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Sprachverliebte Exerzitien

Die Bitte um eine Gehaltserhöhung vorzutragen, ist eine heikle Angelegenheit. Der französische Dichter Georges Perec hat sich akribisch der unendlichen Fülle an Möglichkeiten gewidmet und einen heiter-experimentellen Text geschrieben, in dem sich alles Geschehen aus Sprachkombinationen heraus entwickelt.

Von Hans-Jürgen Heinrichs | 11.02.2010
    "Georges Perec ist auf jeden Fall für die französische Literatur des späten 20. Jahrhunderts die große Referenz, und seine Bedeutung steigt eigentlich stündlich. Seine Texte sind längst in Schulbüchern und Prüfungsthema bei Staatsprüfungen für Lehrer in Frankreich, und seine Texte sind nach wie vor Referenz für jüngere Autoren und für nicht ganz so junge Autoren."

    Jürgen Ritte hat in Frankreich und Deutschland viel dafür getan, dass Georges Perec und die experimentellen Dichter der Gruppe "Oulipo”, die sogenannten Oulipoten, einem größeren Publikum bekannt geworden sind.

    Ein größeres Publikum erhofft sich - nach dem Erfolg in Frankreich - auch der deutsche Verlag für das neue Buch, ein bisher nur absoluten Insidern bekannter Text "Über die Kunst seinen Chef anzusprechen und ihn um eine Gehaltserhöhung zu bitten”. Wenn man sich in das Abenteuer der Lektüre dieser sprachverliebten Exerzitien begibt, sollte man sich eines vergegenwärtigen: Bevor wir uns in einer Sache entscheiden, hat die Wirklichkeit immer schon eine Art Vorauswahl getroffen.

    Nehmen wir etwa die Situation, dass Sie sich dazu entschieden haben, Ihren Abteilungsleiter aufzusuchen, um ihn um eine Gehaltserhöhung zu bitten. Er ist im Büro, aber Sie fühlen sich plötzlich gehemmt, oder er ist nicht im Büro und Sie warten oder gehen, niedergeschlagen, wieder weg, drehen eine Runde nach der anderen oder, oder ... In Georges Perecs auf wundersame Weise verschlungenen und dabei doch formal, mathematisch genau die Varianten durchspielenden Roman heißt der Abteilungsleiter Monsieur Xavier, vereinfacht Monsieur X. Also: Nehmen wir an, er ist nicht im Büro und Sie entscheiden sich, Ihre Kollegin Mademoiselle Yolande aufzusuchen und, falls sie auch nicht in ihrem Büro ist, noch eine Runde durch die verschiedenen Abteilungen zu drehen. Alles ist auf Entweder Oder eingestellt. Hypothetisch spielt der 1936 in Paris geborene und bereits 1982 gestorbene Schriftsteller und Filmemacher die Möglichkeiten durch.

    "Es ist eine Literatur aus Regeln, Produktionsregeln, die nicht unbedingt sichtbar zur Schau getragen werden müssen. Man kann die Texte lesen, ohne davon die geringste Ahnung zu haben, und sich damit vergnügen. Das ist der entscheidende Punkt."

    Literatur heißt für Georges Perec - in der Folge von Raymond Queneau -, Formen der Kombinatorik bis zur Paradoxie zu folgen. Genauer, aber nicht weniger geheimnisvoll gesagt: Er wählt das Organigramm als Formzwang, dem er aber mit großer Leichtigkeit folgt. Man kann sich das wie bei einem Flipper vorstellen: Die durch keine Satzzeichen unterbrochenen Textvarianten gleichen einer Kugel, die durch die vorgegebenen Spielfelder läuft.

    "Nehmen wir an ihr Abteilungsleiter der zugleich ihr Dienstvorgesetzter ist habe eine Gräte verschluckt begehen sie in diesem Fall nicht den gleichsam verhängnisvollen Fehler um 14 Uhr 30 im Büro ihres Abteilungsleiters vorstellig zu werden, sondern warten sie den nächsten Tag ab, was übrigens nicht sonderlich praktisch ist, da der nächste Tag nach dem Freitag ein Samstag ist und sie am Samstag nicht arbeiten, aber das ist ein heikles Problem ...”

    Selbstverständlich greift Perec das Problem immer wieder auf und verknüpft es mit weiteren Eventualitäten, zum Beispiel, dass drei Töchter des Chefs Masern haben könnten und sich so aus dem einfachen Wunsch nach einer Gehaltserhöhung unübersehbare Verwicklungen ergeben würden. Aber da muss der vom Scheitern bedrohte Held hindurch, zum Beispiel, indem er den Chef von seiner unternehmenstragenden Rolle überzeugt - und sei es nur als eine Wahlmöglichkeit. Denn letztlich geht es doch um das Ausreizen der Eventualitäten, am kürzesten ausgedrückt in der Formulierung "nehmen wir an, dass ...”.

    Nehmen wir an, Sie treffen auf ihren Abteilungsleiter, schütten ihm aber unachtsamerweise den Muschelsalat und die Eisbombe surprise auf seinen frisch gereinigten Anzug. In diesem Fall lassen Sie selbstverständlich zwei Wochen bis zu einem erneuten Versuch verstreichen. Aber sprechen Sie ihn dann besser nicht an, wenn die roten Flecken in seinem Gesicht etwas mit den Masern seiner Töchter zu tun haben könnten.

