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Stalins Rachefeldzug

Zwischen 1934 und 1938 ließ Josef Stalin einen großen Teil der alten Parteielite in der Sowjetunion aus ihren Positionen entfernen und ermorden. Heute vor 70 Jahren, am 19. August 1936, begann der erste politische Schauprozess. Die Verhandlung war eine Farce.

Von Klaus Kuntze | 19.08.2006
    Angeklagt war das Vereinigte Terroristenzentrum Sinowjew-Trotzkij, eine Gruppe von 16 Personen, alle waren überzeugte Funktionäre der Kommunistischen Partei, Grigorij Sinowjew und Lew Kamenew sogar engste Mitarbeiter Lenins gewesen. Sie gestanden vor Gericht offenkundig fadenscheinige Absichten und ersichtlich konstruierte Verschwörungen ein. Sie glaubten, dadurch ihrer Partei zu dienen, zum anderen war ihnen bis in die letzten Verhöre hinein zugesichert worden, nur durch ein Geständnis sei die fällige Todesstrafe abzuwenden.

    An diesem 19. August 1936 wird zur Mittagsstunde "Publikum" in den Oktobersaal des zentral in Moskau gelegenen Gewerkschaftshauses hereingelassen, handverlesen: privilegierte ausländische Diplomaten und Journalisten, in der Mehrzahl aber wohlpräparierte Mitarbeiter der Sicherheitsorgane. 12.10 Uhr wird das Verfahren eröffnet. Das zuständige Militärkollegium des Obersten Gerichts der Sowjetunion zieht ein, von Soldaten des Sicherheitsdienstes mit aufgepflanztem Bajonett werden die Angeklagten zu ihren Plätzen geführt.

    Ein Beobachter der Szene:

    "Sie hatten etwas zugenommen und auch in den letzten Tagen ein wenig mehr geschlafen. Dennoch sahen sie kreidebleich und erschöpft aus."

    Personalien. Ob sie Verteidiger beanspruchten? Nein! - Ob sie Einwendungen gegen das Gericht hätten? Abermals: nein! - Die Anklageschrift wird verlesen: Terroristische Verschwörung zur Beseitigung der obersten Partei- und Staatsspitze. Die Angeklagten erklären sich für schuldig.

    Der eigentliche Drahtzieher, Chef der alleinherrschenden Kommunistischen Partei, Josef Stalin, war bezeichnenderweise drei Tage vor Beginn des Prozesses in den Urlaub an Schwarze Meer gefahren. Stalin hatte mit taktischer Wendigkeit nach dem Tod seines Vorgängers, Lenin, seine persönliche Stellung in der Parteiführung ständig gefestigt. Selbst seinen schärfsten Gegner, Leo Trotzki, konnte er letztlich nicht nur aus der Partei ausschließen, sondern im Jahre 1928 sogar außer Landes weisen. Es gab fortan kein politisches Vergehen, das nicht mit Trotzki in Verbindung gebracht wurde. Unter Stalin des Trotzkismus bezichtigt zu werden, endete meistens tödlich für den Beschuldigten.

    Stalin hatte bereits rigoros die Kollektivierung der Landwirtschaft durchgesetzt, ebenso die Industrialisierung sowie die Fünfjahrplan-Wirtschaft. Seine Absichten reichten weiter. Begünstigt durch einen Kult, der an Vergöttlichung seiner Person grenzte, ging er daran, sich die Menschen für eine künftige Gesellschaft nach seinen Vorstellungen gefügig zu machen.
    "Die Aufgabe besteht darin, die Position des Sozialismus zu festigen, die kapitalistischen Elemente zu liquidieren, den Sieg des Sozialismus als einziges System unserer Gesellschaftsordnung zu vervollständigen."

    Für die Öffentlichkeit klangen diese Sätze Stalins wie die alltäglichen, abgedroschenen Parolen. Aus dem internen Führungskreis zitierte der bulgarische Kommunist Dimitroff einen Stalin, der recht unverblümt zur Sache kam:

    "Wir werden jeden der Feinde vernichten, sei er auch ein alter Bolschewik, wir werden seine Sippe, seine Familie komplett vernichten. Jeden, der mit Taten und Gedanken einen Anschlag auf die Einheit des sozialistischen Staates unternimmt, werden wir erbarmungslos vernichten."

    Hatte nicht Stalin persönlich die Ermordung des beliebten Leningrader Parteisekretärs Sergej Kirow im Dezember 1934 angezettelt? Der Fall schien zunächst mit der sofortigen Festnahme von Schuldigen und der schnellen Verurteilung sein Bewenden zu haben. Aber im März 1936 beauftragte Stalin überraschend Generalstaatsanwalt und Staatssicherheitschef, einen Prozess zu konstruieren, aus dem hervorgehen sollte, dass Leo Trotzki aus dem Exil ein Oppositionszentrum in der Sowjetunion aufgebaut habe. Diesem trotzkistischen Zentrum sollte unterstellt werden, bereits am Mord Kirows schuldig zu sein, und nun Anschläge auf das Leben Stalins und anderer höchster Parteifunktionäre geplant zu haben: Prompt konstruierte der Geheimdienst ein "Terroristenzentrum" und präparierte angebliche Stalingegner zu Verbrechern.

    Stalin will, kaum dass er der erpressten Geständnisse ganz sicher ist, einen Schauprozess, eine Machtdemonstration: Keiner soll mehr sicher sein, der sich ihm nicht fügt. Seine Rechnung geht auf.

    Im August 1936 beim ersten Schauprozess, bei den folgenden 1937 und 1938, läuft nur noch ein Mechanismus ab, bei dem zum Schluss stets Stalins willfähriger Staatsanwalt Andrej Wyschinski die eine Forderung stellte.

    "Die Verräter und Spione, die unsere Heimat verschachern wollten, müssen wie räudige Hunde erschossen werden."

    Die versprochene Gnade wurde nicht gewährt. Die Urteile, Tod durch Erschießen, wurden fast unmittelbar nach Verhängung vollzogen.