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Stanley Cavell
Grenzgänger und Transzendentalist

Stanley Cavell gilt als Grenzgänger zwischen Philosophie, Kulturwissenschaft und Literatur - und als einer der bedeutendsten Philosophen der USA. Mit dem 1972 veröffentlichten "The Senses of Walden" beginnt Cavells Beschäftigung mit dem amerikanischen Transzendentalismus. Nun ist das Buch auf Deutsch erschienen.

Von Thomas Palzer | 25.03.2015
    Der Mensch hat das Vertrauen in die Welt verloren. Seitdem er fragt, ob den Sinnen zu trauen ist, und diese Frage zu verneinen gelernt hat, schafft er Wissen, mit dem er seine Fragen zu beantworten hofft. Doch Wissen ist - wenn es nicht auf Erfahrung und dem Umgang mit den Dingen beruht – Rationalität, also etwas, das nach Gründen und Begründungen sucht. Was dem Wissen zu Grunde liegend ist aber Misstrauen – und das wirkt als Spaltpilz, der sich zwischen Mensch und Wirklichkeit schiebt und beide auftrennt in Subjekt und Objekt. Seitdem das Subjekt wissen will, will es sich mit aller Macht des Objekts bemächtigen.
    Henry David Thoreau, ehemals Privatsekretär Ralph Waldo Emersons und entschiedener Gegner der Sklaverei, war einer, der in die Wälder ging, um den Kontakt zur Welt wiederherzustellen. Er schrieb ein Buch, das 1854 publiziert wurde und das den Titel trägt: Walden oder Leben in den Wäldern.
    "Ich ging in die Wälder, weil mir daran lag, mit Bedacht zu leben, mich nur den wesentlichen Tatsachen des Lebens auszusetzen und zu sehen, ob ich nicht begreifen könnte, was es zu lehren hat, um nicht, wenn es ans Sterben geht, herauszufinden, dass ich nicht gelebt hatte."
    Die tief sitzende Skepsis, die uns vom Leben trennt, zu überwinden und den Kontakt zur Welt wiederherzustellen – darum geht es auch dem amerikanischen Philosophen Stanley Cavell. Naheliegend also, dass Cavell sich eines Tages Thoreau vornimmt – in einem Buch, dessen Gegenstand in nichts anderes besteht als wiederum in einem Buch. Die "Sinne von Walden" ist die Niederschrift einer Relektüre von Thoreaus Walden oder Leben in den Wäldern. Inzwischen zählt das 1972 publizierte Buch "Die Sinne von Walden" zu einem der Hauptwerke Cavells.
    "Wie kann ein Schriftsteller etwas Wahres von der Sprache selbst zeigen oder bestätigen? Ich habe in diesem Kapitel begonnen, diese Frage bezüglich des Schreibenden von Walden zu beantworten – entsprechend meiner Lektüre des Textes. Nun ist eine weitere Frage aufgetaucht: Was bedeutet es, der Leser eines solchen Schriftstellers zu sein?"
    Eine Welt aus Beziehungen
    Für Cavell besteht die Welt weniger aus Dingen oder Identitäten denn aus Beziehungen. Und weil diese Beziehungen wesentlich von der Sprache gestiftet werden, gelten Worte als Taten und Tatsachen als Beziehungen, die von Sätzen hergestellt werden. Entsprechend fragt der Leser Stanley Cavell nach der Beziehung, die seine Lektüre von Thoreaus Buch zwischen ihm und dem Autor stiftet.
    Für Stanley Cavell sind die Beziehungen des Menschen zur Welt davon gekennzeichnet, dass sie keine des Wissens sind, sondern Beziehungen, die auf Nähe und Vertrauen basieren. Unser Verhältnis zur Welt beruht nicht auf Erkenntnis, sondern auf Erlebnissen und ästhetischer Erfahrung.
    Und so ist auch Wahrheit eine Frage der Erfahrung und des Erlebens, kein Gegenstand des Wissens. Das Gefühl der Verbundenheit mit der Welt kennzeichnet Cavell, indem er von der Beheimatung des Menschen spricht – ein Ausdruck, den er von Heidegger entlehnt: Der Mensch ist in der Welt beheimatet. Ihr bringt er Vertrauen entgegen. Dieses Vertrauen hat keinen Grund, es liefert ihm Gründe.
