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Wenn bei der Arbeit keine Grenzen gezogen werden, kann das zu massiven psychischen Problemen führen, bis hin zum Zusammenbruch. Für das Erkennen der Grenze gibt es aber kein Patentrezept.

Von Peter Leusch | 31.05.2012
    "Ich hatte 2006 meinen ersten Zusammenbruch. Ich saß vor meinem PC und hatte das Gefühl, dass tatsächlich nichts mehr aus dem Kopf herausgeht oder in den PC hinein, es war ein komplettes Systemversagen, dass die Kommunikation mit der Außenwelt blockiert hat."

    Sieghard Kugel schildert, wie es zu seinem Burnout kam.

    "Ich war Führungskraft in einem mittelständischen Unternehmen, wir haben 2002 das Unternehmen aufgebaut. Die Umstände waren einfach die, dass man hoch motiviert war, diese Firma ans Laufen zu bekommen, Kunden zu gewinnen, Umsätze zu generieren. Es war eine hoch motivierte Situation, in der wir uns befunden haben."

    Sieghard Kugel konnte der Arbeit keine Grenze ziehen, konnte nicht mehr abschalten, auch nachts nicht.

    "Die Arbeit hat quasi das komplette Leben bestimmt, selbstbestimmt, durch mich gesteuert, natürlich auch beeinflusst durch eine Firmenkultur, die die Leistung und den Erfolg im Vordergrund sieht, aber das ist heutzutage nichts Ungewöhnliches."

    Über zwei Rehaaufenthalte und psychologische Betreuung sucht Sieghard Kugel einen Weg zurück ins Berufsleben. Seine Geschichte ist kein Einzelfall, sondern ein Beispiel für die Zunahme psychischer Belastung im modernen Arbeitsleben. Dazu Stephan Schlosser, er gehört dem Verband deutscher Betriebs- und Werksärzte an:

    "Wir haben mal eine Auswertung gemacht von 280 Untersuchungsanlässen in unserer offenen betriebsärztlichen Sprechstunde. Und da haben circa 60 Prozent der Patienten sich über körperliche Beschwerden geäußert. Da ist alles Mögliche drin, Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Magenprobleme oder auch Fragen zu Krankheiten, wo man eine zweite Meinung möchte und so weiter. Von 30 Prozent haben circa zehn Prozent sich mit körperlichen Beschwerden gemeldet, aber in einer Weise, dass der Arzt den starken Eindruck hat, dass eher eine seelische Problematik dahinter steht. Weitere zehn Prozent haben sich explizit mit seelischen Beschwerden angemeldet, dann haben wir noch ein paar kleinere Gruppen von Krankheiten."

    Zu den seelischen Beschwerden, die genannt werden, so Schlosser, gehören vor allem Schlaf- und Antriebsstörungen, Zweifel am Sinn der Arbeit und Konflikte am Arbeitsplatz. Achte auf Dich – lautet die Empfehlung des Betriebsarztes. Aber wie kann das gelingen in einer Arbeitswelt, die immer stärker von Leistungsverdichtung und Durchrationalisierung geprägt ist? Die kein Arbeitsende kennt, da der Feierabend nie wirklich erreicht wird, meint Robert Fischer, Betriebsratsvorsitzender bei Allianz in Stuttgart:

    "Durch die technischen Kommunikationsmittel ist man 24 Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche ständig erreichbar, sodass die Menschen abends, sonntags und feiertags oder auch im Urlaub oder im Krankenstand sich einloggen, über Laptop oder Black Berry oder Smartphones. Und dort ihrer Arbeit nachgehen und zwar nicht neben der Arbeit, sondern zusätzlich zu der Arbeit, die sie tagsüber geleistet haben."
    Dieser Erwartung kann sich der Einzelne gerade in Zeiten von befristeten Arbeitsplätzen und drohendem Personalabbau nicht so leicht entziehen. Es sei ein System ständiger Bewährung, das sich zu einer Unkultur permanenter Verfügbarkeit entwickle, erklärt Tobias Kämpf vom Münchener Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung. Manche versuchen bereits, gegenzusteuern. Die Sozialpfarrerin Esther Kuhn-Luz erzählt vom Umdenken einer Abteilungsleiterin in einem großen Unternehmen, die jahrelang sonntags durchgearbeitet hat:

    "Irgendwann hat sie gesagt, wenn ich jetzt nicht hiermit aufhöre, dann komme ich an Grenzen. Und in ein paar Monaten bin ich so krank, dann könnt ihr mich in der Klinik besuchen, dann bin ich fertig. Und dann hat sie den schönen Satz gesagt: 'Ich habe mir den Sonntag Schritt für Schritt zurückerobert. Ich habe dann angefangen, keine Mails mehr zu schreiben, geschweige denn zu verschicken.' Was war die Reaktion der Mitarbeitenden in ihrer Abteilung? - Die haben ihr das gedankt und haben gesagt: 'Ja toll, wenn Sie als Abteilungsleiterin uns keine Mails mehr schicken, dann brauchen wir auch nicht zu antworten.'"
    Die viel diskutierte Work-Life-Balance ergibt sich nicht von selbst. Sie ist eine Frage persönlicher, aber auch betrieblicher und sozialer Organisation. Sie ist auch eine Aufgabe für Gesellschaft und Politik, da das geltende Arbeitsrecht und die Mitbestimmungskonzepte noch am Betrieb als Wirtschaftseinheit ausgerichtet seien. Das aber treffe nicht mehr die Realität, erklärt Werner Wild von der Gewerkschaft ver.di:

    "Wir haben natürlich die Situation, dass über Unternehmensgrenzen hinweg Entscheidungen getroffen werden. Wir haben heute Warenwirtschaftssysteme, automatische Bestellwesen. Das heißt, irgendwo wird bestellt und in einer anderen Firma oder einem anderen Unternehmen wird dann die Produktion ausgelöst. Das heißt, es wird woanders entschieden, wann und wo die Menschen arbeiten."

    Werner Wild spricht von einer "Entortung" der Arbeit, dass also über Produktion, Personal und Arbeitszeit immer weniger im Betrieb selber entschieden wird, sondern in einer fernen Zentrale, die wie eine dunkle Schicksalsmacht ins Unternehmen eingreift. Der Mangel an Transparenz und Einbeziehung der Mitarbeiter drückt auf die Motivation, wirkt als psychischer Belastungsfaktor.

    Inzwischen haben auch die Unternehmen auf das Problem psychischer Beanspruchung am Arbeitsplatz mit den betriebswirtschaftlichen Verlusten aufgrund von Krankheit und Arbeitsausfall reagiert. 2009 hat der Sozialwissenschaftler Sascha Armutat von der Deutschen Gesellschaft für Personalführung eine Studie durchgeführt. Bei der Befragung der Personalmanager deutscher Unternehmen haben sich Risikogruppen in bestimmten Bereichen herauskristallisiert:

    "Im Bereich Marketing und Vertrieb, aber auch in der Produktion und in einer Abteilung, wie der Personalabteilung. Für uns war das der Hinweis darauf, dass es insbesondere um Tätigkeiten geht, die stark kundenorientiert sind, die Emotionsarbeit von den Mitarbeitern erfordern. Das scheinen die Bereiche zu sein, in denen häufiger Phänomene psychischer Beanspruchung mit den entsprechenden Konsequenzen auftreten."

    Gefährdet, so zeigt die Studie, sind also vor allem diejenigen, die in einer Sandwich-Position zwischen Geschäftsleitung und Mitarbeitern tätig sind. Männer wie Frauen tragen dabei ein gleich hohes Risiko. Armutats Studie mündet in einen Interventionsleitfaden für Führungskräfte, die dafür sensibilisiert werden sollen, frühzeitiger als bisher auf psychisch gefährdete Mitarbeiter zuzugehen.

    Aber woran merkt man, wie es um einen selber steht? Ein Patentrezept gebe es nicht, meint Sieghard Kugel als Betroffener:

    "Was ich aber jedem empfehlen würde: Wenn es beginnt, schwierig zu werden nachts zu schlafen, und wenn man Probleme nur nachts löst, eventuell sich zu überlegen, ob man nicht Dinge ändern kann und dann auch externe neutrale Hilfe in Anspruch zu nehmen."