    "Erklären sie, dass sie 691 Franc im Monat verdienen und dass sie - ähh - gerne ähh vielleicht nicht 6910 auch nicht 6190 auch nicht 1960 auch nicht 1690 sondern, ähh 961 oder 900 na ja also 850, ähh 800 gut 791. Reden wir nicht mehr davon, sagen wir ähh 700 verdienen würden. Gut, sagt ihr Abteilungsleiter begehen sie nicht den naiven Fehler zu glauben, dass ihr Abteilungsleiter mit Ja oder Nein antworten wird. Seien sie sicher, dass sie die Gehaltserhöhung, die sie wünschen, nicht erhalten werden ...”

    Das absurde Theater nähert sich seinem Ende. Die Chancen auf eine Gehaltserhöhung haben sich kaum vergrößert. Und wenn sich der Abteilungsleiter auf die Bitte einlässt, wird er sie nur weiterleiten und vielleicht werden Sie eines Tages von höherer Stelle erfahren, dass zur Zeit gerade eine "globale Neubewertung des gesamten Lohn- und Gehaltsaufkommens” geprüft werde.

    Und schon beginnt ein neues Entweder-Oder: Sie harren sechs Monate aus, werden wieder vorstellig oder bieten zum Beispiel einem anderen Unternehmen ihre Dienste an.

    Die vorliegende Buchfassung hat einige Vorstufen als Prosatext, Theaterstück und Hörspiel (das auch auf Deutsch unter dem Titel "Wucherungen” gesendet wurde) durchlaufen. Die Frage des Titels spielt eine zentrale Rolle. Die Gehaltserhöhung hat eine konkrete Bedeutung im Rahmen einer betrieblichen Organisation und, weit darüber hinaus, eine metaphorische (die Erhöhung als Formzwang umspielende) Bedeutung. Die Entscheidungsstruktur in Organisationen verwandelt Perec in Literatur.

    "Das ist im Grunde eine oulipotische Fingerübung. Also: Oulipo (Ouvroir de littérature potentielle, Werkstatt für potenzielle Literatur), deren prominentestes Mitglied Georges Perec war. Das ist eine Übung im Stile dieser Werkstatt, wo man nach formalen Prinzipien sucht, die man auf Literatur anwenden kann.

    Dann probiert man sie mal durch, ohne gleich mit dem Anspruch aufzutreten, jetzt habe ich große Literatur geschaffen. So müsste man auch diesen Text einschätzen. Aber er ist sehr intelligent, denn er wendet ein Prinzip der Organisation gegen sich selbst. Natürlich bricht dieses ganze System am Ende zusammen und aus der Gehaltserhöhung wird natürlich mal wieder nichts."

    Die Frage bleibt, wie lange macht dem Leser diese Art des formal organisierten Textes, trotz aller Intelligenz, Spaß. Taugen der Formzwang und die vom formalen Raster dominierten Assoziationsketten auch für längere Textformen? Jürgen Ritte, der soeben in der von Denis Scheck betreuten Reihe "Arche Paradies” ein oulipotisches Kochbuch unter dem Titel "Bis auf die Knochen” herausgegeben hat, sieht in Perec eine herausragende Figur bei dem Versuch, formale Erneuerungen mit der Erzählkunst zu verknüpfen; er habe etwas geschafft, was dem nouveau roman so nicht gelungen sei. Ganz neue Aspekte kann der nun vorliegende Band allerdings dem Gesamtwerk Perecs nicht hinzufügen. Er gewährt jedoch einen heiteren Blick in seine Werkstatt und die der Gruppe Oulipo.

    "In dieser Werkstatt sollen Rezepte ausgedacht werden oder wiederbelebt werden. Es ist immer nach formalen Regeln geschrieben worden, aus denen Literatur entstehen kann. Potenzielle Literatur, das ist eigentlich alles. Also ein sehr bescheidener Anspruch, der meines Erachtens wesentlich dazu beigetragen hat, dass diese Gruppe heute am Vorabend ihres 50. Geburtstags steht."

    Es ist zu hoffen, dass dieses Buch möglichst viele Hörer und Leser dazu anregt, Perec auch als Verfasser eines großen autobiografischen Romans "W oder Die Kindheitserinnerung” und als Autor der Texte zu entdecken oder wieder zu entdecken, in denen er mit dem Vokal "e” auf besessen-spielerische Weise umgeht, indem er einmal ganz auf ihn verzichtet und ein ander Mal ihn als einzigen aller Vokale verwendet.

    Georges Perec - dieser wahrhafte "homme de lettres”, der mit jedem seiner Bücher versucht, die Literatur neu zu erfinden - hat mit dem vorliegenden Band die möglichen Verläufe einer vorgegebenen Ausgangssituation bis zur scheinbaren Erschöpfung aneinandergereiht und parodistisch ausgereizt. Fast unmerklich fügt er dabei Variationen in identisch erscheinende Formulierungen ein. Die mögliche Unlesbarkeit des Textes nimmt er in Kauf, ja, er wünscht sie sich zuweilen sogar.

    Verlangt es den Leser nach einer Stärkung zwischendurch, kann er sich von Perecs Kochrezepten - nachzulesen in dem Band "Bis auf die Knochen” (einem von Witz, Komik und Ironie nur so sprühenden Kochbuch bei Arche) - inspirieren lassen.

    Georges Perec: Über die Kunst seinen Chef anzusprechen und ihn um eine Gehaltserhöhung zu bitten. Aus dem Französischen von Tobias Scheffel. Klett-Cotta Verlag Stuttgart, 110 S., Euro 14,90