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Weltgeschichte
Vergangenheit neu erzählt

Australien wurde 10.000 Jahre früher besiedelt als Europa. Allerdings wird die Geschichte der Welt bis heute von Europa aus erzählt. In seinem neuen Buch wagt der Tübinger Historiker Ewald Frie nun eine globale Perspektive, denn die wichtigsten Orte lagen über Jahrtausende außerhalb Europas.

Von Winfried Dolderer | 25.09.2017
    Symbole der Aborigines - Sonne, Mond und Sterne - auf einem Kunstwerk.
    Symbole der Aborigines - Sonne, Mond und Sterne. (picture alliance / dpa / Lawson Menzies)
    An den Anfang seiner "Geschichte der Welt" stellt der Autor Ewald Frie die Entdeckungsreisen des englischen Kapitäns James Cook im ausgehenden 18. Jahrhundert. Er tut dies aus zwei Gründen: Zum einen sei Cook, obwohl nicht der erste Weltumsegler, doch der erste gewesen, der die Welt im Ganzen gesehen habe. Ihm gelang der Nachweis, dass es nicht mehr als fünf bewohnbare Kontinente gibt. Zum anderen hätten Cook und seine Begleiter die Kulturen, denen sie in der Südsee begegneten, als gleichwertig wahrgenommen. Frie zitiert den deutschen Mitreisenden Georg Forster mit der Feststellung:
    "Dass die Natur des Menschen zwar überall klimatisch verschieden, aber im Ganzen, sowohl der Organisation nach als auch in Beziehung auf die Triebe und den Gang ihrer Entwickelung, spezifisch dieselbe ist."
    Europa ist das Ende der Geschichte
    Unter den Zeitgenossen war diese Ansicht wohl nicht repräsentativ. Friedrich Schiller etwa sah außerhalb Europas Völkerschaften auf unterschiedlichen Stufen der Bildung "um uns herum gelagert" wie "Kinder verschiedenen Alters um einen Erwachsenen". Ein hierarchisch strukturiertes Welt- und Geschichtsbild vertrat auch Immanuel Kant. Im Mittelpunkt standen für ihn die "aufgeklärten Nationen", von denen er annahm, dass sie "allen andern dereinst Gesetze geben" würden. Die historische Erzählung müsse bei den alten Griechen beginnen, das Römische Reich anschließen und dann die Ereignisse bis zur Jetztzeit verfolgen. Die "Staatengeschichte anderer Völker" besaß allenfalls anekdotischen Wert. Der Philosoph Georg Friedrich Hegel schließlich dekretierte:
    "Die Weltgeschichte geht von Osten nach Westen, denn Europa ist schlechthin das Ende der Weltgeschichte, Asien der Anfang."
    Zu diesem bis heute in Lehrbüchern und Curricula nachwirkenden Denken hat der Tübinger Historiker Frie einen radikalen Gegenentwurf vorgelegt. In einem programmatisch anmutenden Nachwort schreibt er, er wolle:
    "Das Bild der Weltgeschichte in den Köpfen derjenigen verändern, die wie meine Kinder und ich in der Schule mit einer Standarderzählung [...] vertraut gemacht wurden: Zweistromland, Ägypten, Griechen, Römer, Ritter, Kolumbus und Luther [...], Französische Revolution [...], Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg [...] Diese Geschichte ist bei Lichte betrachtet ziemlich abenteuerlich auf Europa und Deutschland hin konstruiert. Sie folgt eher dem Wunschdenken der Nachgeborenen als den Zukünften der Lebenden."
    Australien war viel früher bewohnt
    Eine Globalgeschichte, wie der Verfasser sie versteht, begnügt sich nicht mit der aus unseren Lehrbüchern vertrauten Feststellung, der moderne Mensch habe vor etwa 40.000 Jahren Europa besiedelt. In Fries Darstellung wandern Menschen der Gattung Homo Sapiens vor rund 60.000 Jahren aus ihrer Urheimat Afrika aus und erreichen vor 50.000 Jahren Australien. Wir lernen: Australien war 10.000 Jahre früher von Unseresgleichen bewohnt als Europa.
