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Sprachrohr des Zeitgeists

Heinz Ludwig Arnold hatte offenbar großes Talent, eine entspannende Gesprächsumgebung zu bieten und die Redelust zu stimulieren. In seinem Buch kommen auf siebenhundert Seiten die wichtigsten Autoren zu Wort, darunter Heinrich Böll, Max Frisch und Martin Walser.

Von Wolfgang Schneider | 20.01.2013
    Dieses Buch ist eine Zeitreise in eine verschollene Epoche: die Siebziger Jahre. Aus heutiger Sicht ein zunehmend fremdes, wenn nicht befremdliches Jahrzehnt. Die Bundesrepublik hatte sich stabilisiert und nach den Jahren von Restauration, Wirtschaftswunder und Wiederaufbau sozialdemokratisch reformiert. Nie zuvor war es einer Mehrheit der deutschen Bevölkerung so gut gegangen.

    Die intellektuelle Szene aber war in tiefer Katerstimmung. Die Revolte von 1968 hatte dann doch nicht im Handumdrehen zur idealen sozialistischen Gesellschaft geführt, und die Protestgeneration witterte überall Verrat und den Rollback der reaktionären Kräfte, wenn nicht gleich den wiedererwachten Faschismus. Nicht zu vergessen: Damals stand der größere Teil Europas noch unter der Knute von rechten und linken Diktaturen, und der atomare Overkill war auch kein Grund zur Freude.

    In diesen seltsamen Jahren gab es einen Literaturwissenschaftler, der als Sekretär bei Ernst Jünger begonnen hatte und dann zu einem maßgeblichen Erkunder der deutschen Gegenwartsliteratur wurde: Heinz Ludwig Arnold, Herausgeber der Zeitschrift "text und kritik". Aber nicht die Kritik machte Arnold zu seiner höchsteigenen Form, sondern das Autorengespräch. Wer Rang und Namen hatte, landete irgendwann vor seinem Mikrofon und ließ sich von den Arnold-Fragen behutsam einkreisen.

    Was zeichnet ein gutes Gespräch aus? Hans Magnus Enzensberger wusste 1973 Antwort:

    "Das ist bei jeder Kommunikation, bei jedem Gespräch zum Beispiel so, dass am Schluss etwas steht, wovon die beiden, wenn es ein gutes Gespräch geworden ist, am Anfang noch nichts gewusst haben. Und natürlich ist dieses Moment des Unvorhersehbaren auch in der literarischen Arbeit sehr stark. Ein Mann wie Balzac, der glaubte, er wäre ein Royalist, und er glaubte dies und das von sich, aber in seiner Produktion ist effektiv etwas anderes entstanden. Und nur durch dieses andere, nur im Überschreiten dieser Normen und dieser festgemachten Positionen entsteht das, was an Balzac eigentlich das Interessante ist. "

    Gute Literatur und gute Gespräche haben also etwas gemeinsam: das Überschreiten "festgemachter Positionen". Das ist ein programmatisches Zitat für den vorliegenden Band, der die wichtigsten Autorengespräche Heinz Ludwig Arnolds auf siebenhundert Seiten versammelt. Die Siebziger waren ja das Jahrzehnt der festgemachten Positionen, und vor diesem Hintergrund erweisen sich die Gespräche immer wieder als erstaunliche Lockerungsübungen.

    Die literarische Szene hatte sich durchgreifend politisiert, es war Common Sense, dass Schriftsteller engagierte Literatur zu liefern und sich in die Front gegen den Kapitalismus einzureihen hatten. Wenn sich hier und da der Überdruss an solcher Dauerforderung des Tages geltend machte, und Schriftsteller keine vordergründig politischen Themen angingen, dann wurde diese Normalität bereits irritiert als "Neue Subjektivität" kategorisiert.

    Es ist also sehr viel von Politik die Rede in diesem Buch. Beim Gespräch mit Peter Weiss, den Arnold 1981 in Stockholm besucht, dauert es dreißig Seiten, bis überhaupt mal die Literatur zum Thema wird. Hier ist der radikal linke Zeitgeist am deutlichsten zu vernehmen. Weiss skizziert eine Poetik des Hasses:

    "Es gibt Dinge, die mich mit einem bodenlosen Hass erfüllen, und dieser Hass, der wird nie weggearbeitet, sondern der bleibt da, der ist ja auch ganz fruchtbar. Der Zorn ist ein guter Motor. Er setzt politische Handlungen in Gang. Ich glaube nicht, dass echter Zorn blind macht. Gleichgültigkeit, Ironie, Zynismus machen ein viel stärker blind. So übertüncht man. Es gibt genug Dinge in der heutigen Wirklichkeit, die unverzeihlich sind."

