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Starke Frauen unter sich

Constanza Macras ist eine Choreografin, die die dunklen Seiten Europas untersucht. Sie hat für ihr neues Stück "Open for everything" ein multinationales Roma-Ensemble auf die Bühne gebracht. Zusammen mit Cate Blanchett (als Lotte-Kotte in "Groß und Klein") hat sie nun das Schauspielprogramm der Wiener Festwochen eröffnet.

Von Christiane Enkeler | 14.05.2012
    Die große Cate Blanchett, das ist das Ereignis hier, spielt die kleine Lotte-Kotte aus Remscheid-Lennep. Diese kaum fassbare Hauptfigur einer lockeren Szenenanordnung von Botho Strauß stammt aus dem Jahr 1978 und hält das Stück "Groß und Klein" zusammen, obwohl sie sich selbst immer mehr verliert: das Stationendrama einer Frau Mitte 30, die nach einem Liebsten und nach Liebe sucht, abgewiesen und doch auf seltsame Art gebraucht wird, die helfen will und Anerkennung spendet, sich aufdrängt, übertreibt, nervt, alle überfordert mit ihrer Liebe, ihrem Nicht-in-die-Welt-Passen. Aber vielleicht ist Lotte gar nicht so klein, sondern steht in direkter Verbindung zu Gott, vielleicht gehört sie zu den wenigen "Gerechten" auf der Welt, wie sie sagt, hier in einer englischen Neuübersetzung von Martin Crimp.

    Lotte findet eben keine Familie, so frei und offen sie auch ist – es bleibt, von Begegnung zu Begegnung, eine Suche nach Anschluss, ohne Endstation. Aber Cate Blanchetts Lotte ist entschlossen, die Dinge von der guten Seite zu sehen. Wenn ihre Lotte abgelehnt wird, reagiert sie mit Spiel und Scherz darauf – wie echt kann das bei der Verzweiflung sein? Cate Blanchetts Lotte wirkt vor allem mutwillig: Tatsächlich ist dem Regisseur und seiner Hauptdarstellerin eine Lotte geglückt, "die am Rande des Abgrunds zu tanzen vermag", wie er sagt: Mit Kraft und voller Energie spricht und tanzt Blanchett in Benedict Andrews Inszenierung über die Bühne und verleiht Lottes Darstellung Humor, ohne sie bloß zu stellen.

    Die Zerbrechlichkeit – die liegt doch in der Welt! So ist es auch das Bühnenbild von Johannes Schütz, das in der sprachlich fragmentiertesten Szene in Fragmenten über die Bühne rollt – und Lotte dabei doch noch bedrängt: kürzeste Zimmerszenen, in denen die Wände sich bewegen.
    Blanchetts Lotte kommt aus dem Takt, sie eckt an, sie gerät außer Atem, aus dem Rhythmus. "Groß und klein" kann auch Diskurs- und Kopftheater sein, die Sidney Theatre Company wählt den sinnlichen Weg. Am Ende verschwindet Cate Blanchett allein und still in der dunklen Leere der Bühne.

    Auf Constanza Macras Bühne "Open for everything" wuselt es dagegen wie auf Wimmelbildern: Da trinken drei aus einem Krug, wird ein Zebra auf Rollen geschmückt, Wäsche aufgehängt über einem kleinen See, daneben streitet eine kleine Gruppe über einer Karte – ums Reisen geht es hier viel, denn das ist eine vermeintliche Gemeinsamkeit: die Künstler, die viel auf Tour gehen. Wohingegen das Reisen der Roma eine Legende ist, wie Constanza Macras ab 2010 in Ungarn, Tschechien und der Slowakei recherchiert hat. "Ivan Papa", der Volksschullehrer aus Ungarn, denkt auf der Bühne darüber nach, nach Deutschland zu ziehen. "Es wäre das erste Mal in 100 Jahren, dass unsere Familie umzieht", sagt er.

    Viele Roma stehen mit auf der Bühne und vereinen sich mit den professionellen Tänzern von Refrain zu Refrain immer wieder zu Gruppenchoreografien, die an Bollywoodfilme erinnern, bevor wieder alles in Alltagsszenen zersplittert. So wird der Alltag zum Tanz: ein sehr leichter, äußerst mitreißender, voller Humor, Gefühl und Selbstironie.

    Wobei das hier wohl nicht pures Dokumentartheater sein kann: Wenn Norbi erzählt, dass er Adam ist, weiß man nicht, was man glauben soll.

    Drogen, Familienzusammenhalt, Fabrikarbeit, Träume – kitschig wird es, um Vorurteile und Klischees geht es. Wie ist das, wenn man zur Recherche zu den Roma fährt und herumfotografiert, wenn einen eine aufgebrachte, wütende Frau mit gekränktem Stolz beschämt.

    Da wird also das ein oder andere verhandelt, aber doch nicht so richtig "geknackt". Dafür fehlt auf der einen Seite mehr Information und Konzentration und bleibt auf der anderen Seite zu viel Folklore übrig. Der Abend sprüht aber emotional vor Lebenskraft und Gemeinschaftsgefühl, und das schließt das Publikum ein.