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Stanislaw Tillich (CDU)
"Nicht allein den Weg über die Mitte gehen"

Die AfD hat die Union in Sachsen überholt. Der Weg über die Mitte allein werde nicht reichen, um diese Stimmen zurückzugewinnen, sagte Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich im Dlf. Die Union müsse sich nun sachbezogen den tatsächlichen Problemen zuwenden - und das sei für viele Sachsen nicht zuerst die Ehe für alle.

Stanislaw Tillich im Gespräch mit Stephan Detjen | 01.10.2017
    Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) in Berlin während einer gemeinsamen Pressekonferenz von Bundeswirtschaftsministerium und Robert Bosch GmbH.
    Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU): "Es sind andere Probleme als die Ehe für alle, die die Menschen substantiieren." (dpa / Monika Skolimowska)
    Stephan Detjen: Herr Ministerpräsident, wir zeichnen dieses Interview am Freitag schon, um 16 Uhr, in Ihrer Staatskanzlei in Dresden auf. Der Tag war turbulent für Sie. Am Vormittag kam die Nachricht, dass Ihre Kultusministerin – Brunhild Kurth –, zurückgetreten ist. Es wurden persönliche Gründe genannt. Aber auch die Schulpolitik wurde ja schon vor der Wahl für das dann am Ende ja auch verheerende Abschneiden für Ihre Partei, die CDU, in Sachsen verantwortlich gemacht. Werden wir jetzt, wenn dieses Interview am Sonntag um 11.30 Uhr im Deutschlandfunk ausgestrahlt wird, schon weitere personelle Konsequenzen zu vermelden haben?
    Stanislaw Tillich: Gehe ich davon aus: Nein. Und Frau Kurth hat tatsächlich persönliche Gründe. Und ein Rücktritt ist immer nicht zum richtigen Zeitpunkt. Ich habe mich darum bemüht, sie noch für einige Tage zu begeistern, um einen geordneten Übergang zu ermöglichen, aber Sie hat sich für diesen Weg entschieden.
    Detjen: Das heißt, weil ja jetzt schon gesagt wird, es könne eine größere Kabinettsumbildung kommen – auch der Innenminister steht massiv in der Kritik –, aber das schließen Sie jetzt hiermit aus jetzt?
    Tillich: Sie haben mich ja gefragt, ob Sie bis Sonntag um 11.30 Uhr irgendwelche weiteren personellen ...
    Detjen: Gut, dann schauen wir mal etwas weiter in die Zukunft: Nächste Woche.
    Tillich: Ich habe Ihnen meine Antwort auf Ihre Frage – die erste – gegeben.
    Detjen: Nach diesem Bundestagswahlergebnis geht es jetzt darum für Sie persönlich, Ihre schwer angeschlagene Partei für die nächste Landtagswahl aufzustellen. Diese Aufstellung muss dann jedenfalls im Jahr 2018 kommen – 2019 ist Landtagswahl. Sie haben gesagt, Sie hätten Lust, noch mal anzutreten. Und wenn ich das jetzt aus der Beobachterperspektive einmal so beschreiben darf: Sie sind der Typus des moderaten, unangefochten persönlich integren, aber in Temperament und auch Politik gemäßigten Landesvaters. Die Frage ist, ob Sie damit noch der Richtige sind, um wieder erfolgreich im Kampf gegen die AfD zu sein, die zur stärksten Kraft im Land geworden ist. Fragen Sie sich auch manchmal, ob in dieser Lage nicht ein anderer Politikertypus der Richtige wäre an der Spitze? Einer der offensiver, entschlossener, vielleicht auch aggressiver wirkt?
    Tillich: Ich meine nicht, dass die AfD dadurch in Deutschland oder auch in Sachsen ein solches Wahlergebnis eingefahren hat, weil es an einem aggressiven und entschlossenen Politiker gefehlt hat, sondern dafür sind mit Sicherheit andere Gründe eher zutreffend. Wir haben eine durchaus deutliche Kritik deutschlandweit wahrnehmen können an der Art und Weise und auch an der Umsetzung der Flüchtlingspolitik. Wir haben sicherlich in Sachsen eigene Probleme, die dazu massiv auch beigetragen haben, dass die Menschen in diesem Lande noch stärker AfD gewählt haben als in allen anderen Bundesländern. Aber ich meine, das ist eine Analyse, die wir noch natürlich in den nächsten Tagen und Stunden auch werden weiter vertiefen müssen.
