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Sprachlosigkeit nach der Diem-Biografie

Der letzte Teil der vierbändigen Biographie über Carl Diem erschien im Dezember. Damit hat der Essener Historiker Frank Becker den Auftrag erfüllt, den ihm die Krupp-Stiftung, der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) und die Deutsche Sporthochschule Köln erteilt hatten. Zu klaren Aussagen über den Mann, der wie kein anderer die äußerst komplizierte Vergangenheit des deutschen Sports verkörpert, führt dies bei den Auftraggebern indes nicht.

Von Erik Eggers | 19.02.2012
    "Die sehr differenzierte Aufarbeitung des Lebens von Carl Diem erlaubt es Kommunen, Institutionen und Organisationen, sich selbst eine fundierte Meinung zum jeweiligen Umgang mit dem Namen von Carl Diem zu bilden", erklärte das Präsidium des DOSB vergangene Woche, daher werde man hierzu keine Empfehlung abgeben. Der Rektor der Deutschen Sporthochschule Köln, Professor Walter Tokarski, erklärte gegenüber dem Deutschlandfunk, keinerlei Stellungnahme mehr zum Thema Diem abgeben zu wollen.

    Doch nicht nur die Institutionen tun sich erkennbar schwer mit dem 1962 gestorbenen Funktionär, der als Begründer der deutschen Sportwissenschaft und als Erfinder des heutigen Systems des deutschen Sports angesehen wird. Unter den Sporthistorikern werden die Ergebnisse Beckers sehr unter unterschiedlich aufgenommen. Gleich zwei Rezensionen erschienen in der traditionsreichen Zeitschrift Stadion. Der Potsdamer Sporthistoriker Hans-Joachim Teichler lobt darin Becker trotz einzelner Kritikpunkte für "ein "glänzend geschriebenes Buch mit zahlreichen neuen Informationen". Die geschichtspolitische Debatte um Diem, prophezeit er, werde dennoch weitergehen, dank Becker auf nun jedoch "auf einem exzellenten Niveau".

    Bemerkenswert ist, dass Teichler in seiner Rezension Diem bescheinigt, "frei von antisemitischen Tendenzen" gewesen zu sein. Dabei hatte er vor gut einem Jahr noch anlässlich einer Tagung erklärt, bei Diem lasse sich der "diskrete Antisemitismus der wilhelminischen Oberschicht" feststellen. Sowohl Becker als auch der Berliner Historiker Ralf Schäfer hatten zuvor zahlreiche Briefe Diems aus dem Kaiserreich mit antisemitischen Äußerungen publiziert. Darin beschwerte sich Diem etwa über den großen jüdischen Einfluss in der Presse, an anderer Stelle schimpfte über die "Semitenbande".

    In der zweiten Stadion-Rezension wirft der Olympiahistoriker Karl Lennartz nun Becker vor, er zitiere mit Freude "angeblich antisemitische Äußerungen von Diem". Wer aber wisse, dass Diem von den Nazis als "weißer Jude" verfemt worden sei und Diem im Organisationskomitee für die Olympischen Spiele 1936 trotz hohen Risikos Juden beschäftigt habe, dem müsse klar sein, dass Diem kein Antisemit gewesen sei. Die Äußerungen Diems seien Becker willkommen gewesen, so Lennartz, obwohl diese "kaum mehr als eine saloppe Formulierung in einer bestimmten Situation war".

    Lennartz bezichtigt den Diem-Biographen Becker also der wissenschaftlichen Unredlichkeit. Das ist mutig. Schließlich provozieren die Erkenntnisse Beckers und Schäfers auch die Frage, warum das Carl- und Liselott-Diem-Archiv, das Lennartz zwischen 1989 und 2005 leitete, diese antisemitischen Passagen Diems bis zur Becker-Biographie nie zum Thema ihrer wissenschaftlichen Arbeiten gemacht haben. Weil es die Apotheose Diems in Frage gestellt hätte?