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Staat und Religion
Wie sich der Protestantismus mit der Demokratie anfreundete

Nach 1945 streifte der Protestantismus in Deutschland zögerlich seine vordemokratische Grundierung ab. Doch in den 1980er-Jahren kehrte der Vorwurf protestantischer "Demokratieunfähigkeit" zurück - unter politisch umgekehrten Vorzeichen.

Hans Michael Heinig im Gespräch mit Sven Töniges | 22.12.2015
    Teilnehmer des Evangelischen Kirchentages 1987 in einer Demonstration gegen Atomwaffen, Apartheit und für die Freiheit Namibias und Süd-Afrikas.
    Demonstration während des Evangelischen Kirchentages 1987 (Picture Alliance / dpa / Klaus Rose)
    Wie sich der Protestantismus mit der Demokratie anfreundete - Teil 1: Von Luther bis Weimar
    Sven Töniges: Das Thema Ost-West-Teilung, das Thema West-Bindung wird aber gleichzeitig auch das entscheidende Thema sein, mit dem – kann man das so sagen – die evangelische Kirche dann sozusagen die Kurve kriegt?
    Hans Michael Heinig: In gewisser Weise kann man das so sagen. Ich hatte schon erwähnt, es gab auch Lutheraner, die auf Seiten der Adenauerregierung selber standen – politisch – und dann obrigkeitliche theologische Tradition versuchten umzuarbeiten, sich daran abzuarbeiten. Der Hamburger Theologie Thielicke zum Beispiel war damals ein Popstar, er bekam ein Spiegel-Titelbild, was wenigen Theologen der Bundesrepublik bis heute vergönnt war. Also Personen, die dann schon den Kurs der Westintegration der Bundesrepublik im Protestantismus mitgetragen haben. Auf der anderen Seite eben stärker national-protestantisch und brüderkirchlich geprägte Gegner der Regierung Adenauer. Und die EKD als ganze und die Landekirchen mussten jetzt diese Flügel ja irgendwie zusammenhalten. So lernte man mühsam demokratische Streitkultur und pluralistisches Bewusstsein bis in die 60er-Jahre hinein.
    Töniges: In die 60er-Jahre fällt dann auch die "Ost-Denkschrift" von 1965, die sich jetzt auch zum fünfzigsten Mal gejährt hat. Welche Bedeutung würden Sie der zumessen?
    Heinig: Das war eine ganz interessante Entwicklung, weil hier sich ein Kreis protestantischer Persönlichkeiten, die überwiegend einen weltlichen Beruf hatten, also protestantische Eliten unserer Gesellschaft kann man sagen, zusammen getan haben, um ohne ein ausdrückliches Mandat zunächst von der evangelischen Kirche sich zu verständigen darüber, was im Horizont der Christentums, im Horizont eines protestantischen Glaubens gesellschaftspolitische angezeigt ist. Diesen Kreis nannte man dann später etwas zugespitzt die evangelische Mafia oder die "protestantische Mafia". In der Tat bildete sich da ein sehr lebendiges Netzwerk protestantischer Persönlichkeiten. Ludwig Raiser stand an der Spitze, der gleichzeitig ein wichtiger Wissenschaftspolitiker war, ein bedeutender Rechtswissenschaftler, Rektor der Universität Tübingen und in vielen kirchlichen Gremien. Und solche Personen, Gleichgesinnte, vernetzten sich und suchten die Öffentlichkeit, um aus ihrem protestantischen Geist heraus politische Fragen zu beantworten. Das war ein wichtiger Beitrag zu etwas wie zivilgesellschaftlichem Bewusstsein, demokratische Streitkultur und Besetzung demokratischer Öffentlichkeit. Dass die Kirche eben nicht gegenüber steht, nicht etwas außerhalb der Gesellschaft ist – sondern Teil dieser. Das wurde in diesen Prozessen sehr deutlich zum Ausdruck gebracht.
    Evangelische Eliten in der frühen Bundesrepublik
    Töniges: Die "protestantische Mafia", ein Begriff, der auf Ralf Dahrendorf zurückgeht – würden Sie auch von protestantischer Mafia sprechen oder ist es mit protestantischem Netzwerk besser getroffen?
    Heinig: Die Mafia ist ja eine Verbrecherorganisation – und das waren diese Herren nun wirklich nicht. Es waren sehr reputierliche Persönlichkeiten, die Bemerkenswertes geleistet haben. Man kann aber schon feststellen, es war eine Netzwerkstruktur. Man kannte sich privat und politisch und religiös, kam immer wieder in unterschiedlichen Konstellationen zusammen. Es war eben nicht rein professionell, sondern tatsächlich auch mit familiären Banden und Freundschaften durchsetzt. Deshalb ist der Begriff Netzwerk dafür sehr gut geeignet.
    Töniges: Wenn ich Dahrendorf richtig verstanden habe, der mit der protestantischen Mafia durchaus nicht nur ein Herrennetz, sondern auch Frauen wie Gräfin Dönhoff, die Zeitherausgeberin, meinte. Wenn ich es richtig verstanden habe, ging es da aber vor allem auch einen sich sehr elitär verstehenden Personenkreis.