    Kaum erstaunlich, dass Weiss den Terrorismus im Prinzip sehr verständlich findet. Wenn das Gespräch dann aber zu seiner Lebensgeschichte wechselt und seine Arbeiten rekapituliert, wird es interessant: Leben und Werk fügen sich zu einem archetypischen Entwicklungsroman der Politisierung, wobei sich Erfahrungen der Emigration während der Nazizeit verbinden mit dem Aufbruch der Sechzigerjahre.

    Immer wieder wird die politische Verantwortung des Schriftstellers beschworen, immer wieder geht es um "aufklärerische Impulse". Heinz Ludwig Arnold ist da durchaus Sprachrohr des Zeitgeists, der sich in Formeln niederschlägt wie "Gewalt ist aber doch meist der Ausfluss einer gesellschaftlichen Situation" oder "Der Selbstmord ist ja auch Ausdruck eines Scheiterns an dieser Gesellschaft". Von Heinrich Böll will Arnold wissen, ob die Sowjetunion "für eine mögliche Sozialisierung in der Bundesrepublik ein Vorbild sein könne".

    Als entschiedener Kritiker der Amtskirchen erwidert Böll mit einer erstaunlichen Bemerkung über die Parallelen zwischen Kirche und Kommunismus:

    "Es ist sogar so, dass ich in dem bürokratischen Modell des sowjetischen Kommunismus und des dort dogmatisierten Sozialismus den Klerikalismus wiedererkenne; ich erkenne das Prinzip des hoch dotierten Prälaten in der sowjetischen Bürokratie, im hoch dotierten Funktionär."

    Auffallend sind die Ausweichbewegungen vieler Autoren, die sich dann doch nicht auf die Floskeln des antikapitalistischen Moralismus festlegen lassen möchten. Böll bringt immer wieder den christlichen Glauben ins Spiel und die Frage Arnolds, ob man den Roman "Ansichten eines Clowns" politisch oder moralisch werten solle, kommentiert er mit einem lakonischen "Nicht auch literarisch?". Aber auch bei Böll ist der Sound der Siebziger zu vernehmen, wenn er etwa die Mechanisierung und Computerisierung der Welt als "Erscheinungsform des Faschismus" versteht.
    Böll, der Verletzliche - zur Autorschaft gehöre es, "fürchterliche Knüppelschläge" hinzunehmen, sagt er. Fast wie eine Szene von Kafka wirkt es, wenn er beschreibt, wie die Kritik den Autor gerade im Moment der größten Wehrlosigkeit trifft.

    "Wenn ein Buch geschrieben ist, ist der Autor vollkommen erschöpft, total erschöpft. Sie müssen sich vorstellen, dass das ein irrsinniger Prozess ist, einen komplizierten Roman zu schreiben, den man sechs- bis siebenmal selbstkritisch durchgegangen ist, der korrigiert wird und nochmals korrigiert wird, der zusammengestrichen wird usw. Und in diesem Augenblick, wo er total erschöpft ist und das Buch für ihn eigentlich sehr uninteressant geworden ist, weil es weg ist, kommt die Kritik."

    Max Frisch erweist sich auch im Gespräch als Erzähler, der Jahrzehnte erlebter Zeitgeschichte rekapituliert. Ausführlich berichtet er von seinen Begegnungen mit Brecht – und macht deutlich, dass er selbst das brechtsche Prinzip der epischen Verfremdung am raffiniertesten im Roman "Mein Name sein Gantenbein" für sich fruchtbar gemacht hat. Als wär's ein Stück aus dem Tagebuch, beschreibt er die Situation in der Schweiz zurzeit von Nationalsozialismus und Weltkrieg: Man war bis auf Weiteres verschont, wollte es auch bleiben und verhielt sich deshalb halbherzig und reserviert gegenüber den Emigranten:

    "Das Land hatte damals viereinhalb Millionen Einwohner gehabt, konnte also nicht ohne Weiteres eine halbe oder eine Million Menschen aufnehmen – vor allem auch, weil man darauf nicht vorbereitet gewesen ist. Das deutsche Bürgertum, auch die deutsche Arbeiterschaft waren auf Hitler auch nicht vorbereitet; das gesamte deutsche Judentum – obgleich 'Mein Kampf' vorlag – ist auf Hitler nicht vorbereitet gewesen. Wieso hätten die Behörden oder das Volk hier vorbereitet gewesen sein wollen? Es war tatsächlich lange Zeit so, dass, wenn eine Schreckensnachricht kam, man dachte: Das ist aber nun das Maximum und das Äußerste, was passieren kann. Einen Monat später kam die nächste Stufe, vom Entzug der Pässe bei den Juden bis zur Gaskammer, Schritt für Schritt. Und es ist ein ungeheures Phänomen, dass man den Schrecken nicht weiterdenkt, sondern von dem momentanen Schrecken so eingedeckt ist, dass man hofft, es bleibe bei dem oder es gehe zurück, aber nicht, dass es weitergeht."

