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Stationen einer NS-Karriere
Die Tante, über die niemand sprach

Nachdem sie im Erbe ihrer Tante ein Bündel Briefe gefunden hatten, begaben sich Susanne und Jan Peter Wiborg auf eine abenteuerliche Recherchereise. Denn die Tante, über die sie bisher kaum etwas wussten, hatte im Nazi-Regime eine steile Karriere hingelegt.

Von Thomas Kleinspehn | 22.05.2015
    Eine der letzten Aufnahmen von Adolf Hitler vom 20.03.1945 zeigt ihn bei der Auszeichnung von Mitgliedern der Berliner Hitler-Jugend, die zum Ende des Zweiten Weltkrieges in Volkssturmeinheiten zusammengefaßt wurden.
    Adolf Hitler zeichnet Mitglieder der Berliner Hitler-Jugend aus, die zum Ende des Zweiten Weltkriegs in Volkssturm-Einheiten zusammengefasst wurden. (picture alliance / dpa / Heinrich Hoffmann)
    "Muttilein, es ist bitterschwer, was auf uns zukommt. Sieg oder tot! Aber schrecklich ist keines von beiden. Wir schaffen es ja zuletzt doch noch. Überlebende sind wir. Unser Leben ist im Augenblick derart schön, dass Du es nicht glauben wirst und dazu auch nicht vorstellen kannst, Mutsch ... Der Frühling ist schön. Der Krieg so nah. Alles Leben gesteigert."
    Dieser Frühling, über den die 24-jährige Clara S. an ihre Mutter schreibt, war nicht irgendeiner. Es war der Frühling 1945 in Pommern. Die Front ist zu hören und zu sehen, Millionen von Menschen sind gestorben, sind auf der Flucht, leben im Elend. Für Clara S. ist das Leben aber "schön". Sie fühlt sich noch immer zu höheren Weihen berufen. Dieser irritierende Kontrast war der Ausgangspunkt für das Buchprojekt von Susanne und Jan Peter Wiborg über ihre Tante Clara S. Jahrzehntelang war die Erinnerung an sie, die kurz nach diesem Brief auf Rügen gestorben war, von Legenden geprägt. Familienlegenden wie viele in der Nachkriegszeit. Während die überlebenden Männer mit Heldengeschichten prahlten, heißt es über Clara S. nur lapidar, "die Russen" hätten sie umgebracht. Für die zweite Generation war das zwar keine befriedigende Antwort, aber weitergehende Fragen trafen auf Schweigen – bis eines Tages ein Zufallsfund das Bild veränderte.
    "Und dann haben wir dieses Bündel Briefe geerbt und damit war plötzlich alles wieder lebendig, denn wenn Sie die Briefe gelesen haben: Das ist der Wahnsinn, der einen da anguckt. Und dann kam wieder die Frage, wie ist diese ganz normale junge Frau in diesen Irrsinn gerutscht. Und da hatte ich dann die Hoffnung, wenn ich das nach verfolge oder wenn wir das zu zweit nach verfolgen, kriegen wir vielleicht endlich mal die Antworten, die wir nie gekriegt haben. Und ich muss sagen, ein Stückchen hat das geklappt, ein Stückchen haben wir ihr folgen können, aber die Ratlosigkeit ist geblieben."
    Von den Briefen ausgehend haben sich so die Geschwister Wiborg auf eine abenteuerliche und letztlich aufschlussreiche Recherchereise gemacht, die sie immer wieder nach Pommern, aber auch in Archive in Deutschland, Polen und Russland geführt hat. Als Ergebnis dieser Arbeit ist ein Buch herausgekommen, das weit über eine Familien- oder Regionalgeschichte hinausgeht. Es ist vielmehr der Versuch, einen – mit heutigen Begriffen – fundamentalistischen, fanatischen Menschen aus seiner Biografie und dem System heraus zu verstehen, das ihn geprägt hat. Selten kommt in anderen Büchern, das "Böse" so ungefiltert und ganz ungebrochen zur Sprache. Claras Leben wird so zu einer typischen Biografie von Frauen, die kurz nach dem Ersten Weltkrieg geboren sind. Und gleichzeitig wirft das Buch ein sehr eindrückliches Schlaglicht auf den realen und manipulierten Durchhaltewillen der deutschen Bevölkerung in den letzten Kriegstagen.
