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Stadt der hellen Steine

Viele Frankreich- und Spanienurlauber sind auf der Autobahn schon an Niort vorbeigerauscht. Ebenso viele deutsche Jakobspilger haben hier gerastet. Die Stadt erzählt Geschichten von Richard Löwenherz, Madame und dem belgischen Schriftsteller Georges Simenon.

Von Franz Nussbaum | 27.03.2011
    Das Geläut kommt von Notre-Dame, eine der noch fünf Kirchen der Innenstadt. Wenn man aus Deutschland, also von Norden anreist, dann wirkt Niort wie eine Stadt des Südens. Die hellen Steine, heller Sandstein deuten eine gewisse heitere Leichtigkeit an. Das neue zarte Grün des Jahres sprießt und blüht schon an den Bäumen und in den Büschen. Die verwinkelte Altstadt beginnt drüben am zentralen "Place de La Breche". Auch hier, wo ein hässlicher Autoparkplatz die Stadt verschandelte, ist heute mit einer fast futuristischen Architektur alles umgebaut, das Autoblech ist weg. Altes neben Neuem? Michael Kleu:

    "Man sagt, wenn ein Filmregisseur einen Streifen aus dem, sagen wir mal - 14. Jahrhundert drehen will, dann findet er dazu in Niort die Kulisse des alten Viertels St. Jean oder auch unten am Wasser den "Donjon", die alte Festung aus Löwenherz's Tagen. Wenn ein anderer Filmemacher eine moderne Kulisse sucht, mit viel Glas und mutiger Architektur, der filmt beispielsweise an den Ausstellungspassagen hinter dem Rathaus."

    Mit dem Wort "Film" geben Sie ein Stichwort. Der große französische Filmregisseur Henri Georges Clouzot ist hier aufgewachsen. Sein bekanntester Film, "Lohn der Angst", so um 1953 gedreht. Wir lesen über diesen Film und seinen Regisseur:

    In einem trostlosen mittelamerikanischen Nest bewerben sich vier arbeitslose Halunken für einen gefährlichen Job. Sie sollen zwei Tanklastwagen mit hochexplosivem Nitroglyzerin für eine satte Prämie, ihrem "Lohn der Angst", zu einer brennenden Erdöl-Förderanlage transportieren. Atemberaubende Fahrten mit einer Ladung, die jede Sekunde samt Untersatz in die Luft fliegen kann. Die Filmkritik schreibt, selten ist Gier oder Charakterlosigkeit authentischer im Film gezeigt worden. Man nennt Clouzots Meisterwerk einen der farbigsten Schwarz-Weiß-Filme aller Zeiten.

    Und auch in der Geschichte von Niort könnte man Kapitel "Lohn der Angst" aufblättern. Beispielsweise Karl Martell, Martell der "Hammer", Großvater Karls des Großen. Im Jahre 732, schlägt er, von hier rund 100 Kilometer entfernt, das Heer der Araber aus Spanien bei Poitiers in die Flucht. Die Sarazenen bedrohen vor 1.300 Jahren das Abendland. Zusammengefasst:

    Die damaligen Kriegsberichterstatter zeichnen ein verschwommenes Bild, bauen es auf aufgebauschten Legenden auf. Auf beiden Seiten werden jeweils 35.000 Kämpfer gestanden haben. Vor der Schlacht ist jedem Franken und jedem Moslem, der fällt, die direkte Auffahrt in das himmlische Paradies garantiert worden. Dann sollen die himmlischen Heerscharen zu Gunsten der Christenheit in das Getümmel eingegriffen haben. Die grünen Fahnen des Propheten geraten ins Wanken, die Sarazenen ergreifen die Flucht, Richtung Pyrenäen. Das Abendland ist gerettet.

    Und diese Flucht löst die Gier der fränkischen Beutemacher aus. Über die alte Römerstraße Richtung Niort bis an den Rand der Poitevinischen Sümpfe oder des "Marais Poitevin". Marais ist der Sumpf. Da stoppt Martell, 44 Jahre alt, die Verfolgung. Er fürchtet, die fliehenden Araber könnten ihn vielleicht in einen Hinterhalt locken, vielleicht in diese Sümpfe.