    Diese Texte verweigern das übliche, spritzige, aufs Tempo drückende Interviewformat. Es sind lange, ausufernde, immer neu ansetzende, kein Zeitlimit kennende Gespräche. Arnold ist mehr als ein Fragesteller und Stichwortgeber; er ist der Juniorpartner eines Dialogs. Gelegentlich kommt er den Autoren auch kritisch. "Biedermann und die Brandstifter" hält für ein schwaches Stück, was Frisch spürbar irritiert. Er kritisiert auch die "oberlehrerhaften Gesten" im Moralismus von Günter Grass – aber das bringt den natürlich kein bisschen aus der Ruhe. Grass kann mit seiner immer so pragmatisch-vernünftig daherkommenden Eloquenz jeden Einwand an die Wand reden.

    Ein brisanter Moment ist es, wenn sich Grass kritisch äußert über die antifaschistische Figurendarstellung in Alfred Andersch' Roman "Sansibar oder der letzte Grund". Man horcht auf – im nachträglichen Wissen um die jugendliche Mitgliedschaft von Grass in der Waffen-SS:

    "In diesem Buch wird der personelle Bereich, der klischeehaft antifaschistisch benannt werden könnte, genau besehen und geschildert, während der andere Bereich, der faschistische, genauer gesagt nationalistische, einfach als 'die anderen' bezeichnet wird. Eine Unterscheidung, die ich als inhuman empfinde. Ich gehe davon aus, dass ein Schriftsteller von Buch zu Buch die Summe seiner Figuren ist, inklusive der SS-Männer, die darin vorkommen; und er muss diese Figuren, ob er will oder nicht, auf literarische, kühle, distanzierte Art lieben können, er muss in sie hineinkönnen, er kann sich nicht von ihnen distanzieren und sie einfach angewidert 'die anderen' nennen."

    Anfangs fragt Arnold zumeist nach den Herkunftswelten der Autoren und ihren Schreibanfängen. Da macht sich ein erstaunlich ungebrochener Biografismus geltend. Nichts von der damals noch frischen Versessenheit auf Diskurse und Strukturen, fern bleibe die Idee vom "Tod des Autors". Wer das Gespräch mit den Autoren zu seinem Genre macht, kann dergleichen einfach nicht gebrauchen.

    Und es ist ja durchaus ergiebig, auch in Hinblick auf die Werke, wenn Friedrich Dürrenmatt hier von seiner Kindheit auf dem Dorf erzählt. Es kam ihm nicht klein und überschaubar vor, sondern labyrinthisch mit unzähligen Kriechgängen durch die angrenzenden Kornfelder. Nicht idyllisch sondern viel öfter grausam – die Metzgerei mit ihrem Blutgeruch lag gleich nebenan.

    Dürrenmatt bricht den linken politischen Konsens ein wenig auf: Sein Weltbild ist nicht auf Utopie getrimmt. Der Mensch sei ein korruptes Wesen, und eine Politik, die mit dem Menschen als nicht korruptem Wesen rechne, werde unweigerlich scheitern. An solchen Stellen attestiert Arnold Dürrenmatt "eine große Resignation", worauf der ihm aber entschieden widerspricht:

    "Nein! Das ist doch keine Resignation, das ist eine Art Realismus! Sehen Sie in mir etwa einen resignierten Menschen? Um Gottes willen, bei diesem Wein, den ich ihnen jetzt vorsetze?"

    Dürrenmatt sieht den Eigensinn als Kapital des Autors – gegen den Strom schwimmen, Abstand halten zum tagespolitischen Betrieb. Da vermisst Arnold den konstruktiven Bezug zur Welt, worauf Dürrenmatt noch eins draufsetzt und die schriftstellerische Arbeit mit einem kriegerischen Bild illustriert:

    "Das ist doch völlig egal, da brauchen sie sich nicht drum zu kümmern. Die Beziehungen zu ihrer Welt schaffen die Leser. Man kann nichts anderes tun, als in diese Welt die eigenen Gedanken hineinschießen wie Kanonenkugeln, wie Raketen."