    Detjen: Aber um das nochmal deutlich zu machen, worum es geht: Wenn es bei den Mehrheitsverhältnissen bleibt, so wie sie jetzt nach der Bundestagswahl sind, wenn Sie ein solches Ergebnis bei der Landtagswahl hätten, dann stünden Sie jetzt vor der Frage, ob Sie als Juniorpartner unter der AfD in die Regierung gehen wollen oder ein Bündnis mit der SPD und den Linken schließen. Andere Optionen gibt es nach den Mehrheitsverhältnissen, so wie sie jetzt sind, nicht. Jetzt werden Sie sagen: 'Also, das werden wir ändern bis zur Landtagswahl.' Aber nochmal, Sie sagen damit, Sie sind der, der Ihrer Partei jetzt auch im Deutschlandfunk sagt: 'Ich bin der, der euch dahin führt und in diese alte Stärke zurückführt.'
    Tillich: Gehen Sie mal davon aus, dass die sächsische Union das Ziel hat, 2019 für sich erfolgreich die Wahl auch zu gestalten. Und ich habe am Montag dieser Woche nach der Landesvorstandssitzung angekündigt, dass wir jetzt erst mal eine inhaltliche Debatte führen wollen, was wir falsch gemacht haben. Aus den Inhalten ergeben sich dann letztendlich auch die Zielstellungen, mit welchen Personen man das umsetzen wird wollen und wird können. Und darüber wird dann auch zu sprechen sein. Und alles andere werde ich Ihnen heute auch noch nicht verraten.
    Detjen: Am Montag haben Sie der Sächsischen Zeitung auch ein Interview gegeben. Da gab es eine Szene, die ich bemerkenswert fand, die Sie schildern. Sie wurden gefragt, was Sie am Wahlabend gedacht und getan haben, als sich abzeichnete, dass die AfD die stärkste Kraft vor der CDU in Sachsen werden würde. Und Sie schildern, dass Sie einen Bürgermeister angerufen haben und ihn gefragt haben, ob er sich das erklären kann. Und Sie gestehen dann zu: Sowohl der Bürgermeister, der Parteifreund, den Sie anriefen, als auch Sie seien ratlos gewesen. Sind es nicht solche Szenen, die dann auch mit dazu beitragen, dass es Leute gibt, die sagen 'Der Ministerpräsident weiß keinen Rat auf die entscheidenden Fragen des Landes, er kennt sein eigenes Land nicht'?
    "Gleiche Frage muss man sich auch in Baden-Württemberg stellen"
    Tillich: Das ist ein Vorwurf, der natürlich ein harter ist. Aber wenn – und das ist auch in dem Interview gesagt worden – es eine Gemeinde ist, die zu den wirtschaftlich erfolgreichsten, nämlich zu den finanziell stärksten Gemeinden gehört, die eine Fast-Null-Arbeitslosigkeit hat und trotzdem ein AfD-Ergebnis hat, welches mir schon Fragen aufwirft und da stellt man sich schon die Frage: Was ist jetzt eigentlich der Hintergrund? Aber die gleiche Frage muss man sich auch in Baden-Württemberg stellen. Das ist aus sächsischen Verhältnissen gesehen das Paradies auf Erden, das ist das Musterländle in Deutschland – nichtsdestotrotz ist dort ein Landtagsabgeordneter der AfD gewählt worden und die AfD hat zum zweiten Mal 15 Prozent bekommen in Baden-Württemberg. Also es scheint schon andere Gründe für die Wahl der AfD zu geben.
    Detjen: Ja. Reden wir nochmal über Sachsen und über einen Ministerpräsidenten, der zunächst sagt: 'Ich bin ratlos'. Es gab ja viele Erklärungen auch vorher schon. Im letzten Jahr hat ihre Landesregierung – auch intern nicht ganz unumstritten, manche mussten erstmal dazu getragen werden – einen sogenannten "Sachsenmonitor" veröffentlicht, eine Studie über Stimmungen im Lande.
