buch über den Umgang mit Sprache geschrieben zu haben. Er setzt sich mit dem Vater der Linguistik Ferdinand de Saussure auseinander, er bemüht Wilhelm von Humboldt, ihn faszinieren die sprachtheoretischen Äußerungen von Umberto Eco ebenso, wie ihn die unverständigen Einlassungen von Ingeborg Bachmann in ihrer Novelle "Simultan" entsetzen ob ihrer Ferne zur Wirklichkeit des Simultanübersetzens. Ortega y Gasset fesselt ihn mit seiner Abhandlung über "Elend und Glanz der Übersetzung", wie er sich produktiv auch mit Harald Weinrich auseinandersetzt. Und dann, ganz jäh, erzählt Stähle plötzlich über die Fallstricke, wie man einen Vortrag über Molkereiprodukte übersetzen bzw. dolmetschen muss, wenn es um 'butter fat' und 'butter oil' geht. Ein ganzes Universum von Realien und sprachästhetischen Überlegungen erschließt sich in seinem temperamentvollen Buch rund ums Übersetzen und Dolmetschen, getränkt durch Jahrzehnte lange Erfahrung mit dem Rohstoff Sprache. Sprache, das spürt der Leser, ist für Stähle ein Kulturgut, das sorgfältig gepflegt werden muss. Auch wenn seine Abhandlung über das zweitälteste Gewerbe der Welt kein sensationsaufgeladenes Enthüllungsbuch über Glanz und Elend des Übersetzerlebens ist, über seine Patzer und gelungenen Streiche, der Leser darf sich auf Überraschungen gefasst machen. Mal ist der Autor ganz ernst, mal macht er sich über viel Blödheit lustig, mal überrascht er durch kecke Wendungen, denen keiner widersprechen kann:

    "Die Sprachen sind ja nur die Instrumente, auf denen man spielt. Die Sprache ist für mich, was für den Pianisten der Flügel ist, ihm den hinzustellen heißt ja nicht, dass er spielen kann."