    Faszinierende Tiefenbohrungen sind die jeweils fast hundertseitigen Gespräche mit Max Frisch, Hans Magnus Enzensberger und Martin Walser – die letzten beiden sind hier zum ersten Mal zu lesen. Walser zeigt sich in Topform, geistreich und witzig pariert er die Fragen und holt erzählerisch aus, gibt Schilderungen seiner Kindheit als Sohn eines früh verstorbenen Gastwirts und Kohlenhändlers. Oft konnte er nicht am Schulunterricht teilnehmen, weil er waggonweise Kohle ausladen und zu den Wasserburgern austragen musste. Sein Eintritt ins öffentlichkeitswirksame Publizieren geschah als Lokalreporter für den Rundfunk: Interviews mit den Erfindern von Kinderwagenbremsen, Brückeneinweihungen und immer wieder Bürgermeisterinterviews. Auch Walsers Darstellung des frühbundesrepublikanischen Literaturbetriebs ist erhellend. Bis Arnold auch hier auf die Politik kommt und das Gespräch sich bei den Unzulänglichkeiten der SPD und den ungelösten Fragen der Studentenrevolte festfährt.

    Mit Walser bespricht Arnold aber auch handwerkliche Fragen. Man erfährt, warum der Autor um 1970 seine Liebe zu sehr langen Sätzen aufgab und in der Prosa fortan öfter mal einen Punkt machte. Die Metapher vom "epischen Atem" ist hier wörtlich zu nehmen. Man muss sich Walser als eine Art Apnoetaucher am Schreibtisch vorstellen:

    "Ich hatte diese Angewohnheit, bei den Sätzen nie zu atmen, bis ich den Satz fertig hatte, und ich konnte immer erst wieder ausatmen, wenn ich geschrieben hatte – ich schreibe mit der Hand und schreibe dann möglichst schnell, weil ich den Satz schon sehe und versuche, ihn zu bringen, und da muss man den Atem einfach anhalten, bis man fertig ist –, und das habe ich dann irgendwie nicht mehr richtig geschafft, hatte dann diesen Kreislaufkollaps und war dann wieder für zwölf Wochen weg. Seitdem wage ich nicht mehr, einen Satz überhaupt so zu beginnen, wie ich früher geschrieben habe. Ich arbeite jetzt am Schreibtisch ganz anders, weil ich Angst habe."

    Walser schüttelt interessante Definitionen aus dem Handgelenk. Im Drama, sagt er, müsse die Strategie der Fabel so geführt werden, dass sie "zeigegünstig" sei. Während der Roman, verglichen mit einem Stück, "fast blind wirken" dürfe. Deshalb ist Walser bis heute in den Theaterstücken nie ganz überzeugend gewesen, seine Sache ist das maulwurfhafte Voranwühlen in Romanen, die keine schulmäßig vorkonstruierten Plots haben. Die "Blindheit" ist eine Kategorie, auf die auch Max Frisch zu sprechen kommt. "Ich brauche einen gewissen Blindflug, wenn ich arbeite, sonst erfülle ich ein Programm", sagt er.

    Selbst der schlaue Bewusstseinsmensch Hans Magnus Enzensberger bucht das literarische Blindflugticket und stellt die Fragwürdigkeit von "Programmen" heraus. Ganz nebenbei erledigt er damit eine fixe Idee des Deutschunterrichts:

    "Nun ist es so beim Schreiben, dass die Absichten, die einer damit verbindet, das Gleichgültigste von der Welt sind. Ich pfeife darauf, was der Dichter für eine Absicht hatte, es kommt darauf an, was er gemacht hat. Und wenn er hinterher kommt und sagt: 'Ich wollte es aber so und so', dann kann ich nur sagen: 'Geh nach Hause. Was du wolltest ist deine vollkommen private Sache, für die sich niemand auf der Welt interessiert.' Diese ganzen Bekenntnisse von Schriftstellern sind einen Dreck wert, diese ganzen Absichtserklärungen von Schriftstellern sind überhaupt überflüssig."