    "Wir haben auch in der historischen Forschung, was Pommern betrifft, viel Neuland betreten müssen, weil also, was die NS-Forschungbetrifft, da Vakuum herrscht, und da haben wir uns auf die Fährten einer anderen Familie, eines Brüderpaares gesetzt, der Simons. Der eine Bruder war ja der Leiter Moselland und galt als der Schlächter von Luxemburg. Und die Schreibtisch- und Bürokarriere seines Bruders Paul als Schriftleiter und Oberzensor von Pommern und nachher als der letzte Werwolf. Die Spannung, wie das die beiden, Clara und den höchsten pommerschen Repräsentanten dann zum Schluss am Kreidefelsen zusammenführt, also sich kleine und große Geschichte – wenn man so will – dann verbindet, ist ein zusätzlicher Aspekt dieses Buches."
    Exemplarisch im Mittelpunkt steht aber Clara S. Auch nach dem faktischen Zusammenbruch von Ost- und Westfront war sie immer noch voller Ephorie davon überzeugt, dass die von Hitler immer wieder angekündigten "Wunderwaffen" doch noch zum "Endsieg" führen würden. Dabei wollte sie an vorderster Front stehen. Und selbst wenn doch alles scheitern sollte, wollte sie wenigstens die Vorhut bilden für ein neues Leben im dann in der Nachfolge des Dritten zu gründenden "Vierten Reich". Man könnte das mit "Größenwahn" und "Narzissmus" umschreiben. Vor allem für Susanne Wiborg steckt dahinter aber eher ein soziologisches Problem, das man verkürzt als "Geschlechterkonflikt" umschreiben könnte. In einem konservativ nationalistischen Milieu, dessen Denkmuster noch aus der Kaiserzeit stammten, wächst Clara zwar als ältestes Kind ihrer Familie auf, steht aber im Schatten ihres jüngeren Bruders. Ihm standen alle Privilegien zu.
    "Unsere Großmutter ist 1971 gestorben und bis zum Ende Kaiserzeit geblieben. Und von der kenne ich noch diesen ganzen Druck, "das ist nichts für dich als Mädchen", "du musst als Mädchen hinter deinem Bruder zurückstehen". Und diesen Zorn, den das in einem Kind erweckt. Und als mir das klar war, konnte ich Clara einen Moment verstehen. Da habe ich gedacht, wenn du – ich war ja im Alltag dem gar nicht ausgesetzt, nur wenn meine Oma mir Vorträge hielt –schon so wütend wirst, wie hat wohl die älteste Tochter reagiert, für die das Alltag war. Ist die auf diese Weise reingerutscht, weil sie gedacht hat, ich kann aus dieser Rolle nur so entkommen. Was uns übrigens auch meine Mutter später mal bestätigt hat, die die älteren Geschwister nur von Weitem kannte und gesagt hat, also sie hatte immer das Gefühl, so'n Teil des Lebens ihrer Schwester, war dieser Bruder. Also der hat das gelebt, was sie nicht leben durfte, nämlich Karriere gemacht, aufs Gymnasium gegangen, durfte was lernen. Das war ihr glühenster Wunsch. Und sie hat natürlich gewusst, wenn sie rebelliert, kriegt sie sowieso nichts. Aber wenn sie mit ihrem Bruder zusammenarbeitet, das ist ihre Teilhabe. Und im Grunde hat sie das ja später auf ihre Karriere übertragen. Sie hat dem Führer besser zugearbeitet als die männlichen Kollegen und das war ihr Ausweg. Also den Zorn nicht rauslassen, sondern sich auf diese Weise nutzbar machen."
