Vea Kaiser über "Rückwärtswalzer"

"Meine Erzählstimme ist eher eine leichtere"

11:02 Minuten
Autorin Vea Kaiser am Dienstag, 19. Februar 2019, im Rahmen eines Interviews mit der Austria Presse Agentur
Die Leser sollen selbst entscheiden, wie sie den Umgang der Figuren mit Schuld empfinden, sagt Autorin Vea Kaiser. © picture-alliance / dpa /APA/picturedesk.com / Herbert Neubauer
Vea Kaiser im Gespräch mit Andrea Gerk · 10.04.2019
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In ihrem Roman "Rückwärtswalzer" schickt Vea Kaiser drei Schwestern auf eine absurde Balkan-Reise. Eine Schuld aus Kindertagen schweißt sie zusammen. Dennoch habe sie sich für einen leichten Tonfall entschieden, sagt die österreichische Autorin.
Andrea Gerk: Mit gerade mal 23 Jahren veröffentlichte Vea Kaiser ihren Debütroman "Blasmusikpop oder wie die Wissenschaft in die Berge kam", der gleich ein Bestseller wurde. Das war 2012, seitdem hat die österreichische Altphilologin natürlich weitergeschrieben. Gerade ist ihr jüngster Roman erschienen, er heißt "Rückwärtswalzer oder die Manen der Familie Prischinger".
Darin erzählt Vea Kaiser die Geschichte von drei Schwestern aus dem niederösterreichischen Waldviertel und von einer absurden Reise auf den Balkan, bei der Hedi, Wetti und Mirl gemeinsam mit ihrem arbeitslosen Schauspielerneffen den tiefgefrorenen Leichnam von Onkel Willi im Fiat Panda von Wien nach Montenegro bringen. Ich bin gespannt, wie Vea Kaiser auf diese Idee gekommen ist. Hallo nach Wien, Frau Kaiser, herzlich willkommen!
Vea Kaiser: Danke schön ganz herzlich! Hallo zurück nach Berlin!
Gerk: Ihr Buch hat ja zwei Titel. Ich würde gerne einmal mit dem Haupttitel anfangen, "Rückwärtswalzer", wie geht denn das eigentlich?
Kaiser: Das ist jetzt kein Tanz, der Ihnen in der Tanzschule vorenthalten wurde, sondern eine kleine Wortschöpfung von mir. Die Geschichte wird ja auf zwei Ebenen erzählt, also zum einen unternehmen diese Prischingers diese 1029 Kilometer lange Reise von Südwien nach Montenegro. Und dazwischen wird aber sozusagen die Lebensgeschichte all dieser Figuren in kleinen Kapiteln erzählt, also so kleine Rückblenden. Und daher walzt, wenn man so will, diese Geschichte zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit immer wieder hin und her. Und das war dann inspirierend für den Titel "Rückwärtswalzer".

Unterwegs mit den Geistern der Toten

Gerk: Es hat tatsächlich etwas mit der Struktur des Buches, mit dem Zurückschauen zu tun – und auch damit, dass so eine Reise ja auch so etwas auslöst, so ein Erinnern und Zurückschauen.
Kaiser: Darauf spielt dann der Untertitel an, die Manen der Familie Prischinger. Manen, männlich, plural, das ist ja ein lateinisches Wort für Totengeister.
Gerk: Hat da ihr Verlag nicht aufgeschrien, als Sie mit diesem Untertitel ankamen, das ist ja erst mal schwierig, zu verstehen.
Kaiser: Nachdem meine letzten beiden Bücher "Blasmusikpop" und "Makarionissi" hießen, war mein Verlag eigentlich relativ froh, dass es dieses Mal ein Begriff war, den man zumindest in einem Wörterbuch nachschauen kann.
Gerk: Aber was sind denn die Manen?
Kaiser: Die Manen sind die Geister der Toten. Und in der römischen Vorstellungswelt, in der römischen Religionsmythologie hat man sich ja vorgestellt, dass die Verstorbenen, wenn sie weg sind, nicht ganz weg sind, sondern dass sie als Manen – als Totengeister – sehr wohl noch schauen, was ihre Hinterbliebenen so machen, und im Zweifel auch einschreiten können oder Prophezeiungen geben können, Mahnungen aussprechen können und dadurch in gewisser Weise präsent sind. Und während die Familie Prischinger auf diesen Balkan fährt, sind auch ihre Manen dabei, ihre Totengeister, und lösen so gewisses Überdenken, gewisses Erinnern, gewisses Aufarbeiten von Dingen, die passiert sind, aus.
Gerk: Die Toten sind ja eigentlich immer in diesem Roman präsent, denn die drei Schwestern verbindet ja eine schwere Schuld, deshalb bleiben sie auch zusammen, sie haben ein frühes Unglück erlebt. Das ist ja auch so etwas, was da sehr quasi durch das ganze Buch geistert. Aber das hat ja eine lange Tradition in der österreichischen Literatur, mit Schuld zu hadern, aber das tun Sie nicht. Sie erzählen mit einer großen Leichtigkeit davon. Warum ist Ihnen diese Leichtigkeit so wichtig?
Kaiser: Ich glaube, das ist ein gewisser Teil einfach meiner Erzählstimme. Es gibt ja Erzählstimmen, die sind sehr schwer, die haben so eine gewisse Gravitas oder so eine gewisse Erhabenheit. Ich glaube, meine Erzählstimme ist eher eine leichtere, das ist eher eine Stimme, die nicht versucht, jetzt das Geschehen in dem Buch zu beurteilen oder irgendwie groß zu kontextualisieren, sondern einfach zu erzählen. Ich bin der Meinung, dass der heutige Leser und die heutige Leserin sehr wohl in der Lage sind, für sich selber zu interpretieren, wie sie dieses Umgehen mit Schuld der Figuren empfinden, was sie darüber denken, ich muss das nicht als Erzählerin kommentieren.