    "Und wenig später beginnt dann die Pilgerbewegung des Abendlandes an das Jakobusgrab im spanischen Santiago de Compostela. Und Niort liegt an einer der Hauptrouten der deutschen Pilger. Deren Weg war ja nicht immer unbedingt der kürzeste. Man orientiert sich ja auch daran, dass man an wichtigen Orten für eine himmlische Fürsprache vorbeikommt. Beispielsweise am Grabe des heiligen Martin von Tours."

    Und auch in Niort residieren dann in Folge der Pilgerbewegung zahlreiche Klöster. Nicht nur hier am Südtor, an der "Porte Saint Jean" stand früher ein Hospiz, wo also Pilgerärzte und Krankenpfleger sich um die Maladen kümmern.

    "Es gibt eine interessante Hochrechnung. In kriegsfreien Zeiten pilgern damals, geschätzt, bis zu einer halben Million abendländischer Christen jährlich an das Jakobsgrab. Das ergäbe in den Spitzenzeiten des Jakobskultes für das mittelalterliche Niort etwa täglich rund 300 Pilger, bei damals etwa 800 Einwohnern. Ein Pilgersüppchen, Herberge, Krankenpflege, ein paar Opfergroschen für eine Fürbitte. Daran konnte auch eine auf das Pilgergeschäft spezialisierte Stadt gut verdienen."

    Und wir spazieren nun mitten in der Innenstadt am Flüsschen Sèvres durch eine Art frühlingsbunte Park- und Wasserlandschaft. Ein vielfach verästelter Fluss, mit Bänken und Blumen und Grün und Schwänen und Enten. Gegenüber steht der gewaltige "Donjong", eine rund 850 Jahre alte trutzige Doppelburg. Dieser gewaltige Klotz ist im 17. Jahrhundert auch der Knast von Niort. Und hier wird die spätere Madame de Maintenon, Mätresse und spätere Gemahlin des Sonnenkönigs geboren.

    "Diese Maintenon erlebt ja einen märchenhaften Aufstieg. Dem aber jede Anrüchigkeit einer verführerischen-, zickigen Mätresse fehlt .Sie stammt aus einer verarmten Aristokraten-Familie, hier aus der Nähe. Ihr Vater sitzt hier im Donjong als Betrüger ein. Und die Ehefrau, das war damals möglich, zieht mit in das Gefängnis und versorgt ihren Mann. So kommt es 1635 zur Geburt dieser kleinen "Francoise" im Gefängnis. Und sie erlebt den sprichwörtlichen "Aschenputtel-Aufstieg". In ihrer Aschenputtelzeit wird sie getriezt, gedemütigt, gemobbt. Sie hütet Truthähne und Ziegen. Und sie kommt dann, mit etwas Zufall und Glück in eine bessere Familie, die unter anderem in Paris ein großes Haus führt, wo auch der "Hof", die Finanzgrößen-, die Literaten Frankreichs ein- und ausgehen. An sich hätte sich dieses Aschenputtel in Paris einem stinkreichen älteren Gockel an den Hals werfen können. Aber die bildhübsche und blitzgescheite Francoise heiratet mit 16-Jahren in Paris stattdessen einen hoch verschuldeten, zudem viele Jahre älteren, stark verkrüppelten Schriftsteller. Sie pflegt sechs oder sieben Jahre lang ihren Dichter bis zu seinem Tod. Und avanciert später dann zur Favoritin des Königs."

    Und wir befragen hier die Steine des Donjong. Und die erzählen uns von ihrer Maintenon, so als wären die Steine stolz, dass ein Aschenputtel aus ihrer Mitte den Weg nach ganz oben geschafft hat.

    "Die spätere Madame de Maintenon wird der geistreiche Mittelpunkt in den Salons. Heute würde man sagen, in den Talkshows von Paris. So wird auch Ludwig XIV, mit Bettgespielinnen nicht unterversorgt, auf diese Witwe Scarron aufmerksam. Sie lässt den noch sehr gut aussehenden König fast 15 Jahre lang mit witzigem Charme abblitzen.

    Setzen wir noch einen drauf. Ludwig macht der Witwe Scarron Avancen. Die nimmt aber statt des Lotterbettes, sie übernimmt als Gouvernante, als Erzieherin, die illegitimen Kinder, die "Bastarde", die Majestät so nebenbei gezeugt haben. Und von der Erzieherin seiner Kinder schwärmt Ludwig.

    Sie weiß zu lieben, es dürfte angenehm sein, von ihr geliebt zu werden.