    Zwar ist der Modus seines Verhältnisses zur Welt das der Getrenntheit, aber genau dies ist ein Verhältnis der Nähe – allerdings nur unter den Bedingungen der Anerkennung, nicht des Wissens. Denn im Kern ist Wissen Skepsis, die im ständigen Prozess der Mehr-Wissen-Wollens überwunden werden soll. Vergeblich, wie wir wissen, da jede Bestimmung Unbestimmtheit unweigerlich nach sich zieht. Nie können wir über die Welt all das wissen, was wir über sie wissen müssten, um etwas tatsächlich zu wissen. So gesehen, bleibt uns gar nichts anderes übrig als der Natur zu vertrauen: Das bedeutet nämlich, dass sich die Natur uns anvertraut. Die Sprache stellt den Bezug her und produziert gegenseitige Obhut gemäß dem Prinzip Wort und Antwort.
    "Worte kommen zu uns aus der Ferne; sie waren vor uns da; wir werden in sie hineingeboren. Indem man sie verwendet, akzeptiert man diesen Fakt ihrer Beschaffenheit. Zu entdecken, was uns gesagt wird, wie auch zu entdecken, was wir sagen, heißt den genauen Standort auszumachen, von wo aus es gesagt wird; zu verstehen, warum es gerade von dort aus gesagt wird und zu dieser Zeit."
    Cavell hat in den USA den Status, den ein Mann wie George Steiner in Europa hat. Wie Steiner bedient sich auch der amerikanische Philosoph einer einfachen, im Alltag gesprochenen Sprache. Er verweigert jeden Jargon. Das hat er von seinen realen und geistigen Lehrern gelernt, von John Austin und von seiner Beschäftigung mit Ludwig Wittgenstein. Deshalb ist Cavell dagegen immun, auf den traditionellen philosophischen Aberglauben eines Geist-Körper- oder Subjekt-Objekt-Dualismus hereinzufallen. Wie gesagt, besteht die Welt für Cavell aus Beziehungen.
    Der Glaube an die Alltagssprache hat Cavells Schriften leichter zugänglich gemacht, demokratisch, denn er gibt den Menschen ihre Stimme zurück – und ihm eine große Fan-Gemeinde zumal unter denjenigen eingetragen, welche von der Pop-Kultur inspiriert sind – wie zum Beispiel den amerikanischen Essayisten und Mitbegründer der Zeitschrift n + 1, Mark Greif.
    "Jemand zeigte mir Cavell. Er erklomm ein paar Stufen, legte seinen Mantel ab und stellte das Mikrofon ein. Für mich sah der Philosoph wie ein "Philosoph" aus, das heißt schon jetzt wie eine Statue. Damals war er 67 und ich war 17."
    Der Verlag Matthes & Seitz in Berlin hat seiner Ausgabe von Cavells "Die Sinne von Walden" einen schönen Essay von Mark Greif beigegeben, der zuerst in der Zeitschrift n+1 erschienen ist und Cavell als Erzieher einer ganzen Generation von amerikanischen Intellektuellen beschreibt – in Anlehnung an Nietzsches Aufsatz über Schopenhauer als Erzieher. Wie schaffte Cavell das. Einmal, weil er sich daran erinnerte, dass Philosophie sich mit dem Leben beschäftigt. Es gelingt ihm, zwischen analytischer angelsächsischer Philosophie, wie sie die USA beherrscht, und europäischer Philosophie eine Brücke zu schlagen. Zum anderen gewann er die Colleges Amerikas für sich, weil er die Welt im Film als diejenige Welt erklärte, die von seinen Hörern bewohnt wird.
    Greif schreibt in seinem Essay:
    Während seiner Kindheit in Atlanta hatte das Kino, das in Cavells Philosophie zu einem so wichtigen Thema wurde, seinen festen Platz, denn seine Mutter nahm in regelmäßig mit zu ihrer Teilzeitanstellung als Klavierbegleiterin von Stummfilmen. Wie viele andere junge Menschen auch suchte er im New York der 1950er Jahre nach einer endgültigen Berufung, und das Kino begleitete seine Tage wie ein zweites Leben. Cavell konnte sich nicht daran erinnern, dass seine Kinobesuche je einen Fluchtversuch bedeutet hätten – obwohl das Kino so häufig als eskapistischer Raum bezeichnet worden ist und wird.
