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Standpunkt
Brauchtumsräuber Luther

So ganz falsch war die Ablass-Idee nicht, meint unser Autor. Der Kampf dagegen machte den Glauben kälter. Jetzt bibbert der Mensch vor Gott allein.

Von Michael Lösch | 27.04.2017
    Holzschnitt Martin Luthers von 1546, angefertigt vom deutschen Renaissance-Maler Lucas Cranach der Ältere.
    Holzschnitt Martin Luthers von 1546, angefertigt vom deutschen Renaissance-Maler Lucas Cranach der Ältere. (imago / United Archives International)
    Luther wird heiß diskutiert, aber Gläubige lässt er fröstelnd zurück. Theologisch und kirchenpolitisch mochte der Reformator Recht haben, als er den Ablass nicht mehr dulden wollte. Was sich die alte Kirche da an Geschmacklosigkeiten leistete, war eine unverständliche Geldbeschaffungspraxis, geführt von einem Marktschreier sondergleichen Namens Tetzel.
    Dass Luther, der Mönch, sich selbst mit großer innerer Teilnahme am Ablass beteiligt hatte, als er gute sechs Jahre zuvor in Rom gewesen, wollte er jetzt nicht mehr wissen. Damals war ihm der Ablass noch ein legitimes Mittel, Hilfe vor Gott zu erlangen. Damit, so glaubte er und alle anderen auch, könne man die Zeit des Fegefeuers verkürzen, nicht nur für sich, sondern auch für seine verstorbenen Verwandten. An sich so verkehrt nicht, denn das Prinzip des Ablasses war, gute Werke zur Bußentlastung zu tun.
    Klar, der Ablass sollte die großmannssüchtigen Bauvorhaben des Papstes und die bei den Fuggern aufgenommenen Schulden eines Erzbischofs finanzieren. Zu Recht rief Luther: Ablass ist Marktschreierei, Tetzel ist ein Betrugsbeauftragter...
    An sich aber war und ist der Ablass ein einleuchtender Wiedergutmachungsversuch für begangenes Unrecht, wurzelnd im germanischen Brauch des Wergeldes, demzufolge einer für am anderen begangenes Verbrechen zahlte, statt das vielleicht legitime Opfer eines Rächers zu werden, dem dann andere Racheakte folgen würden, eine endlose Spirale der Gewalt bei verfeindeten Familienclans wäre mithin die Folge. Der Ablass also als eine verchristlichte Form des Wergeldes.
    Ablass sollte, wenn es denn korrekt zuging, zum Beispiel finanzielle Hilfe für Arme, Kranke und für Klöster sein, die mit ihren Wirtschaftshöfen durchaus Nutzbringendes leisteten. Heute finden wir Ablass-Verwandtes bei kleineren Vergehen, die dann mit sozialen Diensten wiedergutgemacht werden können. Warum aber machte Luther keinen Unterschied zwischen einem sinnvollen Prinzip und dessen verkorkster Praxis? Weil auch ein guter Ablass nicht in der Schrift stand.
    Schutzheilige gegen Mobbing und Migräne? Fehlanzeige
    Und so beginnt das eingangs erwähnte Frösteln, die Entkleidung des christlichen Lebens, die den Menschen vor Gott alleine bibbern lässt. Keine Seitenaltäre in Kirchen mehr, keine Spezialisten für bestimmte Anliegen, keine Heilige Anna für Bergleute, kein Hl. Joseph für Zimmermänner, kein Hl. Christophorus für die Fährleute, kein Hl. Sebastian, dem ein Polizist danken könnte, weil er nach der letzten Demo mit einem blauen Auge davon gekommen ist, und kein Hl. Fiacrius für Droschken- und Taxifahrer, der auch gegen Hämorrhoiden ein gutes Wort einlegte. Die wärmende Vielfalt an Schutz- und Hilfszuständigen ist mit Luther verloren gegangen. Nur einige wenige sind geblieben. Und es mutet geradezu wie eine Sehnsucht nach Wiederinstandsetzung an, wenn der erwähnte Hl. Sebastian auch im evangelischen Namenkalender angeführt wird. Es ist bezeichnend, dass dieser kürzlich eingeführte Namenkalender unbeachtet bleibt. In unseren von rationalen Erwägungen gesteuerten Lebensführungen haben diese Mittler zwischen Erde und Himmel längst ausgedient, zweifellos eine oder genauer unsere innere Verarmung. Denn wäre es nicht schön, ja geradezu befreiend, wenn man als Gelehrter dem Hl. Hieronymus für die Fertigstellung seiner Dissertation eine einfache Danksagung zumurmeln könnte? Oder dem Heiligen Florian, wenn man einen Wohnungsbrand in letzter Minute löschen konnte, oder als Rockmusiker der Hl. Cäcilia für ein gelungenes Konzert?
    Der Reformator hat den Gläubigen auf ein Evangelium zurückbefohlen, das man vergeblich durchblättert, um etwa einen Schutzheiligen gegen Migräne, Mobbing oder andere neuzeitliche Marter zu finden. Schade drum, zumal auch die Katholiken immer seltener danach suchen.
    Michael Lösch ist DJ, Autor und Pfarrerssohn. Von ihm erschien zuletzt das Buch: "Wäre Luther nicht gewesen."