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Stand der Einheit
"Was verbindet uns denn noch?"

Der Historiker Justus H. Ulbricht wünscht sich mehr als 25 Jahre nach der Einheit ein Nachdenken darüber, welche Werte denn Standard sein sollten. Für ihn zählen die Freiheit des Einzelnen und das Erlauben von Abweichungen dazu. Deutschland brauche keine Leitkultur-Debatte, sondern eine "Gemeinwohl-Orientierungsdebatte".

Justus H. Ulbricht im Gespräch mit Daniel Heinrich | 01.10.2016
    Blick auf die Brühlsche Terrasse an der Elbe in Dresden am Abend mit der Kunstakademie, der Frauenkirche, der Sekundogenitur und der Kuppel vom Ständehaus.
    Blick auf die Brühlsche Terrasse an der Elbe in Dresden am Abend mit der Kunstakademie, der Frauenkirche, der Sekundogenitur und der Kuppel vom Ständehaus. (picture-alliance / dpa / Jens Kalaene)
    Ulbricht betonte, ihn interessiere die Unterscheidung West-Ost in Deutschland gar nicht. Ihn interessiere vielmehr, was für Positionen die Menschen verträten - und ob diese Haltungen kompatibel seien mit dem, was Standard sein sollte im Land.
    Sicherlich gebe es im Osten eine Erfahrung von Entwertung und Verlust, die aus den Neunziger Jahren stamme und nun immer wieder aktualisiert werde. Damals hätten viele Menschen ihre gewohnte Umgebung verloren und ihre Alltagsroutinen seien entwertet worden - bis hin zu dem Denken, dass alles, was die Menschen vor 1989 getan hätten, im Grunde nichts wert sei. 25 Jahre nach der Wiedervereinigung sei es nun an der Zeit, ganz ehrlich Bilanz zu ziehen: "Wenn man das nicht geklärt hat, kommt man schwerer in die Zukunft."
    Das Erlauben von Abweichungen
    Ulbricht äußerte sich auch zum Begriff der Leitkultur. Für ihn gehe es dabei um die Freiheit des Einzelnen und um das Erlauben von Abweichungen. Im demokratischen Gespräch, auch mit Zugereisten, müsse man darüber streiten, was uns verbinde. Er wünsche sich darum eine "Gemeinwohl-Orientierungsdebatte". Im übrigen sehe er nicht, dass CDU und CSU mit der neu aufgekommenen Leitkulturdebatte am rechten Rand fischen wollten. Sie glaubten wohl eher, dass das einfach ein Thema sei.
    Laut Ulbricht gibt es eine deutliche Verunsicherung im moralisch-ethischen Zusammenleben. Pegida etwa habe Dresden in bestimmten Bereichen gespalten. Und es tue den Leuten weh, wenn Freundeskreise und Vereine, Familien und Verwandtschaftsbeziehungen atmosphärisch darunter litten, dass man unterschiedlicher Meinung sei und sich deswegen auch angehe.