    Tillich: Ja, das ist aber falsch. Wir haben das im Koalitionsvertrag vereinbart und haben den auch umgesetzt. Also, das ist alles richtig gelaufen. Es ist nun auch in diesem Falle eine Ausschreibung zu machen und dann ein Partner auszuwählen und das hat letztendlich stattgefunden.
    Detjen: Aber gehen wir auf das Ergebnis. Es ist eine Studie gewesen, die in erschreckendem Maße harte – man kann das nicht anders nennen – rechtsextreme, nationalistische Einstellungen gemessen hat. Fast 60 Prozent aller Sachsen finden, Deutschland sei in gefährlichem Maße überfremdet. 62 Prozent meinten, Deutschland brauche eine starke Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert. 18 Prozent meinen, die Deutschen seien anderen Völkern von Natur aus überlegen. Das sind ja Zahlen, die erklären, dass eine Partei, die genau diese Bedürfnisse punktgenau erfüllt, hohe Prozentzahlen erreicht.
    Tillich: Ja, aber nochmals: Die AfD hat deutschlandweit sechs Millionen Wähler. Also, das ist nicht in Sachsen passiert, sondern deutschlandweit passiert, was passierte. Zum Zweiten, dass die Menschen, die hier quasi sich Sorgen darüber machen, nachdem sie 27 Jahre permanente Veränderungen haben, immer wieder auch meistern müssen, Angst haben vor dem, was jetzt auf sie zukommt, dass sie auch sich die Frage stellen 'Wieso wurde uns in den letzten Jahren immer und immer wieder erklärt: Für die Straße oder für das Projekt gibt es kein Geld'. Wenn aber es Not tut – und das ist natürlich ein Selbstverständnis gewesen, sowohl der sächsischen Gemeinden als auch des Freistaates –, dass wenn Flüchtlinge kommen, dass sie untergebracht werden, dass sie auch versorgt werden und dass die Integration gewährleistet wird, dann sagen uns die Bürger 'Dafür ist Geld da, wieso kommt das zusammen oder wie kommt das zusammen?'.
    Und diese Unzufriedenheit, die hat noch tiefere Gründe. Wenn es so ist, dass die Menschen gegenwärtig ein Einkommen haben, das deutlich niedriger ist als im Westen Deutschlands – nach wie vor, im 27. Jahr der Einheit –, wenn sie aber dann urplötzlich ihren Rentenbescheid bekommen, der also ein Minimum an Rente ihnen in Aussicht stellt und gleichzeitig lesen, dass die Bertelsmann Stiftung in einer Studie herausarbeitet, ab wann man im Prinzip unter der Armutsgrenze lebt, dann führt das nicht zu Zufriedenheit. Und deswegen sind natürlich die wirtschaftlichen Daten das Eine und das Andere ist das Gefühl der Menschen, das sind die Emotionen. Und wenn Sie es so wollen, dann haben wir nicht mit einer solchen emotionalen Entscheidung, wie sie sie am Wahlsonntag die Menschen getroffen haben, gerechnet. Weil wir uns eigentlich versprochen hatten, dass die wirtschaftlichen Daten durchaus mehr Zuversicht versprühen.
    Detjen: Aber es geht in der Tat um Emotionen. Und es ist ja jetzt nicht das erste Mal, dass Sie, dass die Regierung, besonders Ihre Partei sich gegen den Vorwurf verteidigen muss, dass man die Dimension dieser Emotionen, dieser extremistischen, rassistischen Dimensionen unterschätzt, auch kleingeredet hat. Die Integrationsministerin Ihres Landes, Petra Köpping von der SPD, bekam von Ihrem Generalsekretär Kretschmer zu hören, sie verbreite negative Stimmung, wenn sie auf solche Probleme hinweist. Die Ostbeauftragte der Bundesregierung, Iris Gleicke, bekam von Kretschmer zu hören, man müsse es sich nicht gefallen lassen, dass Menschen, die über Patriotismus und Leitkultur sprechen, Nähe zu rechtem Gedankengut unterstellt werden. Darum ging es ja nicht, es ging um extremistische Einstellungen.