    Heinig: Es gehört vielleicht zu allen religiös sehr inspirierten Menschen, dass sie zugleich ein elitäres Bewusstsein haben. Davor war auch der Protestantismus nie gefeit und davor waren auch diese Gruppierungen nie gefeit. Insoweit ist es tatsächlich gehört es zu den interessanten Widersprüchlichkeiten in diesen brüderkirchlichen Bewegungen ein Plädoyer für demokratische, politische Formen und Elitenbewusstsein ziemlich nahtlos ineinander gehen und die Friktionen dessen gar nicht bearbeitet wurden. Selbst so ein Popstar linker Theologie wie Gollwitzer hatte in den 50er, 60er-Jahren Texte geschrieben, in denen er ein klares Elitenbewusstsein zum Ausdruck brachte. Mit der politischen Radikalisierung Gollwitzers da blieb eins kontinuierlich, nämlich das Elitenbewusstsein.
    "Die Erfahrung des irrenden Volkes"
    Töniges: Wenn wir hierbei über das Verhältnis von Protestantismus und Demokratie sprechen, birgt dieses Elitenbewusstsein durchaus auch ein Risiko der Demokratieferne.
    Heinig: Also das hohe moralische Bewusstsein läuft ja immer Gefahr, dass die Breite des Volkes nicht dem folgt. Demokratie heißt die Sicherung individueller Selbstbestimmung und gleicher politischer Teilhabe. Deshalb werden wesentliche Entscheidungen nach dem Mehrheitsprinzip getroffen. Und die Mehrheit kann moralisch irren aus Sicht einer religiös inspirierten Elite. Diese Erfahrung des irrenden Volkes mussten dann auch gerade protestantisch sehr engagierte Teilnehmer des politischen Diskurses der Bundesrepublik immer wieder machen und verarbeiten. Das ist sozusagen eine eigene Kränkung, mit der jeder leben muss, dass sich seine Meinung im demokratischen Prozess möglicherweise nicht durchsetzen kann. Da zeigt sich dann, wer ein guter Demokrat ist, er bereit ist, das hinzunehmen, oder wer dann doch glaubt, um der religiösen Wahrheit willen oder seines höheren moralischen Bewusstseins willen dann zum Widerstand aufzurufen und demokratische Spielregeln dann nicht mehr zu akzeptieren.
    Töniges: Das wurde ein akutes Thema in den frühen 80er und den späten 70er-Jahren schon mit Aufkommen eines - sagen wir - aktivistischen Protestantismus, friedensbewegt, anti-AKW-bewegungsgeprägt. Da stellt sich diese Frage, denke ich, auch noch mal akut?
    Heinig: Das stellte sich sehr akut. Wir hatten von den 60er bis 70er-Jahren – das waren ja in der Bundesrepublik insgesamt sehr bewegte Zeiten mit Emanzipationsbewegung, neuen sozialen Bewegungen, Aufkommen von Umweltbewusstsein, Anti-AKW-Bewegung. Diese neuen sozialen Bewegungen, wie man sie nennt, wurden maßgeblich auch aus dem Protestantismus gespeist. Die evangelische Jugend war da sehr aktiv – und Studierende. Über die evangelischen Studentengemeinden kann man irgendwo lesen, dass die Durchlauferhitzer revolutionären Bewusstseins in den 70er-Jahren waren. Also das sind nur so einige Merkposten, wie sich das verändert hat, das evangelische Milieu. Und in der Situation stellte sich in den 70er, 80er-Jahren sehr noch einmal die Frage, ob die ethische Qualität demokratischer Rechtserzeugung akzeptiert wird, ob man tatsächlich sagt, wir haben zwar das obrigkeitsstaatliche Denken überwunden, aber wir sind überzeugt davon, dass die demokratisch-rechtsstaatliche Form politischer Selbstorganisation eine besondere ethische Qualität hat. Deshalb nehmen wir die Entscheidung auch hin, wenn wir mit den Einzelergebnissen nicht einverstanden sind. Bei der Atom-Bewaffnung, in der Nachrüstungsdebatte und in der Umweltdebatte kam es dann zum Schwur.
    Demokratie-Denkschrift von 1965
    Töniges: Bereits gegen die '68er aber auch gegen den politischen Aktivismus in den 70er Jahren wurde dann auch immer wieder in Stellung gebracht, dass sich da eine Demokratieferne, die man eigentlich aus Weimar kannte, unter umgekehrten politischen Vorzeichen wiederholte. Würden Sie so weit gehen mit Blick auf den aktivistischen Protestantismus in den späten 70er und den frühen 80er-Jahren?
    Heinig: Der Münchner Sozialethiker Trutz Rendtorff hat dem westdeutschen Protestantismus in einem Aufsatz 1983 Demokratieunfähigkeit vorgeworfen. Demokratieunfähigkeit deshalb, weil er meinte tatsächlich, dass die 68er-Bewegung und ihre Nachfolger sich so radikalisieren, dass sie die parlamentarische Demokratie schwächen würden und zugleich komischerweise meinten, das Versagen der Kirche im Nationalsozialismus in der Demokratie der Bundesrepublik nachholen zu müssen durch einen Gestus des Widerstandes. Beides hielt er den entsprechenden Milieus im Protestantismus vor uns warf ihnen Demokratieunfähigkeit vor. Das mündete dann darin, dass man einen großen Selbstverständigungsprozess in der evangelischen Kirche in Gang setzte, um sich noch mal zu überlegen, wie demokratiefähig sind wir, und was heißt Demokratie eigentlich aus evangelisch-ethischer Sicht.
