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Standpunkt
Wie Keyla das Christkind strickte

Weihnachten ist vorbei, aber das Staunen über so manches spirituelle Wunder hält an: Zum Beispiel darüber, dass Ingeborg als Keyla neugeboren wurden und lieber strickt als streitet.

Von Andreas Öhler | 27.12.2017
    Bunt bestrickt sind die Absperr-Blöcke am 18.08.2013 vor dem Reichstagsgebäude in Berlin. Als Strick-Graffiti sind die farbenfrohen Überzieher auf kleinen angehängten Schildern bezeichnet.
    Frauen, die ihre Ambitionen aufs Ambiente verlegen, sind die sanfte Speerspitze einer neuen Rückwärtsbewegung, meint Andreas Öhler. (dpa / picture alliance / Stephanie Pilick)
    Vor drei Dekaden hielt Keyla noch Bakunin für bestrickend. Vor einigen Tagen hat sie das Foto eines selbstgestrickten Jesuskindes an ihre Freunde von früher geschickt. Ich kenne Keyla von der Uni. Damals hieße sie noch Ingeborg und galt in unseren Derrida-Seminaren der 80er-Jahre als Meisterin der Dekonstruktion. Damit ist nicht der fachgerechte Abbau eines IKEA-Regals gemeint, sondern die Kunst der Dechiffrierung von Zeichen. Adornos Diktum, wonach es kein richtiges Leben im Falschen geben kann, ist ihr mittlerweile egal geworden. Keyla hat beschlossen, es sich im falschen Leben richtig nett zu machen.
    Die tapfere Veteranin im Theoriekrieg gegen die herrschende Ordnung hat inzwischen Destruktion durch Dekoration ersetzt. Sie errichtet um sich herum einen flauschigen Kosmos mit netten Menschen und adrettem Outfit. Ihre Wohlfühlumgebung bastelt sie in Kreativworkshops. Seminare zur repressiven Toleranz der Mächtigen - das war gestern.
    Frauen, die ihre Ambitionen aufs Ambiente verlegen, sind die sanfte Speerspitze einer neuen Rückwärtsbewegung. Zugegeben: Schon bei den Barrikadenkämpfen während der Hausbesetzerjahre hat sich die einstige Ingeborg heimlich die "Brigitte" gekauft, um als "Krawall-Barbie" ein bisschen Farbinspiration für ihr dröges Revolutionskostüm zu erhalten. Dass sie aber nun über ästhetisch verästelte Umwege wieder zum heimischen Induktionsherd zurückfand, liegt an Frauenjournalen wie "Flow", "Snow", "Happinez" und "Emotion. Die raten ihren Kundinnen "runter zu kommen" statt irgendeine Karriereleiter hochzusteigen. Wer Sandplätzchen mit Amaretto für sich und seine Lieben backt, streut keinen Sand ins Getriebe der Männerwelt.
    Voll eingespannt im Entspannungsmodus
    Die Journalistin Silke Burmester zieht die Dekonstruktion der Verhältnisse der Dekoration offenbar vor. In einem Artikel in der "Süddeutschen Zeitung" entlarvte sie kürzlich "Die Mär vom einfachen Leben" als neue Finte des Kapitalismus. Weibliche Mitbewerber würden kaltgestellt, indem man sie in die Domäne wärmelnder Häuslichkeit zurückpfeift, nur mit etwas lyrischeren Flötentönen als früher. Ständige Kreativitätsmanöver auf Nebenkriegsschauplätzen sollen sie dauerbeschäftigen. "Das einfache Leben" ist das Zauberwort in einem sinnsuchenden Luxusmilieu, das asketische Schlichtheit als Lebensprinzip beschwört.
    Kaufen war gestern: Die aufwendige Herstellung von Pralinen war die Vollbeschäftigung der letzten Jahre. Nun erlangt Keyla den Zustand, seelisch aufgeräumt zu sein, indem sie sich ihres Konsumplunders mit buddhistischer Gelassenheit entledigt. Keyla ist voll eingespannt in ihren Entspannungsmodus. Sie eilt von einer spirituellen Übung zur nächsten, kocht Rezepte nach mit schwer zu beschaffenden Zutaten und verknotet den Körper zu komplizierten Figuren mit noch komplizierteren Namen. Dass sie sich mit dieser häuslichen Selbstentfaltung einen Platzverweis aus dem öffentlichen Leben eingehandelt hat, lächelt sie weg. Draußen so heißt es doch, gibt es nur die Wahl zwischen Prekariat oder Burnout. Die Wahl zwischen Haifischbecken und Wohlfühlbad hat Keyla für sich entschieden. Ja, Religion ist wirklich Privatsache.