    Tillich: Ja, das wäre ja gleichzusetzen mit der Behauptung, dass alle AfD-Wähler, selbst die von den Linken, von den Grünen, von der FDP und von der CDU, die jetzt AfD gewählt haben, rechtsextremistisches Gedankengut vertreten. Und das lehne ich ab.
    Detjen: Ist diese Bundestagswahl – besonders in der Endphase – eine Abstimmung über Angela Merkels Flüchtlingspolitik geworden?
    "Wunsch, dass Deutschland Deutschland bleiben möge"
    Tillich: Sie ist mit Sicherheit in der Endphase, nach dem TV-Duell, nochmals deutlich gekippt. Und die Union hatte zumindest keine inhaltlichen Punkte, die die Wähler davon überzeugt hätten, in den letzten 14 Tagen sich deutlich zur CDU zu bekennen. Und danach muss man feststellen, dass zumindest das, was die Menschen scheinbar zu sechsmillionenfach in Deutschland bewegt hat, nicht ganz unabhängig, sondern schon in der direkten Abhängigkeit auch stand zu dem, was ich vorhin sagte, zur Art und Weise der Flüchtlingspolitik und wo sich viele Menschen darüber Sorgen machen, was das für Deutschland bedeutet. Und ich verspüre zumindest stark dann den Wunsch, dass Deutschland Deutschland bleiben möge, dass es eben nicht – ich sage jetzt mal – zu den Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Ethnien in diesem Lande kommt und nicht zu Stellvertreterauseinandersetzungen, die in den Heimatregionen auch zu kriegerischen oder bürgerkriegerischen Auseinandersetzungen geführt haben.
    Detjen: Ist das Ihre Sorge?
    Tillich: Das ist die Realität. Wenn das in Dresden so ...
    Detjen: Die Sorge, dass Bürgerkriege nach Deutschland getragen werden könnten?
    Tillich: Nein. Ich habe gesagt, in diesen Ländern sind Konflikte zwischen den Ethnien bürgerkriegsähnlich. Und diese Konflikte setzen sich hier zum Beispiel zwischen Libyern und Libyern und Tunesiern und Tunesiern weiter auseinander. Und ich meine, wir wissen, dass in Deutschland es natürlich auch innerhalb der türkischen Kommunität nicht eine einheitliche türkische Kommunität gibt. Und ich glaube, das sind die Konflikte, die natürlich auch entweder da sind und man nimmt sie wahr oder man negiert sie. Und ich glaube, dass man sie nicht wegreden kann.
    Detjen: Welche Antworten geben Sie in dieser Situation? Sie selber gehören einer Minderheit an, der Sorben.
    Tillich: Ja, das ist eine Frage des Dialoges auch, den man dann auch führen muss zwischen diesen, ich sage jetzt mal, Bevölkerungsgruppen. Das heißt also zwischen der Mehrheitsbevölkerung und auch denjenigen, die also quasi entweder in der Minderheit sind oder die sich gegenwärtig in der Minderheit befinden. Das haben ja auch die Innenminister der Bundesrepublik Deutschland durch die Integrationskonferenzen auch immer auch durchgeführt. Nur stellen wir halt fest – und das ist ja die Tatsache –, dass wir heute eine Entwicklung auch in verschiedenen Regionen Deutschlands haben, übrigens, nicht nur in Form von ausländischen Kommunitäten, sondern wir haben ja zur Zeit auch zu vergegenwärtigen, dass es bestimmte Stadtteile gibt, wo, wenn ein Polizeirevier eröffnet wird, sich linksextremistische Gruppen nicht nur massiv dagegen wenden, sondern diese Polizeistationen angreifen. Weil sie es nicht akzeptieren wollen, dass der Staat für sich in Anspruch nimmt, dass er ja für Recht und Ordnung in allen Teilen der Bundesrepublik oder auch in allen Teilen einer Kommune sorgen will und Verantwortung übernehmen will.