    Spätestens nach dem Tod des Bruders, der an der Ostfront fällt, sucht Clara für sich nach einem eigenständigen Weg. Ohne konkrete Ausbildung und Mitten im Krieg sieht sie ihre Chance im Bund Deutscher Mädel. Hier drängt sie sich opportunistisch und ohne Rücksicht auf andere in Leitungsfunktionen. Verstärkt wird das noch durch eine Liebesbeziehung mit einem verheirateten SS-Offizier. Als sie kurz vor Kriegsende die Briefe schreibt, ist sie schließlich einem Kommando der Hitlerjugend zugeordnet, das die Front und den Rückzug noch absichern soll – als eine von vier Frauen im "Kampf", eine Rolle, die sonst nur Männern zustand. Diese Verquickung und die Liebesbeziehung ist gleichzeitig ihr Verhängnis. Denn sie befindet sich jetzt in hohen SS-Kreisen von Pommern. Deren Privilegien genießt sie gerne, aber als sie schließlich doch mit ihrem Geliebten und dem stellvertretenden SS-Führer von Pommern, Simon, vor der Roten Armee flüchten muss, landet sie auf der westlichsten Spitze von Rügen, wo sie stirbt. Die genauen Umstände ihres Todes kann auch das Buch nicht endgültig klären. Dennoch tragen Susanne und Jan Peter Wiborg viele bisher unbekannte Fakten über die Geschichte Pommerns in den Kriegsjahren zusammen. Sie beschreiben ausführlich, wie am Schluss Alte und Junge – und vor allem die "Kindersoldaten" – zynisch als Menschenmaterial den Rückzug der NS-Eliten decken sollten. Während die einen noch in den letzten Tagen niedergemetzelt wurden, dachten die anderen schon an ihre neuen Karrieren im Nachkriegsdeutschland. Die größte Stärke des Buches ist jedoch, dass es den Autoren gelingt, am Beispiel von Clara das NS-Frauenbild aus ihrer Zeit heraus zu beschreiben. Geprägt von hehren Idealen und rassistischen Vorstellungen waren Frauen dem NS-Regime zwar bedingungslos unterworfen, sie waren aber nicht nur Opfer, sondern auch ungebrochen Täterinnen.
    "Ich habe mich ein paar mal dabei ertappt, dass ich gedacht habe, mein Gott, wie einfach ist es eigentlich, einen jungen Menschen zu verführen. Das wäre schon allgemeingültig. Dass ich manchmal das Gefühl hatte, ich sehe da nicht meine Figur, sondern irgendeine Selbstmord-Attentäterin mit Bomben vor dem Bauch. Das war ja die Geisteshaltung. Das ist der Weg eines Individuums in irgendeinen Geisteszustand, in dem man alles verlangen und alles manipulieren kann. Und das finde ich, hat durchaus Allgemeingültigkeit, ja. Denn sie hat ja für ihre ganze Generation gestanden."
    Das Buch selbst thematisiert das allerdings nicht und konzentriert sich auf Clara und die Ereignisse in Pommern 1945. Man kann sich fragen, ob allgemeinere Perspektiven nicht gut in das letzte Kapitel gepasst hätten. Das hätte aber die verstörende Nähe zu einer Figur relativiert, die in ihrem Fanatismus und ihrer Ergebenheit ganz entrückt erscheint, bei der jeder Leser aber sein ganz eigenes Aha-Erlebnis haben dürfte. Sehr unterschiedliche Spuren von Clara sind in vielen von uns.
    Susanne Wiborg / Jan Peter Wiborg: "Glaube, Führer, Hoffnung. Der Untergang der Clara S.", München, Verlag Antje Kunstmann, 2015, 320 S., 19,95 €