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Hilfetelefon
Wer erkennt das misshandelte Kind?

Das Jugendamt wegen eines Verdachts auf Kindesmisshandlung einzuschalten, ist ein schwerwiegender Schritt. Doch was soll man tun, wenn man in seiner Umgebung Missbrauch vermutet? Eine bundesweite Hotline bietet Hilfe und Beratung, um Fälle früh zu erkennen - aber auch um falsche Anschuldigungen zu vermeiden.

Von Isabel Fannrich-Lautenschläger | 22.11.2018
    ILLUSTRATION - Ein junges Mädchen steht am 24.01.2014 in Berlin am Ende eines dunklen Flures.
    Verhaltensänderungen beim Kind können auf eine Misshandlung hinweisen (dpa / picture alliance / Nicolas Armer)
    Manchmal rufen zwei, drei Menschen täglich an, um Jürgen Lemke am "Hilfetelefon Sexueller Missbrauch" von ihrem Verdacht zu erzählen. Ein Kind in ihrem sozialen Umfeld hat sich verändert. Könnte das mit Missbrauch zu tun haben?, fragen sie den Sozialpädagogen und Therapeuten.
    "Das Kind zieht sich zum Beispiel zurück, das Kind wird auffallend schlechter in der Schule. Die Einstellung zur Schule ändert sich: Ich hab keine Lust, ich will da nicht hin. Oder das Kind sagt: Bei euch ist es schön und da nebenan in dem Haus bei dem Nachbarn, da will ich nicht mehr hin. Also ganz vielfältig und selten eindeutig."
    Lieber einmal zu viel anrufen
    Knapp 3.900 Mal wurde die Nummer des Hilfetelefons 2018 bereits gewählt. Mehr als 300 Verdachtsfälle landen jährlich bei den Mitarbeitern, erzählt Silke Noack, Leiterin von N.I.N.A., der "Nationalen Infoline, Netzwerk und Anlaufstelle zu sexueller Gewalt an Mädchen und Jungen". Seit 2014 betreibt diese das bundesweite Hilfetelefon im Auftrag des Unabhängigen Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung.
    "Mit einem komischen Gefühl im Bauch laufen Sie nicht zur Polizei, in den wenigsten Fällen auch zum Jugendamt. Das heißt, was passiert mit Ihrem komischen Gefühl - oder nennen wir es mit Ihrem Verdacht? Sie bleiben zu Hause auf Ihrem Sofa sitzen und nichts passiert. Und das wollten wir aufgreifen, indem wir damals gesagt haben und das heute noch sagen: Rufen Sie uns an, auch bei Verdacht."
    Lieber einmal zu viel anrufen, lautet die Botschaft. Dass ein Kind sich verändert, deutet noch lange nicht auf Missbrauch hin, sagt Jürgen Lemke. Wenn sich aber mehrere Anzeichen häufen, wenn ein Kind verstörende Bilder malt und sich nicht mehr anfassen lässt, ganz still oder überdreht ist, horcht er auf. Am Telefon sei es wichtig, Ruhe zu bewahren. Ein Verdacht löst eine Lawine, einen Prozess aus, den er begleitet.
    "Ich lass mir das schon dann genau schildern, wie kommt der Verdacht zustande, frage nach, das sind ja oft aufgeregte Menschen, die dann anrufen und sich entschlossen haben, nach langem Hin und Her anzurufen. Ich versuche dann, Äußerungen zu bekommen, die den Verdacht entweder bestärken – oder das Gegenteil. Und ich verweise auf Fachberatungsstellen, ich rede nicht gleich von der Polizei oder unbedingt gleich vom Jugendamt, sondern Fachberatungsstellen, wo sich die Anrufenden weiter beraten lassen können."