    Detjen: Haben diejenigen, die nicht nur auf den Marktplätzen in so besonders erschreckender hasserfüllter Form Angela Merkel angegriffen haben, sondern die in dem Wahlkampf doch die Entscheidungen des Sommers, die Politik des Sommers 2015 für Sie zum entscheidenden Kriterium gemacht haben, haben die damit nicht auch eine wunde Stelle in Ihrer eigenen Partei getroffen? Ihr Kollege aus Schleswig-Holstein, der neue schleswig-holsteinische Ministerpräsident, Daniel Günther, hat in dieser Woche im Deutschlandfunk darauf aufmerksam gemacht, dass interessanterweise die Landesverbände der CDU, die sich eindeutiger als etwa besonders die CSU, aber auch der sächsische Landesverband hinter die Politik der Kanzlerin gestellt haben, dass die besser abgeschnitten haben, als etwa der sächsische Landesverband oder die CSU.
    "Wähler der verschiedensten Parteien zur AfD gewechselt"
    Tillich: Ja, also ich meine, dass es richtig ist, sich natürlich die Frage nach den Gründen zu stellen. Und es ist legitim, dass eine Diskussion auch in der Union darüber stattfindet, was sind nämlich die wirklichen Gründe. Ich stelle mir aber umgekehrt auch die Frage: Warum haben im Prinzip die Landesverbände in Baden-Württemberg, in Bayern und in Sachsen so starke Verluste eingefahren? Ist es nicht vielleicht etwas, dass wir – Mitte-Rechts – im Prinzip Positionen nicht mehr besetzen, die dazu geführt haben, dass sich da eine Partei jetzt quasi auf dieser Seite tummelt, die uns letztendlich eine Vielzahl der Zustimmung entzogen hat. Und ich sagte vorhin gerade, es sind viele Wähler aus den verschiedensten Parteien zur AfD gewechselt. Und um diese Wähler, darum wird sich auch die Union kümmern müssen. Sie wird nicht im Prinzip allein den Weg über die Mitte gehen können.
    Detjen: Welche Positionen könnten das sein? Sie haben in dem Interview mit der Sächsischen Zeitung, das ich am Anfang erwähnt habe, als Beispiel gesagt, es sei über bestimmte Themen zu viel geredet worden und haben als Beispiel die Entscheidung "Ehe für alle" genannt. Erklären Sie mir das. Denn das war ja gerade in der Politik der Bundeskanzlerin, eine Entscheidung der Kanzlerin, diese Abstimmung vor dem Sommer zu ermöglichen, die dafür sorgen sollte und gesorgt hat, dass das kein großes Wahlkampfthema wurde, also dass nicht darüber gesprochen wurde.
    Tillich: Wissen Sie, als ich junger Abgeordneter im Europäischen Parlament war, da hat es mich mal gerappelt. Da ist im Deutschen Bundestag entschieden worden, dass man … also, die Familiennamen, also, dass man einen doppelten Familiennamen führen kann. Zum gleichen Zeitpunkt hatte man in Sachsen 27 Prozent Arbeitslosigkeit. Und da habe ich damals also einer Kollegin aus dem Europäischen Parlament, die aus dem Westen Deutschlands kam, gesagt: 'Das ist nicht das Problem, was wir haben, dass man jetzt einen Doppelnamen führen kann, sondern wir haben 27 Prozent Arbeitslosigkeit.' Und nach den Fragen, die ich gerade habe beantworten dürfen, habe ich immer noch den Eindruck, dass es viel Missverständnis zwischen dem Osten und zwischen dem Westen gibt. Es gibt eine Vorverurteilung des Ostens. Es gibt eine direkte Stigmatisierung. Das machen ja bestimmte Medien, die Sachsen als "braunen Fleck" in seiner Gänze darstellen oder die eben den Sachsen unterstellen, dass sie rechtsextremistisch wählen würden. Also, wir haben Umfragen zum Anlass genommen. Es gibt auch andere Umfragen, die etwas ganz anderes auch deutlich sagen.
    Detjen: Aber jetzt haben wir ein Wahlergebnis.
    Tillich: Ja – ja, ein Wahlergebnis mit 29 Prozent. Damit heißt es aber durchaus, dass nicht alle 29 Prozent – A – die Inhalte der AfD vertreten, denn Sie selbst – die Medien – haben ja nachgefragt und haben festgestellt, dass 60 bis 70 Prozent dieser Wähler gesagt haben 'Wir haben protestgewählt'. Also, von daher muss man immer noch auch, glaube ich, das nochmals auch in die Wertung mit einbeziehen.