    Das alles muss man, oder müssen Sie sich nachlesen. 60 Seiten in der einschlägigen Literatur. Und so gibt es aus der Zeit der Maintenon auch noch eine Notiz, die Niort und auch Deutschland tangieren. Wir lesen:
    Ludwig XIV. widerruft, vielleicht auch unter dem Einfluss der Maintenon das "Edikt von Nantes". Und es beginnt damals die blutige Verfolgung der Hugenotten, der "Protestanten". Auch Niort war stark hugenottisch geprägt. Und 4000 der besten Köpfe, Handwerker, Künstler, Geschäftsleute verlassen, flüchten aus Niort Und erreichen Integration und gute Positionen, auch im ärmlichen Preußen. Und dieser Exodus führt auch zu einem Niedergang in Niort.

    Und sie heißen beispielsweise de Maiziere oder Lafontaine oder Fontane. Hier an der Sèvres, in der Nähe der großen Markthalle. Hier war früher der Hafen von Niort. Niort lag vor eintausend Jahren noch fast direkt am Atlantik, also ein Seehafen. Und dann zieht sich der gewaltige Ozean allmählich 25 Kilometer zurück und hinterlässt eine Sumpflandschaft mit einem Labyrinth von Kanälen, ähnlich dem Spreewald bei Berlin, eben das "Poitevinische Meer". In der Prospektsprache "eine Symphonie in Grün". Durch diese Kanäle tuckert auch der Schriftsteller George Simenon, der Erfinder des Kommissars Maigret mit seinem kleinen Hausboot. Er wohnt in der Nähe. Sitzt hier in Niort (1928) schreibend an einem Tischchen vor einem Café. 25 Jahre jung, eine lebende Schreibfabrik der Schreibmaschine auf zwei Beinen, wenn er nicht gerade den hübschen Beinen einer Frau nachträumt. Er schreibt auch einen Maigret, den er in Niort ermitteln lässt. Leider nicht deutsch übersetzt. Ich habe hier die Kopie, einer Seite "182" vor mir liegen, französisch natürlich. Direkt in die Maschine getippt, Korrektur per Hand drüber gekritzelt. Und noch ein Mal kommen wir hier an der Sèvres zurück auf den Donjong.

    ""Nichts unterstreicht die politisch-strategische Bedeutung des mittelalterlichen Städtchens mehr, als der Bau dieses Festungsklotzes. Er wird wohl gegen 1160 begonnen von Heinrich II. Plantagenet, König von England, verheiratet mit der berühmten Eleonore d'Aquitaine. 1170-80 kommt Richard, Herzog von Aquitanien, der knapp 20-jährige Sohn von Heinrich und Eleonore nach Niort. Es ist jener Richard, dem man dann knapp 20 Jahre später beim Kreuzzug vor Jerusalem den Namen "Löwenherz" verehrt. Und Richard baut als junger Trutz zum ersten Burgturm seines Vaters noch einen zweiten hinzu. So wird das Bollwerk in der Grundfläche mehr als verdoppelt. In seinen jungen Jahren ist er gleichzeitig ein Dichter und Sänger von sensiblen Liebesliedern.

    Das passt ja auch etwas in die heutige Frühlingsstimmung. Und wir betreten nun die alte Hauptkirche Kirche "Notre Dame". Zu Löwenherz Zeiten stand hier nur ein kleines Kirchlein. Diese große Kirche ist gegen 1500 in imposanter Spätgotik erbaut worden. Aus deutschen Augen gesehen sieht hier vieles etwas grau, einfachen, glanzlos aus. Elodie Berche:

    ""In Frankreich muss sich jede Kirche aus dem eignen Kirchen-Vermögen oder aus Spenden finanzieren. Es gibt keine Unterstützung vom Staat. So hat Notre Dame nur den Schmuck den die Bilderstürmer der Religionskriege und der Revolution nicht zerschlagen haben."

    Wenn ich jetzt ein deutscher Pilger oder Besucher wäre, was werde sie mir zeigen?

    "Da fällt die Figur des Saint Jacques auf, mit dem Pilgerhut, er hat hier sogar einen Hund dabei. Oder wir sehen den St. Christoph, der das Jesuskind durch einen Fluss trägt, durch die Sümpfe, durch den Marais Poitevin. Und wenn Sie sich umdrehen, dann wird Ihnen dieses große farbige Flamboyant-Fenster gefallen. Das Fenster und seine Bilder waren auch stark zerstört."