    Töniges: Und da kommt die Demokratiedenkschrift von 1985 ins Spiel, also ein weiteres Jubiläum dieses Jahr.
    Heinig: Ja, ein Jubiläum, das so ein bisschen in den Hintergrund tritt gegenüber der Ostdenkschrift, aber vielleicht für den Protestantismus mindestens so wichtig ist. Dass man vor 30 Jahren so eine Denkschrift präsentiert hat – "Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Start des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe", so heißt diese Arbeit. Es ist bis heute lohnenswert, darin nachzuschlagen, weil man sich sehr mühsam damals verständigen musste, was dominiert denn? Die Beschreibung der konstruktiven Rolle von Parteien, von parlamentarischer Demokratie und seine rechtsstaatlichen Absicherung oder die Kritik am Status quo der damaligen Zeit? Kritik an der mangelnden Sensibilität für Umweltanliegen, Kritik an den ökonomischen Machtinteressen, die den politischen Prozess beeinflussen.
    Töniges: Das Reformationsjubiläum steht vor der Tür sozusagen oder kommt mit Macht auf uns zu. Sehen Sie eine Gefahr in der Selbstbeschreibung in diesem Jubeljahr der evangelischen Kirche, dass da bestimmte Mythen, gerade was das Verhältnis zwischen Moderne und Protestantismus und auch zwischen Demokratie und Protestantismus anbelangt, neu aufgelegt werden, neu befeuert werden?
    Heinig: Ach, jede Institution neigt zu Selbstverklärung. Da ist auch die evangelische Kirche natürlich nicht frei von. Umso wichtiger ist vielleicht, dass wir das Reformationsjubiläum eben nicht nur als rein kirchliche Veranstaltung begreifen, sondern als eine Erinnerungsaufgabe der ganzen Gesellschaft, zu der die Wissenschaft, zu der die Kirche, zu der die Medien, zu der die Museen-Landschaft in Deutschland einen Beitrag leistet. Dann wird es ein Jahr sein, das auch zur Selbstaufklärung der deutschen Protestanten, des Christentums selbst beiträgt. Also die Gefahr besteht, aber wenn man es recht angeht, kann man der Gefahr begegnen, glaube ich. Seit langer Zeit, eigentlich seit dem Kaiserreich steht der Protestantismus in der Gefahr sich selbst vor allem als Modernisierungskraft zu begreifen. Das ist eben ein großes Narrativ, dass Leute wie Max Weber in die Welt gesetzt haben. Da ist ja auch vieles dran, die Bedeutung des Gewissens, die Selbstorganisation der Kirche über Synoden und so. Man kann da viel erzählen, was der Protestantismus zur gesellschaftlichen Modernisierung beigetragen hat. Aber jede Institution, jede geistesgeschichtliche Entwicklung kennt Schattenseiten und die hat die Reformationsgeschichte nun auch zuhauf, wie wir wissen.
    "Eine Restspannung wird bleiben "
    Töniges: Ein letztes: Jürgen Habermas schrieb einmal, dass Religionen in freiheitlich-demokratischen Verfassungsordnungen dann, aber auch nur dann eine produktive öffentliche Rolle spielen, wenn sie sich die Idee von Menschenrechten und Demokratie theologisch anverwandeln. Funktioniert das? Ist dieser Widerspruch zwischen Theologie und Demokratie komplett aufhebbar?
    Heinig: Also eine Restspannung wird bleiben, aber die Wirkungsgeschichte der deutschen Protestantismus zeigt doch anschaulich, wie intensiv ein solcher Aneignungsprozess stattfinden kann. Das macht ja vielleicht auch Mut, wenn wir heute fragen, wie wir mit anderen Religionen, Kulturen in unserem Land über die nächsten 20, 50 oder 100 Jahre umgehen sollen. Man braucht einen langen Atem in diesen Fragen. Und man braucht eine Grundbereitschaft der entsprechenden Religionskulturen, sich auf so ein Modell säkularer politischer Ordnung einzulassen. Für den Protestantismus nach '45 kann man diese Bereitschaft diagnostizieren. Man kann auch sehr präzise nachbeschreiben, mit welchen theologischen Figuren intern man sich eben diese säkulare Ordnung anverwandelt hat, um den Loyalitätskonflikt zwischen den Gläubigen und dem Staatsbürger aufzulösen oder jedenfalls soweit zu ermäßigen, dass er bis auf ganz kleine Randbereiche in unserem Alltag keine Rolle spielt.
    Hans Michael Heinig lehrt Öffentliches Recht und Kirchenrecht in Göttingen und ist Mitglied der DFG-Forschergruppe "Protestantismus in den ethischen Debatten der Bundesrepublik".
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.