    Detjen: Bleiben wir noch mal bei den Themen. Und ich habe immer noch nicht ganz verstanden, was für Sie die Alternative gewesen wäre. Beispiel "Ehe für alle". Wäre es Ihnen lieber gewesen, die CDU wäre in der Lage gewesen … sie wäre wahrscheinlich, weil sie in sich gespalten war, gar nicht in der Lage gewesen, das zum offensiven Wahlkampfthema zu machen.
    "Es sind andere Probleme als die Ehe für alle"
    Tillich: Ich habe das Beispiel deswegen angeführt, weil es, glaube ich, eine starke gesellschaftliche Gruppe gibt, die täglich im Prinzip nicht nur zur Arbeit geht, sondern versucht, also seinen eigenen Wohlstand und den Wohlstand des Landes zu mehren, die eine Diskussion kennen über den Mittelstandsbauch, die eine Diskussion kennen über die Höhe der Gehälter, die eine Diskussion kennen über die, ja, ich sage jetzt mal, die Situation bei den Sparkonten, dass da nicht das Geld vermehrt wird und die natürlich auch wissen, dass ihre Versicherungsverträge, die sie in der Vergangenheit geschlossen haben als Handwerksmeister wahrscheinlich nicht dazu reichen werden, um im Lebensalter ein auskömmliches Dasein zu führen. Das sind die Themen, die die Menschen zurzeit bewegen, auch in diesem Land. Und es hat viele Berater gegeben, Steuerberater, die hierhergekommen sind, die Ärzten empfohlen haben 'Baut euch eine teure Arztpraxis'. Die werden sie heute nicht los, weil es keine Nachfolger gibt. Hier gibt es nicht die Privatpatienten wie am Starnberger See oder in Stuttgart, sondern hier gibt es AOK. Die AOK hat ja den Marktanteil, zusammen mit der IKK von weit über 70 Prozent. Das ist die Realität.
    Detjen: Ja. Ich will aber trotzdem noch mal nachfragen.
    Tillich: Nein, ich habe Ihnen die Antwort darauf gegeben. Es sind andere Probleme als die Ehe für alle, die die Menschen substantiieren.
    Detjen: Genau. Und dieses Thema wurde nicht zum Wahlkampfthema gemacht. Und meine Frage ist, ob es für die CDU aus Ihrer Sicht erfolgversprechender gewesen wäre, dieses Thema zum Wahlkampfthema zu machen im Sinne einer konsequenten, konservativen Argumentation gegen die Gleichstellung von Homosexuellen im Eherecht.
    Tillich: Also, Sie haben also immer noch nicht verstanden, worauf ich hinauswill. Es hat doch nicht das Aufwiegen miteinander etwas zu tun. Das ist absoluter Unsinn.
    Detjen: Nein, mir … mir geht es um das Argument: Muss die CDU stärker konservative Positionen offensiv …
    Tillich: Ja, klar.
    Detjen: … besetzen, die sie nicht besetzen kann. Und damit stellt sich die Frage: Hätte die CDU sich entscheiden sollen, was sie aber nicht konnte, etwa einen offensiven Wahlkampf gegen die Ehe für alle zu führen? Wir können auch anders, wir können das auch anders fragen …
    Tillich: Ja, also ich verstehe Ihre Frage … entweder verstehe ich Ihre Frage nicht. Ich habe sie jetzt gerade … habe noch einmal dazwischengeworfen. Es geht nicht um das Aufwiegen von dem. Ich habe gesagt: Dieses Thema war nicht das wichtigste. Das war für die Gruppe derjenigen, die es betrifft, sicherlich wichtig. Aber es gibt eine deutlich größere Gruppe, die ganz andere Sorgen haben als "Ehe für alle". Sondern die treibt im Prinzip das um: Wie gestalte ich meine Gegenwart? Und wie gestalte ich meine Zukunft? Wo die Menschen in der Lausitz sagen: ‚Ja, wir machen uns Sorgen, wie geht es mit uns weiter? Die jungen Leute sind schon weggegangen. Jetzt merken wir, dass unsere Rente nicht mehr diejenige ist. Wir haben jetzt unseren Rentenbescheid bekommen. Wir sehen, dass wir nicht mehr im Prinzip … also selbst wir müssen zum ersten Mal, nachdem wir 27 Jahre nach der Wiedervereinigung fleißig gearbeitet, gesteuert haben, müssen wir jetzt zum Sozialamt gehen, weil die Rente nicht mehr reicht.' Und das sind die Themen, die die Menschen bewegt. Und darauf haben wir bisher nicht im Wahlkampf …
    Detjen: Wenn ich den Wahlkampf richtig beobachtet habe – nicht nur den Ihrer Partei, wir können auch den Wahlkampf von Martin Schulz von der SPD zum Beispiel nehmen – ist es ja ein Versuch gewesen, solche Themen sehr stark zu besetzen. Die SPD hat explizit einen Wahlkampf unter dem Thema "Soziale Gerechtigkeit" geführt und ist auch furchtbar erfolglos gewesen damit. Jetzt kommt die CSU, Ihr Ministerpräsidentenkollege aus Bayern, und sagt: 'Die Union muss die rechte Flanke schließen.' Wie tut man das?
