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Stadtteil als Keimzelle des Rechtsterrors

In Winzerla, einem Stadtteil im thüringischen Jena, verbrachten Mitglieder der Zwickauer Terrorzelle ihre Jugend. Die rechte Szene dort bestimmt zwar nicht mehr das Straßenbild, ist aber dennoch weiter aktiv. Mit vielen Angeboten versuchen Initiativen, die Macht der Rechten weiter zu begrenzen.

Von Blanka Weber | 08.12.2011
    Jena, wenige Hundert Meter vom Bahnhof entfernt, etwas versteckt, inmitten einer Häuserzeile, hat der Verein Drudel 11 seinen Sitz. Es ist eine Beratung für Aussteiger aus der rechten Szene. Seit 2009 gibt es den Verein. Seitdem haben 72 Menschen das Aussteigen versucht, sagt die junge Beraterin, die anonym bleiben soll:

    "Also, auch wenn eine Szene im Straßenbild nicht mehr präsent ist und von der Außenwelt als inaktiv eingestuft wird, kann man schwer einschätzen, was im Untergrund und im Hintergrund läuft. Natürlich berichten uns auch unsere jungen Männer in der Ausstiegsberatung, dass sehr, sehr viel im Hintergrund passiert."

    Zu ihr kommen Eltern, aber auch Jugendliche. Allein 39 junge Männer zwischen 16 und 32 Jahren hätten in den vergangenen Monaten angefragt: Wie groß die rechte Szene ist, kann niemand genau sagen. 1.000 Personen werden in Thüringen der NPD zugeordnet. Hinzu kommt das Netzwerk der freien Kräfte, der sogenannte unorganisierte Rechtsextremismus:

    "Auch wir haben den Eindruck wie andere Organisationen, dass natürlich die Autonomen Nationalisten eine Strömung ist, die sehr stark im Kommen ist. Das ist eine Jugendszene, die sehr viel Aufsehen erregt durch konkrete Aktionen. Das ist angesagt, das ist eine coole hippe Geschichte, da laufen viele Geschichten im Internet."

    Ortswechsel - Jena Winzerla. Ein Stadtteil, in dem heute mehr als 11.000 Menschen wohnen, meist in schön sanierten Wohnblocks. Der Stadtteil wirkt sauber und modern. Hier leben heute Familien und Studenten. In den 90er-Jahren war das noch anders. Es gab eine deutlich sichtbare, aggressive rechte Szene, erzählt Karin Kaschuba von der Partei "Die Linke":

    "Es ist auch keine Gruppe von fünf bis sechs Leuten gewesen. Es konnten auch schnell mal 30 sein. Und bei den großen Aufläufen waren es ja deutlich mehr."

    Politikerinnen wie Karin Kaschuba waren erklärte Feinde und das wurde auch klar gezeigt, sagt sie rückblickend:

    "Ich bin nachts an der Tankstelle begrüßt worden von Vertretern des Thüringer Heimatschutzes. Sie haben auf dem Parkplatz gewartet, wenn ich nach Hause gekommen bin. Ich hatte nach solchen Begegnungen auch mal ein Hakenkreuz an der Frontscheibe des Autos eingeritzt."

    Die Landtagsabgeordnete hat die Wohnung gewechselt und gelernt, sich aufmerksamer zu bewegen. Bedroht wurden sie und ihre Mitarbeiter in den 90er-Jahren ständig. Der Thüringer Heimatschutz war Bindeglied zwischen militanter Neonazi-Szene, NPD und deren Jugendverband. Das Netzwerk des Heimatschutzes war überall präsent, vor allem im Wahlkampf. Es ist jener Verband, den der später enttarnte V-Mann des Verfassungsschutzes, Tino Brandt, erst aufgebaut hatte.

    Tino Brandt: "Sie sind nicht unorganisiert vorgegangen, sondern sehr gut organisiert. Und ich wundere mich schon, wenn die Leute heute sagen: Also, ich hätte nicht gedacht, dass es so ist."

    NPD-Kader wie Ralf Wohlleben kandidierten erst in Jena Winzerla, später im Stadtteil nebenan, in Lobeda, für den Ortschaftsrat. Nun ermittelt die Bundesanwaltschaft gegen ihn im Zusammenhang mit der Zwickauer Zelle.

    Auch deren Mitglieder – Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos - haben einen Teil ihrer Jugend in Jena Winzerla verbracht. Auch Holger Gerlach, der in Hannover verhaftet wurde, stammt aus Jena. Wer heute durch Winzerla geht, sieht einen weitgehend sanierten Stadtteil. In einem der Blocks arbeitet Michael Dietzel. Er ist Sozialpädagoge im Freizeitladen des HIVO-Vereins – was so viel heißt – wie `Hilfe vor Ort`:

    "Es ist klar, dass sich in den letzten 20 Jahren viel bewegt hat in Jena und in Winzerla. Das aktuelle Bild vom Rechtsradikalismus ist nicht das Bild, wie es vor zehn Jahren war. Es ist nicht mehr der Nazi mit Glatze und Springerstiefel, wie es noch vor zehn Jahren das Bild war. Das eigentliche Problem ist heute viel mehr der Alltagsrassismus, der Kinder auch prägt. Es waren nun mal diese drei Leute, die aus Winzerla und Jena kamen. Und man redet schon darüber, wie konnte es kommen, dass jemand, der hier auch sozialisiert worden ist, so einen Weg geht. Und hätte man das anders machen können. Gab es Entscheidungen, die nicht richtig waren oder die auch in der Pädagogik schief gelaufen sind?"

    Allein in Winzerla gibt es jetzt zwei Streetworker und fast 20 Projekte und Vereine, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Jetzt gibt es Alternativen. Ende der 90er-Jahre war alles im Umbruch, auch das komplette soziale Gefüge, sagt Dietzel. Heute machen die freien Kräfte von sich reden, landesweit und bundesweit. Sie sind – offiziell - nicht unter dem Dach der NPD organisiert. Die jungen Wilden gelten manch einem Parteichef – zumindest öffentlich - als zu aggressiv. Und das könnte problematisch werden im Falle eines neuen Parteiverbotsverfahrens.
    Für Sozialarbeiter Michael Dietzel wäre ein NPD-Verbot sowieso nicht die Lösung:

    "Das eigentliche Problem sind nicht ein paar Leute, die sich offen zum Rechtsradikalismus bekennen, sondern ein Hauptproblem sind zum Beispiel 58 Prozent, die in einer Studie gesagt haben, Deutschland ist überfremdet. Das ist dieser sehr, sehr niederschwellige Radikalismus, der sich auch deutschlandweit hält."