    Paradigmenwechsel in der Erkenntnistheorie
    Es war Nietzsche, der als erster darauf aufmerksam gemacht hat, dass ein guter Philosoph immer auch ein guter Philologe sein muss – also jemand, der gut lesen kann. In einem gewissen Sinn war damit vorweggenommen, was bald darauf die Zunft zum linguistic turn anhielt – zu jenem Paradigmenwechsel in der Erkenntnistheorie, der in der Sprache den unhintergehbaren Horizont des Denkens erkennt. Peinlich genau ist das Lesen von den Nietzsche nachfolgenden Philosophen dann auch genommen worden – von Heidegger, Wittgenstein, Gadamer, von Michel Foucault, Roland Barthes, Jacques Derrida, Richard Rorty und Judith Butler, um nur die prominentesten zu nennen. Unter die guten Leser ist nun auch der amerikanische Philosoph Stanley Cavell zu rechnen:
    "Was kann man von einem Buch über ein Buch erwarten? Mein Interesse an dieser Frage der Literaturkritik, als ich mein Buch über Walden schrieb, bestand darin, festzustellen, warum Walden selbst von einem Buch handelt, von seinem eigenen Schreiben und Lesen; und darin, mit gewissen Experimenten zu beginnen, um festzustellen, wie ein philosophischer Text durch einen anderen angeregt wird, warum die Philosophiegeschichte eine Geschichte solcher Anregungen ist, und was dementsprechend einen originalen oder initialen Text begründet."
    Am Beispiel von Walden soll also die Beziehung zwischen Sprecher, Sprache und ihrem Gegenstand examiniert werden. Diese Beziehung ist nach Cavell von einer grundsätzlichen Nähe geprägt. Sprache bezieht sich auf die Welt, die sie beschreibt, und lässt so ihren Sprecher erfahren, wie er sich auf diese Welt bezieht, und zugleich, wie er von dieser Erfahrung überhaupt wissen kann. Thoreaus Schreiben und sein Leben werden eins am andern offenbar.
    "Es ist schwer, im Auge zu behalten, dass der Held dieses Buches derjenige ist, der es schreibt. ... Ich meine, dass das "Ich" des Buches sich selbst zu einem Schreibenden erklärt. Dies ist schwer im Auge zu behalten, weil uns anscheinend ein Held gezeigt wird, der alles Mögliche unter der Sonne tut außer, von sehr seltenen Fällen einmal abgesehen, zu schreiben. Es dauert eine Weile, bis man begreift, dass jede seiner Handlungen der Akt eines Schreibenden ist, das jedes Wort, mit dem er sich selber identifiziert oder seine Arbeit und seine Welt beschreibt, die Identifikation und Beschreibung dessen ist, was sein literarisches Unternehmen seinem Verständnis nach erfordert."
    Thoreau ging ausgerechnet am 4. Juli 1845 in die Wälder – am amerikanischen Unabhängigkeitstag. Leser Cavell versteht Walden als das Dokument der persönlichen Unabhängigkeitserklärung seines Autors, gewissermaßen als Thoreaus transzendentale Unabhängigkeitserklärung, wiederholt dieser doch an sich selbst die Große Migration und die Besiedlung des Kontinents durch seine Siedler.
    Darin liegt die Pointe von Cavells Relektüre Thoreaus – das Versprechen einer Neuen Welt zu erneuern. Sich für das eigene Leben zu interessieren beginnen – das ist das Motiv, das Thoreau treibt, Walden zu schreiben. Anteil nehmen am eigenen Leben heißt für diesen, aus dem alltäglichen Leben im Konformismus auszubrechen.
    Cavell macht sich wiederum Thoreaus Gedanken zu eigen. Anders als die philosophische Tradition, veranlasst gerade das Fehlen von letzten Gewissheiten den amerikanischen Kult-Philosophen dazu, ein robustes Vertrauen in die Welt zur Basis eines neuen Weltverhältnisses zu erheben.
    An der Welt kann ich nicht zweifeln, also gibt es mich – so lautet das Motto dieses Anti-Anti-Skeptizismus.
    Es wird Zeit, dass man in Deutschland Cavell entdeckt. Die Sinne von Walden wäre ein guter Einstieg.
    Stanley Cavell: "Die Sinne von Walden". Mit einem Essay von Mark Greif, übersetzt von Klaus Bonn und Kevin Vennemann. Berlin 2014: Matthes & Seitz, Batterien NF 024.206 Seiten, geb., € 24,90