    Tillich: Ja, indem …
    Detjen: Und er sagt dazu: 'Ohne nach rechts zu rutschen.'
    Tillich: Indem man dafür Sorge trägt, dass also Recht und Ordnung Recht und Ordnung bleiben und sind. Indem man sich auch dafür einsetzt, dass es einen starken Staat gibt, der eben auch solche Entwicklungen unterbindet, wie ich sie vorhin beschrieb. Wenn es eben, ich sage jetzt mal, wirklich Menschen gibt, die für sich in Anspruch nehmen, dass die Polizei da nichts zu sagen hat, dass schon also auch der Staat sich dieses Recht nicht nehmen lässt. Und als Letztes natürlich auch solche Themen, die schon etwas damit zu tun haben. Wir haben zum Beispiel eine Diskussion gehabt über das Betreuungsgeld. Das ist jetzt unlängst wieder von einem Medium als "Herdprämie" bezeichnet worden. Es gibt Menschen in diesem Lande, die sich dafür entschieden haben, ihre Kinder selbst zu erziehen, dass sie sich nicht dem staatlichen Betreuungssystem anvertrauen. Spart dem Staat in gewissem Sinne sogar Geld. Dass sie dafür eine gewisse Anerkennung bekommen sollten, das ist jetzt durch ein Bundesverfassungsgerichtsurteil anders entschieden worden. Aber dann ist das Thema zumindest auch in der richterlichen Entscheidung so entschieden. Aber vorher hat man diese Menschen und dieses Thema als "Herdprämie" verschrien. Und da haben sich viele Menschen, die diese Kinder erzogen haben, verunglimpft gefühlt. Und das ist etwas, was ich auch als einen Teil des konservativen Menschenbildes betrachte, dass jeder sein Recht haben muss. Und das ist erst recht für mich als ehemaligen Ostdeutschen: Jeder soll im Prinzip die Möglichkeit haben, sich frei zu entfalten, solange er auf der freiheitlich-demokratischen Grundordnung basierend dieses tut.
    Detjen: Also, das war jetzt ein Thema aus der Lebenswelt. Die CSU schickt sich an, jetzt wieder das Thema Obergrenze zum entscheidenden Thema zu machen, auch für die Koalitionsverhandlungen. Nervt Sie das eigentlich, dass das Thema jetzt wiederkommt? Ist das auch so ein Thema für Sie, wo Sie sagen würden 'Das geht an den eigentlichen Problemen vorbei?' - oder wäre das ein Symbol, das unzufriedene, abgewanderte Wähler zurückholen könnte?