    Das Interview in voller Länge:
    Daniel Heinrich: Herr Ulbricht, Frauke Petry, Alexander Gauland, Björn Höcke, sie alle kommen aus dem Westen. Die CDU-Abgeordnete Bettina Kudla, das ist die mit dem Umvolkungs-Tweet, sie kommt auch aus dem Westen, sie kommt aus München. Ist Rechtspopulismus im Osten ein Westimport?
    "Rechtspopulismus ist ein europäisches Phänomen"
    Justus H. Ulbricht: Nein, Rechtspopulismus ist ein europäisches Phänomen, was sich je nach Gesellschaft und Nation anders buchstabiert. Das heißt, es gibt natürlich Rechtspopulisten im Osten, die eigentlich aus dem Westen kommen, aber es gibt auch einen Rechtspopulismus im Osten, und das ist unser gemeinsames Problem, egal ob Ost oder West. Es ist ein Teil unserer politischen Kultur geworden, populistisch zu sein, zu argumentieren, zu agitieren, und das ist die Herausforderung eigentlich für die demokratische Mehrheitsgesellschaft, sich dazu zu positionieren. Also mich persönlich interessiert die Herkunft West/Ost gar nicht, sondern ich frage mich, was vertritt jemand für Positionen und sind die kompatibel mit dem, was eigentlich bei uns in der Gesellschaft und in der sozialen Auffassung unserer Gesellschaft Standard sein sollte.
    "25 Jahre nach der Wende wirklich mal Bilanz ziehen"
    Heinrich: Warum meinen Sie, dass von Politikern aus Ostdeutschland dieser Satz gesagt wird, das ist ein Import aus dem Westen, warum kommt das überhaupt in die Debatte?
    Ulbricht: Im Osten gibt es Erfahrungen von Entwertung und Verlust in den 90er-Jahren, und die kommen jetzt wieder hoch, die werden immer wieder aktualisiert. Menschen haben in den 90er-Jahren ihre gewohnten Umgebungen verloren zum Teil, ihre Betriebsumgebungen, auch der Betrieb, den man nicht mochte, der war vertraut. Es wurden Alltagsroutinen entwertet, es wurde eben auch zum Teil gesagt, dass das, was die Menschen, die hier leben, vor 89 gemacht haben, eigentlich nichts wert gewesen wäre. Und das Fatale an dieser Sache ist, die ist ja nun eigentlich, könnte man sagen, 25 Jahre her – wir haben gerade Tag der Deutschen Einheit hier in Dresden in den nächsten Tagen –, das vergessen Familien nicht, das wird immer wieder rekapituliert und aufgewärmt.
    Und der Elitenwechsel – das hat ja auch die Forschung inzwischen erkannt –, der Elitenwechsel West und Ost, den hätte man in manchen Nuancen anders machen können, als man ihn gemacht hat. Das heißt, es gibt – ich sag’s mal in meinen Worten – ein Entwertungs- und Überfremdungsgefühl im Osten, was immer wieder bedient wird durch bestimmte Entwicklungen. Das rechtfertigt niemanden im Osten, populistisch zu werden oder andere Gruppen in der Gesellschaft abzuwerten oder abzulehnen, aber es ist erst mal präsent. Ich habe immer dafür plädiert, dass man jetzt mal, 25 Jahre nach der Wende, wirklich Bilanz zieht, und zwar ganz ehrlich, was ist das denn gewesen in den letzten 25 Jahren. Wenn man das nicht geklärt hat, kommt man schwerer in die Zukunft, glaube ich.
    "Was verbindet uns denn noch trotz aller Unterschiede?"
    Heinrich: Sie haben den Tag der Deutschen Einheit schon angesprochen, pünktlich dazu kommen die CDU aus Sachsen und die CSU aus Bayern, die fordern eine neue Debatte um Leitkultur. Kann das eigentlich sinnvoll sein, um Ost und West zusammenzubringen?
    Ulbricht: Das glaube ich nicht. Die Zuwanderungen, die Flucht, die bei uns angekommen ist in dem letzten Jahr – und die nächste wird kommen, das ist ja ziemlich klar angesichts der Weltlage, aus meiner Perspektive ist das klar –, kann uns dazu anregen, über Standards und Normen und Werte unserer Gesellschaft nachzudenken, von denen wir sagen, die stehen nicht zur Debatte. Das ist aber keine Leitkultur. Ein Teil unserer Leitkultur in der Bundesrepublik ist immer schon gewesen die Freiheit des Einzelnen, das Erlauben von Abweichungen, das ist auch ein Teil der Leitkultur gewesen.
    Entscheidend ist doch, wie verhandeln wir im demokratischen Gespräch mit anderen, mit Mitbürgern wie mit Zugereisten, welche Standards wir für wertvoll halten und wichtig. Dann kann man darüber streiten, in gutem Sinne, was uns verbindet. Also mir fehlt im Moment eigentlich: Ich würde gerne nicht eine Leitkulturdebatte führen, ich würde eine Gemeinwohl-Orientierungsdebatte führen: Was verbindet uns denn noch trotz aller Unterschiede? Haben wir noch gemeinsame Interessen im Sinne von emotional-moralisch-ethischen Standards, wo wir sagen, das könnte uns gemeinsam sein.
    Heinrich: Will man aus Ihrer Sicht da bei der Union wieder am rechten Rand fischen jetzt?
    "Pegida hat Dresden in bestimmten Bereichen sehr gespalten"
    Ulbricht: Das sehe ich nicht so. Ich hab ja nun relativ viele Asyldebatten moderiert, Bürgerversammlungen, ich hab für die CDU Regionalkonferenzen hier vor Ort moderiert, ich glaube nicht – also das ist meine Einschätzung, ganz persönlich –, dass es ums Fischen am rechten Rand geht.
    Heinrich: Warum macht man das dann?
    Ulbricht: Weil man glaubt, dass das ein Thema ist im Moment. Es gibt eine extreme – also in meiner Wahrnehmung – und eine ganz deutliche Verunsicherung im moralisch-ethischen Zusammenleben der Leute. Pegida hat Dresden in bestimmten Bereichen sehr gespalten, und das tut den Leuten weh. Wenn Freundeskreise und Vereine und Familien und Verwandtschaftsbeziehungen in Anführungsstrichen darunter leiden atmosphärisch, dass man unterschiedlicher Meinung ist und sich angeht in dieser unterschiedlichen Meinung, dann haben die Leute erst mal eine Sehnsucht, dass das sich ändert – dass man nicht einer Meinung ist am Ende, sondern dass man die anderen Meinungen aushält, und zwar so, dass man sich dennoch auf einer anderen Ebene schätzt.
    Es gebe bundesweit Rechtsradikalismus zwischen 12 und 15 Prozent
    Heinrich: Herr Ulbricht, Sie sprechen Pegida an, die haben in Dresden vor allem große Aufmärsche verursacht. Jetzt zu Beginn der Woche hat es in Dresden wieder Anschläge gegeben. Sie leben in der Stadt, wie empfinden Sie denn die Stimmung so kurz vorm Tag der Deutschen Einheit?
    Ulbricht: Die ist sehr unterschiedlich. Es gibt diese Anschläge, die viele Leute wirklich verunsichert haben, die den Leuten Angst gemacht haben, und gleichzeitig gibt es die Freude in Dresden darüber, dass dieses Jubiläum jetzt bei uns hier stattfindet in der Stadt – das ist auch eine Art der Anerkennung. Also mit anderen Worten, es ist eine sehr gemischte und ambivalente Stimmung, glaube ich, im Moment, aber klar ist, dass diese beiden Anschläge, die in Dresden jetzt stattgefunden haben, manchen oder vielen Leuten ganz konkret Angst gemacht haben, weil es vor der Haustür war.
    Heinrich: Diese Anschläge, die Sie gerade ansprechen, die gibt es nicht nur in Dresden, in Schleswig-Holstein, das erfahren wir, ist ein Bürgermeister, der bekannt ist für seine freundliche Haltung gegenüber Flüchtlingen, auch angegriffen worden. Gibt es eigentlich Dunkeldeutschland überall in Deutschland?
    Ulbricht: Es gibt, wenn man Forschungen glaubt, die das seit Jahren und Jahrzehnten verfolgen, es gibt einen Sockel von Rechtsradikalismus und von Fremdenfeindlichkeit, der ist zwischen 12 und 15 Prozent, und zwar überall in Deutschland.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.