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Spuren des amerikanischen Lebens

Stewart O'Nans Roman "Alle, alle lieben dich" spielt in den Scheinidylle der amerikanischen Kleinstädte, wo es sich in mehr oder minder gepflegten Einfamilienhäusern die Mittelschicht gemütlich macht. Doch von einer Sekunde auf die andere ist für eine dieser Familien nichts mehr wie zuvor: Die Tochter Kim ist spurlos vorschwunden - ohne erkennbares Motiv.

Von Klaus Modick | 03.06.2009
    "Everyday People", zu Deutsch "Ganz alltägliche Leute", heißt einer seiner Romane, und dieser Titel könnte als Untertitel unter fast allen Romanen stehen, die der Amerikaner Stewart O'Nan bislang veröffentlicht hat. Seine Geschichten spielen weder im intellektuellen Milieu noch in der fiebrigen Urbanität amerikanischer Metropolen, sondern zumeist in tiefer Provinz, in den Scheinidyllen der Vor- und Kleinstädte, wo es sich in mehr oder minder gepflegten Einfamilienhäusern mit Doppelgarage die amerikanische Mittelschicht gemütlich macht, wo High-School-Alltag und Abschlussbälle, Fernsehen und Kino, Sportfeste und Grillabende den Lebensrhythmus bestimmen, wo zwischen Fastfood, Liebeskummer und familiärer Gleichgültigkeit die Neurosen wuchern und Langeweile zum existentiellen Problem wird.

    Es sind Orte wie Kingsville, eine verschlafene Kleinstadt am Erie-See, in der O'Nans neuer Roman "Alle, alle lieben dich spielt"; und die Helden dieser Geschichten sind die ganz alltäglichen Bewohner des uramerikanischen Provinzalltags - alltäglich wie jene Familie, die im Mittelpunkt des Romans steht.

    Der Vater ist Immobilienmakler, die Mutter Krankenschwester; Tochter Kim hat soeben die High School abgeschlossen und wird nach den Ferien aufs College gehen, die jüngere Tochter Lindsay macht gerade ihren Führerschein, und der unvermeidliche Familienhund fehlt natürlich auch nicht. Die heile Welt zerbricht schlagartig, als Kim spurlos verschwindet, ohne eine Nachricht zu hinterlassen, ohne erkennbares Motiv. Nun beginnt eine hektische Suche. Familie, Freunde, Freiwillige und die Polizei kämmen die nähere und weitere Umgebung nach der Vermissten ab, freilich ohne Erfolg. Zugleich gerät die Familie in den Sog einer fast wahnhaften Vermisstenindustrie, indem sie Fernsehen, Zeitungen und Websites kontaktiert, Poster und Anstecknadeln verteilt - ein Betrieb, der bis zur Nationalen Datenbank und zum Nationalen Vermisstentag reicht.

    Die Geister, die hier gerufen werden, wird die Familie nicht mehr los. Schließlich halten sie Schilder in laufende Fernsehkameras, auf denen sie darum bitten, ihre Privatsphäre zu respektieren. Das private Leiden mutiert zum öffentlichen Spektakel, und auf dieser Ebene ist der Roman unter der Hand auch eine kritische Auseinandersetzung mit der Mediengeilheit einer Gesellschaft:

    "Ein Dutzend Techniker verlegten am Rinnstein entlang ihre Kabel und befestigten sie mit Klebeband auf dem Gehsteig. Es war, als würden sie einen Kinofilm drehen. Um neun Uhr war ein Wall aus Scheinwerfern und Stativen wie die Gewehre eines Exekutionskommandos auf die Veranda gerichtet. Vor dem Haus hatte sich eine Menschenmenge versammelt, ein paar Nachbarn und Leute, die er noch nie gesehen hatte, viele von ihnen Kinder, obwohl es ein Schultag war."

    Zwischen Panik und Angst nistet sich sukzessive und fast unmerklich wieder der Alltag ein, und es sind die Phänomene dieser sogenannten Normalität, deren O'Nans schriftstellerische Energie gilt. So wie den nach Kim Suchenden keine weggeworfene Plastikflasche entgeht, wie sie jeden Stein einmal und jede Zigarettenkippe zweimal umdrehen, um der Vermissten auf die Spur zu kommen, so verfolgt O'Nan die Spuren des amerikanischen Alltags in den Nuancen und Details, besonders in den dinglichen Details der Lebenswelt. Wenn beispielsweise Lindsay das Zimmer ihrer verschwundenen Schwester betritt, liest sich das so:

    "Hier konnte sie Kim spüren und riechen. Jedes Möbelstück, jeder Gegenstand, die Farbe, der Teppichboden, sogar die Staubkörner, die im Sonnenlicht schwebten, verbanden sie miteinander. Neben Kims Nachttisch lag Barry Bear auf einem Haufen Stofftiere und starrte sie mit bernsteingelben Augen an. Auf Kims Schreibtisch standen der Drahtbecher voll Buntstifte, ein Fläschchen mit schwarzem Sand aus Hawaii und der tanzende Hip-Hop-Hamster von ihrer Großmutter, den Kim immer angestellt ließ, um Linday zu ärgern. Auf ihrer Kommode befand sich der wahre Schatz: ihr Schmuckkasten, kastanienbrauner Samt mit einem Dutzend kleiner Schubladengriffe, die wie Luftgewehrkugeln aussahen, daneben eine Reihe verzierter Porzellangefäße, importierte Bonbondosen und Bastkörbchen mit Deckel und auf der anderen Seite, nach Größe sortiert, ein Dutzend Parfüms, die Kim nicht mit ihr teilen wollte, Lindsay aber insgeheim ausprobiert hatte. Die Bücher in Kims Regal waren alphabetisch geordnet, ordentliche Reihen von Paperbacks, unterbrochen von einem Block Harry-Potter-Bände, auf dem unteren Brett Gesamtausgaben von Tolkien und C.S. Lewis und Leitfäden für den Eignungstest, so dick wie Telefonbücher."

    Die präzise Beschreibung des Zimmers und der darin enthaltenen Dinge, die "sogar die Staubkörner, die im Sonnenlicht schwebten" registriert, zeigt exemplarisch O'Nans Methode, Psychologien nicht aus inneren Monologen oder der Beschreibung von Gemütsregungen zu entfalten. Vielmehr ordnet er materielle Dingwelten bestimmten Personen zu, und aus diesen Arrangements ergeben sich dann subtile Charakterbilder.

    Indem uns Kims Zimmer gezeigt wird, zeigt sich uns eine ganze Person. O'Nans Scharfblick für Äußerlichkeiten dringt jedenfalls tiefer als so manche tiefenpsychologische Spekulation. Ein Gelegenheitsdrogendealer wird verdächtigt, Kim möglicherweise entführt zu haben. Dieser Mann wird nie direkt beschrieben und ist während der ganzen Geschichte abwesend, und dennoch bekommt der Leser dank O'Nans Arrangement ein unheimlich klares Bild von ihm, als die Polizei sein Haus durchsucht:

    "Aus dem Haus nahmen sie Bettlaken, Kissenbezüge und Kleidungsstücke von Frauen mit, Proben von einem Teppich, der vor kurzem gewaschen worden war, eine Werkzeugkiste und verschiedene Werkzeuge, eine Computerfestplatte, zwei Digitalkameras und Speicherkarten, eine Videokamera mit Stativ und mehreren Bändern, einen DVD-Spieler und dazugehörige DVDs, zwei Gewehre, eine Schrotflinte, zwei Handfeuerwaffen und ungefähr tausend Schuss Munition, mehrere Jagdmesser, ein Samuraischwert und einen zeremoniellen Dolch, Pornomagazine, entsprechende Videos und DVDs, funktionsfähige Handschellen, Dildos und anderes Sexspielzeug, einen großen Vorrat an Feuerwerkskörpern, Bunsenbrenner, Pergaminumschläge, eine Dreibalkenwaage und ungefähr dreitausend Dollar in bar."

    Der Klappentext preist das Buch als Thriller an, doch dürften Freunde des Genres, die sich rasante Handlungsabläufe und Gänsehauteffekte erhoffen, herb enttäuscht werden. "Alle, alle lieben dich" ist ein leises, fast introvertiertes, atmosphärisch dichtes, gelegentlich auch etwas langatmiges Buch, in dem subtile Psychogramme einer Familie und derer Freunde und Nachbarn entworfen werden. Zusammengesetzt ergeben diese Psychogramme ein tiefenscharfes Panorama des amerikanischen Alltags. "Alle, alle lieben dich" ist nicht O'Nans bestes Werk, weil es in gewisser Weise auf sich selbst hereinfällt - die Beschreibung des Quälenden gerät manchmal zu einem leicht quälenden Detailfanatismus. Doch O'Nans Überzeugungskraft rührt daher, dass dieser Autor nicht überzeugen will, dem Leser keine Urteile implantiert, sondern seine Geschichte mit ruhiger Selbstverständlichkeit ausbreitet.

    "Das Schrecklichste auf der Welt ist, wie leicht es uns fällt zu vergessen."