    Besser, Quellen von Flüchtlingsströmen zu unterbinden
    Tillich: Dass wir in der Flüchtlingspolitik was machen müssen, hat ja das Wahlergebnis eindeutig bewiesen. Und wir müssen eine Diskussion führen, die weniger wahlkampfgetrieben ist, die sich sachbezogen letztendlich auch den tatsächlichen Problemen zuwendet. Wir müssen endlich im Prinzip die Entwicklungszusammenarbeit auch an Bedingungen knüpfen. Wir müssen unsere Auslandshilfen, wie zum Beispiel in solchen Situationen, wenn es im Libanon oder in Jordanien in den Flüchtlingslagern die internationalen Organisationen die Mittelzuführung kürzen, dann können wir als Deutschland nicht mitmachen. Dann müssen wir auch ein Stück Verantwortung übernehmen und andere davon überzeugen, dass es besser ist, Quellen von Flüchtlingsströmen zu unterbinden. Und als Drittes, natürlich müssen wir auch diese Frage uns stellen: Wie gehen wir mit den EU-Außengrenzen um? Es nützt doch nichts, wenn wir einerseits Frontex verstärken wollen und gleichzeitig sagen, wir haben dafür kein Personal. Also, entweder wir statten sie mit dem Mandat aus, dass sie in der Lage sind, im Prinzip die Grenzsicherung mit den jeweiligen Mitgliedsstaaten zu übernehmen oder eben nicht. Dann müssen wir uns nicht darüber wundern, was passiert. Und wir werden darüber diskutieren müssen in Anbetracht der demographischen Entwicklung, wie es eben nicht mehr dazu kommt, dass das Asylrecht als ein – ich sage jetzt mal auch –, als ein Migrationsrecht verstanden wird, sondern dass es eine Einwanderungspolitik gibt, die ihren Namen auch verdient, die den Menschen einen legalen Weg auch nach Europa in den Arbeitsmarkt und damit auch nach Deutschland eröffnet. Das sind die Themen.
    Detjen: Eines der Symbolthemen in dem Bereich ist das Stichwort "Familiennachzug". Da muss eine Entscheidung fallen, spätestens im Frühjahr nächsten Jahres. Bringt Sie das als ein sehr überzeugter gläubiger Christ in einen Gewissenskonflikt?
    Tillich: Also, wir haben doch im Prinzip ein klares Asylrecht. Die Menschen, die hier Asyl gewehrt bekommen haben, haben das Recht auch auf Familiennachzug. Was anderes ist bei …
    Detjen: Es geht um diejenigen, die den Schutz der Genfer Konvention haben.
    Tillich: So ist es.
    Detjen: Also, faktisch die syrischen Flüchtlinge.
    Tillich: Richtig. Und da ist die … natürlich muss unser Bestreben sein, dass diese Menschen, wenn es darum geht, ihr Land wiederaufzubauen, auch diese Chance haben. Das heißt also, wir haben ja jetzt im Prinzip eine – ich sage jetzt mal – befristete Aufenthaltsgenehmigung für diese Menschen von drei und fünf Jahren. Das sieht das Recht gegenwärtig vor. Und deswegen stehe ich auch zu dem Parteitagsbeschluss, den wir gefasst haben, dass ein Familiennachzug in diesem Falle nicht … also stattfinden sollte.
    De Maizière solle in Berlin weiter wichtige Rolle spielen
    Detjen: Letzte Frage. In Berlin beginnen jetzt die Koalitionsverhandlungen. Es wird sehr schwierig, wenn man zum ersten Mal in der Geschichte ein so kompliziertes Bündnis zusammenbringen will. Wann schätzen Sie, wird das zustande kommen? Wird es zustande kommen? Und hinzugefügt die Frage: Wünschen Sie sich, dass ihr sächsischer Parteifreund Thomas de Maizière weiter Bundesinnenminister bleibt?
    Tillich: Uns ist wichtig, dass Thomas de Maizière für uns in Berlin eine wichtige Rolle spielt. Zum Zweiten: Wie lange es dauern wird – ich vermag es nicht zu beurteilen. Die Unterschiede zwischen den Grünen auf der einen Seite, der CDU und FDP auf der anderen Seite nach der verlorenen … nicht verlorenen Wahl, sondern der damaligen für die FDP verlorenen Wahl vor vier Jahren, da müssen einige, ich sage jetzt mal Gräben erst mal überwunden werden. Und ich bin mir aber sicher, dass alle um die staatspolitische Verantwortung wissen, um die politische Verantwortung, dass sie sich zusammenraufen werden, und dass wir auch eine Lösung finden werden, die eine Koalition ermöglicht.
    Detjen: Herr Ministerpräsident, vielen Dank, dass Sie sich an diesem turbulenten Tag Zeit genommen haben.
    Tillich: Bitte schön, gerne.