    Stark zerstört, das heißt man sieht jetzt nur Bildfragmente, Köpfe, Gesichter, die man aber nicht mehr zuordnen kann.

    "Und das gewaltige Fenster, etwa fünf Meter Durchmesser, hat man mit bleigefasstem Glas, mit grünen Baumblättern, in verschiedenen Grün-Nuancen ausgefüllt."

    Und jetzt wo die Sonne von Niort durch dieses grüne Fenster scheint ist es das frühlingsstimmigste Kirchenfenster, was ich jemals gesehen habe. Man ahnt so etwas von der großen Kunst der Architekten der Spätgotik, die ja diese Fensterform bewusst auch so als "Aha-Erlebnis" eingebaut haben.

    Und wieder draußen wollen wir noch eine neue Frauengeschichte aus Niort aufblättern. Eleonore d'Olbreuse, verarmter hugenottischer Landadel. Sie ist vier Jahre jünger als die Maintenon. Diese beiden Frauen müssen sich auch in Paris und am Hofe in Versailles über den Weg gelaufen sein. Wenn sie sich nicht in dem weitläufigen Intriganten-Stadel des Riesenschlosses übersehen haben. In Versailles kann aber die junge d'Olbreuse nicht punkten, obwohl sie wegen ihrer Schönheit von vielen Männern begehrt wird. Sie begegnet schließlich dem Welfen-Herzog Georg Wilhelm. Den elektrisiert sie. Er darf sie aber nicht heiraten, weil er in einer Art "Geheimvertrag" seinem jüngeren Bruder seine Ehelosigkeit zusichern musste. Ein höchst komplizierter amouröser Hintergrund. Zusammengefasst:

    Georg Wilhelm war gedrängt worden, endlich einen legitimen männlichen Spross zur Rettung der Dynastie zu präsentieren. Er hatte sich aber bei einer seiner häufigen sogenannten "Venezianischen Bildungsreisen" eine venezianische Kavalierskrankheit eingefangen. Deswegen konnte er eine schon fest terminierte Hochzeit mit der Tochter des Pfalzgrafen und Kurfürsten in Heidelberg nicht eingehen.

    So bittet dieser Georg Wilhelm dann seinen jüngeren Bruder, diese, vom Vermögen und vom Stand lukrative Braut abzunehmen, ohne dass es zu einem adeligen Skandal kommt. Der "malade" Georg Wilhelm zieht sich mit seiner Eleonore d' Olbreuse, in das kleine Celle zurück. Und diese Französin entrümpelt das biederliche Celle. Wir lesen:

    Diese Eleonore bringt einen ganzen Schwarm hugenottischer Glaubensbrüder bei Hofe und in der Residenzstadt Celle unter. Die Hugenotten krempeln Celle um, Eleonore baut die düstere Wohnburg zu einem Schloss um, lässt einen Park anlegen und bringt dem Hof bei, dass man an der Tafel des Sonnenkönigs in Versailles zu jedem Gang einen neuen sauberen Teller benutzt. So wird auch die Tafel-Etikette in Celle verfeinert.

    Diese hugenottische Geschichte einer Prinzessin aus Niort, die ein wenig savoir vivre in das tief zerstörte, verarmte Deutschland nach dem 30-jährigen Krieg bringt, sie endet aber in Celle, und später in Lüneburg tragisch. Auch wenn die d'Olbreuse schließlich als offizielle Herzogin von Braunschweig-Lüneburg-Celle anerkannt wird. Eine insgesamt höchst nachlesenswerte Geschichte. Und so steht man hier in Niort, sieht das Flüsschen Sevres, denkt an Martell, Löwenherz, Jakobspilger, die Maintenon. So kommt einem Niort fast wie ein Lesezeichen daher, voller Geschichten zum Nachblättern. Immer ist auch etwas von Clouzots Lohn der Angst dabei. Auch Georges Simenons "Angst vor dem Lohn". Ein Schriftsteller, der weit über 200 Romane, Reisenotizen und Geschichten geschrieben hat. Er soll jedes Mal vor Beginn einer neuen Geschichte mit Bauchgrimmen vor dem ersten Blatt noch leeren Papiers gesessen haben, Angst davor, dass sich der neue Stoff nicht lohne. NIORT, eine Stadt mit hellen Steinen, man muss sie nur zum Sprechen bringen.