"Dieses Gefühl von Sättigung, das gab es nicht"

Gerk: Sie haben ja wirklich ein Talent, ganz tolle Figuren zu schaffen, die einen richtig packen und die auch sehr absurd oft sind. Diese drei Schwestern zum Beispiel, die kochen die ganze Zeit wie die Weltmeister, vor allem die eine, da kommt täglich der Fleischer Ferdinand und bringt kiloweise Kalbskotelett, die dann herrlich paniert werden, das macht wirklich totalen Spaß, zu lesen, wie die da reinhauen, auch wo heute Essen ja so ein schwieriges Gebiet geworden ist. Ist bei denen das Essen auch eine Kompensation für das, was die drei als Kinder nach dem Krieg erlebt haben?
Kaiser: Ich habe immer so das Gefühl, dass es bei denen eine gewisse Folge. Man muss halt überlegen, diese drei Schwestern, die sind in den Vierzigern geboren, in der Nachkriegszeit aufgewachsen auf einem Gasthof in Ostösterreich, in Niederösterreich. Und dieser Gasthof war bis ’55 von russischen Soldaten besetzt. Ganz Ostösterreich war ja bis 1955 russische Besatzungszone. Und die Kindheit, die diese Mädchen erlebt haben, war eine, die man sich heute kaum vorstellen kann.
Da gab es keine Eltern, die darauf geachtet haben, was machen die jetzt, was essen die jetzt, die waren sich den ganzen Tag selbst überlassen. Da gab es selten genug Essen, um wirklich so fünf Mäuler so richtig zu stopfen. Also, dieses Gefühl von Sättigung, das wir heutzutage selbstverständlich haben, das ist ja etwas, das gab es in der Nachkriegszeit nicht. Und diesen Hunger, diesen echten Hunger, das können wir uns heute auch nicht mehr vorstellen.
Aber so etwas erlebt zu haben, denke ich, kann man nicht immer abschütteln, und das führt ja bei diesen Prischinger-Schwestern zu einer gewissen Leidenschaft für das Essen. Das ist für die einfach, ja, wie soll man sagen, eine schöne Sache, mal so ein richtig schön paniertes Schnitzel zu essen, mit einem Erdapfelsalat und nachher noch eine Cremeschnitte hinten drauf. Das ist etwas, das ist meiner Generation zum Beispiel völlig fremd geworden. Also, wenn ich mit meinen Freundinnen in Wien eine Cremeschnitte essen gehen möchte, muss ich das eine Woche vorher anmelden, damit das alle mit ihren Diäten in Einklang bringen, damit das Intervallfasten nicht an dem Tag stattfindet, damit man vorher noch ins Fitnessstudio gehen kann, Power-Workout machen, um sich diese Kalorien leisten zu können. Ich habe immer so das Gefühl, wir sind ja heute in einer ganz, ganz, ganz anderen Extrem gefangen, in dieser Selbstkasteiung durch Diätpläne, in dieser Lustfeindlichkeit, in dieser Dämonisierung auch von Essen. Ich meine, Zucker, Gluten, ich weiß jetzt nicht, was noch alles lebensgefährlich ist, Milch sowieso. Das ist aber etwas ganz anderes als das, was ich von meinen Großeltern auch kenne – und zwar einem richtigen Hunger.
Gerk: Und man hat ja auch sofort ein Bild vor sich. Wir alle kennen ja diese Leute, ich auch aus meiner Familie, das ist ja tatsächlich so etwas, wo man auch denkt, denen ist viel versagt geblieben und jetzt steuern sie quasi durch so eine äußere Opulenz, durch eine Üppigkeit und Überfluss dem entgegen einfach.
Kaiser: Na ja, man muss dazusagen, diese Schwestern sind doch auch sehr bewusst, was ihre Möglichkeiten angeht. Also, zum Beispiel, da gibt es in dem Buch diese Szene, wo der Lorenz, der Neffe, das erste Mal seine Freundin mitnimmt zum Essen. Und die weigert sich aufzuessen, ja, und die weigert sich auch, das Essen, was sie nicht essen kann, mit nach Hause zu nehmen in der Tupperware-Box. Und das ist dann für die Tanten wiederum etwas ganz Furchtbares, weil es ja darum geht, dass Nahrung nicht weggeschmissen werden darf.
Wenn man sich heutzutage amerikanische Serien und Filme anschaut, Essenschlachten finden ja immer statt. Da merkt man, finde ich, einen ganz starken Unterschied zwischen amerikanischer Geschichte und europäischer Geschichte, weil in Europa meines Erachtens ein viel, viel, viel größeres Bewusstsein für den Wert von Nahrungsmitteln da ist, während wie gesagt in jeder Sitcom ständig die Leute sich Torten ins Gesicht schmeißen, was meine Großmutter niemals im Leben auch nur im Ansatz lustig finden könnte.