    Das ist ein charmanter Stich gegen Arnold, der natürlich ständig auf die Absichten der Autoren zielt – anders lassen sich solche Gespräche kaum führen. Auch Arnolds autobiografische Neugier geht bei Enzensberger ins Leere. Der macht eine Ausweichbewegung nach der anderen, was anfangs große intellektuelle Versatilität und Schlagfertigkeit demonstriert, auf Dauer, aber wie eine Masche wirkt: Mich kriegt ihr nicht. Lieber unternimmt er mediengeschichtliche Ausführungen oder erzählt, wie er sich in den Fünfzigerjahren an verrufenen Theorien delektiert hat: Weil der Marxismus tabu gewesen sei, habe man marxistische Texte besonders gern gelesen. Im Gespräch klingt Enzensberger manchmal allerdings mehr nach Nietzsche als nach Marx, wenn er zum Beispiel geschliffene Aphorismen wie diesen formuliert:

    "Laster lässt man nicht. Es ist ein Zeichen von Impotenz, wenn jemand von einem Laster freiwillig ablässt."

    Zu Arnolds notorischer Frage nach den "gesellschaftlichen Utopien" meint er, in dieser Beziehung seien die Schriftsteller nicht lieferfähig. Und die Wirkung engagierter Literatur hält er für begrenzt und zudem kaum bestimmbar:

    "Wissen Sie, ich habe einmal behauptet, die gesellschaftliche Funktion der Literatur ließe sich nicht mehr zweifelsfrei angeben. Das habe ich behauptet, in diesem berüchtigten Text, über den es immer heißt, ich hätte die Literatur totgeschlagen oder so etwas, da steht das drin, und dieser Überzeugung bin ich auch heute noch: Das lässt sich nicht angeben. Alle Versuche, es trotzdem zu tun, scheitern immer, weil sich die Literatur an diese vorgegebene Funktion, die man ihr zuschreibt, dann nicht hält. Also, die gesellschaftliche Wirkung, das, was da passiert, wenn Literatur gemacht wird, das ist unbekannt."

    In das Enzensberger-Gespräch bricht die Politik ein. Es wurde an zwei Tagen geführt, am 11. und 12. September 1973; in der Nacht dazwischen putschte in Chile Pinochets Militär. Sofort gab es Protestadressen vieler hiesiger Intellektueller. Enzensberger provoziert, indem er Politik und Moral auseinanderdividiert und sich in fröhlichen Zynismus übt:

    "Es genügt einfach nicht, und es ist eigentlich irrelevant, sich jetzt über die Generäle zu empören. Diese Generäle haben einfach das gemacht, wozu sie da sind, und sie haben es offenbar richtig gemacht, das heißt, sie veranstalten Blutbäder und bombardieren die Fabriken. Dazu sind Generäle da. Punkt. Das muss konstatiert werden. Die Empörung meint, Generäle verhielten sich falsch, indem sie das tun. Die politische Tatsache ist aber, dass sie sich richtig verhalten."

    Natürlich äußern sich die Autoren auch übereinander, teilen verdeckte Seitenhiebe aus. Vor allem erfolgreiche Grass war damals eine unausweichliche Figur, ein übergroßer Kollege und Positionsbesitzer, vielfach beneidet und angefeindet. "Wenn er mir die Schönheiten der sozialdemokratischen Partei preist, hätte ich da einige Einwände", meint Enzensberger einmal süffisant.

    "Enzensberger schwebt, Grass wurzelt" - so definiert Walser die Antipoden der politischen Literatur um 1970. Und spricht die vielleicht schönsten Sätze, die je über Enzensberger geäußert wurden:

    "Er war im Grunde genommen ein frecher Hund, so eine Erzengelfigur, so eine ganz junge, rotzfreche Davidsfigur. Der Enzensberger hat viel länger als jeder von uns unverbindlich am Strand des politischen Ozeans einfach im Sand gespielt und hübsche Burgen gebaut, um den Ozean zu erschrecken."

    Das Buch enthält darüber hinaus – meist kürzere – Gespräche mit Rühmkorf, Hochhuth, Hildesheimer, Heißenbüttel, Wallraff und Handke. Heinz Ludwig Arnold hatte offenbar großes Talent, eine entspannende Gesprächsumgebung zu bieten und die Redelust zu stimulieren. In diesem Buch hat man das Panorama einer literarischen Epoche, eine Galerie der wichtigen Autoren der Siebzigerjahre, und gerade im Nebeneinander werden die intellektuellen Physiognomien deutlicher. Arnolds Gespräche sind ein bedeutendes Dokument der deutschen Literaturgeschichte – und zugleich eine fesselnde Lektüre.


    Heinz Ludwig Arnold: Gespräche mit Autoren. S. Fischer, Frankfurt a. Main 2012, 726 Seiten, 24,99 Euro.