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Stadtschreier und Bote statt Twitter und Facebook

Kate und William haben endlich ihr Kind bekommen. Doch selbst die britischen Medien, die eine Live-Berichterstattung zur Geburt versprochen hatten, konnten die Nachricht erst über vier Stunden später vermelden, nachdem ein Bote das Geburtsdokument in den Hof des Königlichen Palasts gebracht hatte.

Von Burkhard Müller-Ullrich | 23.07.2013
    Die Szene atmet britischen Surrealismus: Ein älterer Mann in historisch anmutender Prachtuniform – rotes Cape mit Goldbrokat und aufgenähten Wappen, auf dem Kopf ein federbestückter Dreispitz – schwingt eine große Handglocke und schreit "Oyez, Oyez, Oyez". Was kein Stoßseufzer, sondern Altfranzösisch ist und "Alle Mal herhören" bedeutet.

    Daraufhin entrollt er ein Schriftstück und schreit den Text in die heiße Londoner Abendluft: "Wir begrüßen einen künftigen König. Möge er lang und glücklich leben und eines Tages uns regieren. God save the Queen."

    Der Mann heißt Tony Appleton und nennt sich "Town Crier", zu deutsch Stadtschreier, eine frühe, menschliche Form des Lautsprechers. Er macht das bei allen möglichen Anlässen seit nunmehr 26 Jahren. So alt ist schätzungsweise die Polizistin, die, einen Meter neben ihm stehend, Appletons Auftritt vor dem St. Mary’s Hospital souverän ignoriert. Die beiden werden von einer Medienmeute auf dem gegenüberliegenden Trottoir gefilmt und dann der ganzen Welt gezeigt: eine junge Polizistin mit Funksprechgerät und ein 76-jähriger Herold mit Glocke.

    Die Szene ist ein Sinnbild dessen, worin die Faszinationskraft dieser Prinzengeburt und der Monarchie als solcher eigentlich besteht. Es ist das Element der Überzeitlichkeit mitten im Trubel der Gegenwart. Es ist das Gefühl für das Gewicht der Geschichte, dessen ästhetische Ausdrucksweise eine Nation zur Kulturnation macht.

    Der Nachvollzug traditioneller Riten stimuliert dieses Gefühl und stiftet etwas von der kostbarsten Ressource aller Menschen, nämlich Lebenssinn, und zwar in Form von gemeinschaftlicher Identitätsvergewisserung und Kontinuitätserfahrung.

    Natürlich ist es im Zeitalter von Twitter absurd, die Nachricht über die Geburt eines Thronfolgers in einer roten Ledermappe von einem königlichen Kurier bei der Geburtsklinik abholen und zum Buckingham-Palast fahren zu lassen, wo sie, an einer goldenen Staffelei befestigt, der Öffentlichkeit bekanntgegeben wird. Oder ist vielleicht das heutige Nachrichtenwesen noch absurder?

    Die britischen Fernsehmoderatoren haben qualvolle Tage hinter sich, in denen sie dauernd über die Nichtfortschritte des Geburtsvorgangs reden mussten, ohne dass es irgendetwas Neues zu berichten gab. Jeder kennt diese diskursiven Endlosschleifen und wünscht sich manchmal den Town Crier zurück, denn der verkündete Wesentliches und das kurz.

    Analog zu solcher Mediennostalgie nimmt auch die allgemeine Wertschätzung des Königtums eher zu als ab, wenngleich sich dies paradoxerweise vor allem in Gestalt des Medienhypes äußert. Die Monarchie repräsentiert einen Zeithorizont, den der moderne Mensch in seinem Alltag schmerzlich vermisst. Allenfalls beim Immobilienkauf beschleicht ihn der Gedanke, daß er gerade etwas erwirbt, das höchstwahrscheinlich länger besteht als die eigene Existenz.

    Ähnlich löst die Meldung vom Zuwachs in der Familie Windsor-Mountbatten bei vielen eine blitzartige Synchronisation der eigenen Lebensperspektive mit der großen Geschichte ihres Landes aus.

    In einem halben Jahrhundert wird Großbritannien, wenn die statistische Entwicklung anhält, das größte Land Europas sein, und zwar im Hinblick auf Einwohnerzahl, Bruttosozialprodukt und Erwerbstätige, rechnet die "Times" in ihrem heutigen Leitartikel zur Prinzengeburt vor. Allerdings werden die weißen Briten in London und den anderen Großstädten des Landes eine Minderheit bilden. Mit seinen speziellen Beziehungen zu den USA und zu Indien kann dieses Britannien aber jedenfalls einer großen Zukunft entgegensehen. Und diesen Blick ermöglicht die große Vergangenheit, die gerade so prachtvoll und aufwendig zelebriert wird.