"Die großen Romane des beginnenden 20. Jahrhunderts"

Gerk: Ich musste bei dieser Üppigkeit, die Sie da schildern, oft an Heimito von Doderer denken, auch an seine Vorliebe für dicke Damen und seine ausuferndes, wirklich üppiges Erzählen. Spielt das für Sie eine Rolle, diese Literaturtradition in Österreich?
Kaiser: Natürlich irgendwo, ich meine, das ist ja das, mit dem man hier auch in der Schule oder in privaten Lektüren geprägt wird. In Österreich lesen ja wenig Leute Thomas Mann, aber dafür Heimito von Doderer. Und dieses lustvolle Erzählen, dieses barocke Erzählen, dieses, wenn man so will, auch aus der katholischen Opulenz heraus geprägte oder aus dem jüdischen Bürgertum heraus geprägte große Erzählen der Welt, das ist etwas, das mir wahnsinnig imponiert, nach wie vor. Und ich muss sagen, meine bevorzugten Lektüren sind immer noch die großen Romane des beginnenden 20. Jahrhunderts, aber auch die Russen. Ich finde immer so diese Zurückhaltung heutzutage ganz schrecklich. Wenn mir irgendwie Freunde Bücher in die Hand drücken unter 250 Seiten, und da steht Roman drauf, da kriege ich schon Kopfschmerzen.
Gerk: Sie haben ja jetzt schon den dritten Familienroman geschrieben, und da gibt es ja auch von Doderer ein tolles Motto, wer sich in Familie begibt, kommt darin um, hat er gesagt. Legen Sie das neu aus oder stimmen Sie dem eigentlich zu?
Kaiser: Dieses Motto kannte ich gar nicht. Ich bin ja eher immer so begeistert von der Familiendefinition in Anna Karenina, alle glücklichen Familien gleichen einander, alle unglücklichen sind auf ihre Art unglücklich. Das finde ich ja erzählerisch so wahnsinnig reizvoll, und man darf ja auch nicht vergessen, Familie ist ja eine der wenigen Kategorien, mit der jeder Mensch irgendwie etwas anfangen kann oder etwas verbindet. Familie ist ja die erste Identität, in die wir hineingeboren werden. Nationalität, Religion, geographische Spezifika des eigenen Aufwachsens, das ist ja alles veränderbar, das sind ja keine festgeschriebenen Identitäten. Aber diese Familie, in die wir geboren werden, ganz egal, ob wir uns von denen distanzieren und mit denen nie wieder etwas zu tun haben oder ob wir, wie ich es zum Beispiel mache, jeden Sonntag zur Oma Schnitzel essen fahren – diese Kategorie Familie werden wir nie los, die wird immer irgendwie ein Teil von uns sein.
Gerk: Und die Familie Prischinger sollten wir unbedingt alle kennenlernen. Vea Kaiser, vielen Dank für dieses Gespräch!
Kaiser: Ich bedanke mich ganz herzlich!
Gerk: Und der Roman "Rückwärtswalzer oder die Manen der Familie Prischinger" ist Kiepenheuer und Witsch erschienen, das Buch hat 432 Seiten und kostet 16,99 Euro.
Kaiser:
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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