    Die Megakatastrophe des europäischen Spätmittelalters, die Große Pest der Jahre um 1350, erscheint in ihrer Dimension deutlich reduziert, wenn wir lesen, dass 1233 allein in der damaligen chinesischen Hauptstadt Kaifeng in zwei Monaten eine Million Menschen der Seuche zum Opfer fielen.
    Frie beschreibt eine Welt in Bewegung. Handel und Migration, der Austausch von Gütern und Ideen sind in seiner Darstellung Treibstoff der Geschichte. Der Name der Stadt Barygaza, der in einem auf Griechisch verfassten Navigationsleitfaden des ersten Jahrhunderts auftaucht, wird auch historisch gebildeten Lesern womöglich neu sein. Der Hafen im nordwestindischen Bundesstaat Gujarat war damals einer der Knotenpunkte eines den Indischen Ozean überspannenden Seehandelsnetzes, das Ostafrika und Arabien mit Indien und darüber hinaus Ostasien verband.
    Das "China des Westens"
    Vor dem inneren Auge des Lesers entsteht ein Bild, in dem das Römische Reich nicht das Zentrum der antiken Welt, sondern in den Worten des Verfassers das "China des Westens" war. Westlicher "Außenspieler" eines durch ein Geflecht von Handelsrouten integrierten Raumes, an dessen östlichem Ende das chinesische Reich lag.
    "Im 6. Jahrhundert schwand die Bedeutung des europäischen Außenspielers. Das Römische Reich war zusammengebrochen, Byzanz als sein östlicher Nachfolger verlor an Einfluss. Die Nachfolger im westlichen Mittelmeer, mochten sie Goten, Langobarden oder Franken heißen, waren in den Augen der Händler und Seefahrer des Indischen Ozeans uninteressant: Barbaren, weit entfernt, unkultiviert und nicht zahlungsfähig."
    Von den Urmenschen bis zu den Vereinten Nationen unserer Tage spannt sich die Erzählung. Ein anspruchsvoller Stoff für knapp 460 Seiten, den der Autor zu bewältigen versucht, indem er die Topographie des Globus als Gliederungsprinzip zugrunde legt. Abgesehen von einem einleitenden Kapitel über "Raum und Zeit" und einem abschließenden, das unter der Überschrift "Die Welt" unsere Gegenwart behandelt, verbindet sich jedes der 18 weiteren Kapitel mit einem bestimmten Ort oder einer Region.
    "Berlin" steht für Weltkriege
    "Babylon" steht für den Übergang der Menschen zur Sesshaftigkeit vor rund 10.000 Jahren und die altorientalischen Reiche. "Ganges" für die Großreiche des antiken Indien. Das "Moche-Tal" im Norden Perus für die altamerikanischen Kulturen, die den Reichen der Azteken und Inka vorausgingen. Wer bei der Lektüre von einem Ort zum nächsten gelangt, wandert zugleich durch die Chronologie. Das Kapitel "Afrika" thematisiert die Urgeschichte, "Amerika" das industrielle 19. Jahrhundert, "Berlin" die Weltkriege und den Kalten Krieg, "Kairo" die Geschichte des Nahen Ostens bis zum "arabischen Frühling".
    "Geschichte ist kein Staffellauf. [...] Sie ähnelt eher einem von allen Menschen ohne Anleitung und daher chaotisch gewebten Teppich. [...] Würden wir den Teppich anheben, könnten wir [...] die Verbindungen, losen Enden, Löcher und Risse genauer betrachten."
    Frie hat keine gelehrte Abhandlung, sondern ein Lern- und Lesebuch für ein breites Publikum vorgelegt. Zugleich eine Fundgrube globalhistorischen Wissens. Ein perfektes Bild bietet er nicht. Durchaus aber einen Denkanstoß, wie Geschichtsvermittlung in Zeiten der Globalisierung aussehen könnte.
    Ewald Frie: "Die Geschichte der Welt. Neu erzählt"
    C.H. Beck Verlag, 463 Seiten, 28,00 Euro.