    Die Menschen, die beim Hilfetelefon anrufen, arbeiten oft in der Kita, in Schule und Sport, bei Pfadfindern, Kirche oder auch Kinderkliniken. Manche werden aber auch in ihrem privaten Umfeld aufmerksam. Silke Noack erinnert sich an den Fall einer Nachbarin:
    "Das war so ein Mehrfamilienhaus. Die hatte zu dem Kind, das war ein 5-jähriges Mädchen, die ging in die Kita und hatte die sogar mal abgeholt. Und ihr war in der letzten Zeit aufgefallen, dass das Kind sehr verschlossen war, dass es sich sehr verändert hat. Darüber ist die Nachbarin gestolpert. Und einmal, als sie sie im Hausflur traf, machte das Kind mit einmal so Bemerkungen wie: ‚Das tut mir weh. Der fasst da immer an.‘ Als die Nachbarin weiter fragen wollte, ist das Kind sofort rein gelaufen in die Wohnung und hat gar nichts mehr gesagt."
    Angst vor falscher Verdächtigung
    Nach Rücksprache mit der Erzieherin des Kindesgartens wurde das Jugendamt eingeschaltet. Anders als bei vielen anderen Formen der Kindesmisshandlung gibt es für sexualisierte Gewalt meist nicht so eindeutige Signale, berichtet Iris Hölling, Leiterin des Jugendamtes Treptow-Köpenick in Berlin. Die Angst vor falscher Verdächtigung sei deshalb groß.
    "Natürlich gibt es eine Scheu, sich in die Privatsphäre anderer einzumischen. Das ist ja ein Thema, das sehr stark verunsichert, wo man erst mal, um in so ein Handeln zu kommen - ich wende mich ans Jugendamt mit so einer Gefährdungsmeldung, mit so einem Verdacht -, da muss ich ja die Schwelle, ich glaube das, was ich da sehe, ich halte es für möglich, alles schon überschritten haben und das halte ich für ein schwieriges Problem bei dem Thema."
    Hinzu kommt, dass in der Öffentlichkeit immer noch ein Bild herrsche vom Jugendamt als einer Institution, die Kinder aus Familien nimmt, sagt Iris Hölling. Die Menschen klopfen hier erst an, wenn schon viel passiert ist – das müsse sich ändern.
    Wissen und Bewusstsein muss größer werden
    Die Aufmerksamkeit für sexuellen Kindesmissbrauch hat sich zwar erhöht. Doch das Wissen und das Bewusstsein über die Häufigkeit sexualisierter Gewalt und über Täterstrategien muss größer werden, betont Iris Hölling. Sie sitzt im Vorstand der "Deutschen Gesellschaft für Prävention und Intervention bei Kindesmisshandlung", die aktuell ein mit drei Millionen Euro gefördertes Bundes-Modellprojekt zum Ausbau von Beratungsstellen in acht ländlichen Regionen plant.
    Dass die Polizeiliche Kriminalstatistik von Berlin in den vergangenen zehn Jahren einen leichten Anstieg der Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch zeigt, könnte Ausdruck verstärkter Anzeigebereitschaft sein, sagt Claude Roggenkamp. Der Kriminalhauptkommissar beim Landeskriminalamt erklärt, an könne sich hier auch telefonisch beraten lassen - anonym und mit Nummernunterdrückung. Aber:
    "Auf jeden Fall würde mehr Zivilcourage helfen. Wenn man den Mumm hat, dann auch mal dahinzugehen und zu gucken: Was ist denn da wirklich los? Und nicht einfach zu denken, das geht mich nichts an, ist die Sache der Nachbarn. Oder die Angst, dann werde ich ja selber angezeigt und kriege dann Ärger, und das will ich nicht. Wenn wir aber im Sinne der Kinder und zum Schutz der Kinder handeln und arbeiten wollen, dann müsste man ein bisschen mehr Verantwortung für die eine oder andere Sache übernehmen. Und das finde ich, das fehlt. Das fehlt nicht erst seit heute, das fehlt schon seit vielen, vielen Jahren."
    Das Hilfetelefon Sexueller Missbrauch erreichen Sie kostenfrei und anonym unter 0800-22 55 530.