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Stecknadel im Teilchenhaufen

Physik. - Bislang ist es für die Physiker das Maß aller Dinge: Das Standardmodell beschreibt, aus welchen Grundbausteinen die Welt besteht und welche Kräfte diese Urteilchen zusammenhalten. Doch nun lassen Forscher des Brookhaven National Laboratory bei New York aufhorchen: Sie präsentieren Messergebnisse, die nicht so recht mit dem Standardmodell in Einklang zu bringen sind. Vielleicht - so hoffen die US-Experten - haben sie damit einen Fingerzeig auf eine neue Physik entdeckt, eine Physik, die weit über das Standardmodell hinausgeht.

Von Frank Grotelüschen | 01.07.2004
    Wir stehen in der Experimentierhalle. Hier sieht es aus wie in einer riesigen Werkhalle. Eine Menge an Gerätschaften, lauter Kabel, in der Mitte der Halle ein großer Kran. Und weiter hinten laufen gerade ein paar Montagearbeiten.

    In Hemdsärmeln und abgewetzten Blue Jeans steht Steve Kettell vor uns und beschreibt seinen Arbeitsplatz. Wenn man ihm zuhört, denkt man an Stechuhren und Nachtschichten, an Schmiere, Öl und Dreck. Dass die weitläufige Halle ein Hort der höheren Physik sein soll, glaubt man Kettell erst, als er so richtig loslegt:

    Wir beschleunigen Wasserstoffkerne mit einer Spannung von 24 Milliarden Volt. Das passiert in einem Beschleuniger mit einem Umfang von zwei Kilometern. Die Wasserstoffkerne feuern wir auf einen Platinstab. Dabei entstehen lauter exotische Teilchen. Uns interessiert aber nur eine bestimmte Sorte - sog. Kaonen. Mit elektromagnetischen Feldern trennen wir die Kaonen von den anderen Teilchen und lassen sie dann in unseren Detektor fliegen.

    Dieser Detektor steht direkt vor uns: Ein wuchtiger Metallklotz, groß wie ein Einfamilienhaus, 60 Millionen Dollar teuer. Er beobachtet, wie die von Natur aus instabilen Kaonen in andere, kleinere Teilchen zerfallen. Kettell:

    Wir sehen einen Haufen Kabel, insgesamt so etwa 10.000. Sie kommen aus dem Inneren des Detektors, und zwar von Lichtsensoren. Im Detektor zerfallen die Kaonen. Ihre Bruchstücke fliegen durch Blöcke aus Kunststoff und hinterlassen dabei Leuchtspuren. Genau dieses Leuchten schnappen die Lichtsensoren auf und wandeln es um in elektronische Signale, die wir dann mit Computern weiterverarbeiten.

    Mit ihrem Detektor können die Forscher genau feststellen, in welche Bruchstücke die Kaonen zerplatzen. Dabei sind Steve Kettell und seine Kollegen hinter einer besonders seltenen Zerfallsart her - wenn das Kaon in einen anderen Teilchenexoten zerfällt, ein so genanntes Pion. Kettell:

    Das passiert in einem von zehn Milliarden Fällen, also nicht sehr oft. Wir mussten also darauf warten, dass ein einzelnes Kaon in unseren Detektor hineinfliegt und ein einzelnes Pion herauskommt. Genau dieses Ereignis mussten wir aus den anderen zehn Milliarden Ereignissen herausfiltern.

    Wenn man so will die Stecknadel im Teilchenhaufen. Seit 1994 lagen die Forscher auf der Lauer und analysierten Datenberg für Datenberg. Nun endlich haben sie das Ergebnis. Kettell:

    Bislang haben wir drei Ereignisse beobachtet. Drei Mal in der ganzen Zeit ist ein Kaon in ein Pion zerfallen. Und das ist schon faszinierend. Denn laut den Berechnungen des Standardmodells hätten wir in dieser Zeit nur einen einzigen Zerfall sehen dürfen. Noch ist nicht klar, ob es sich bei unseren Messungen nur um einen statistischen Ausreißer handelt. Aber sollten sich unsere Ergebnisse bestätigen, wäre das natürlich sehr aufregend.

    Das Problem: Eigentlich ist das Messprogramm abgeschlossen. Um es fortzusetzen, haben die Forscher beim US-Energieminister eine Verlängerung beantragt. Drei Jahre Messzeit und zehn Millionen Dollar wären nötig, meint Kettell, dann müsste klar sein, was dran ist an den merkwürdigen Messdaten. Eine Idee, was dahinter stecken könnte, hat er jedenfalls schon: Vielleicht sind es so genannte supersymmetrische Teilchen. Das sind Partikel, nach denen die Physiker schon lange suchen, die sie bislang aber noch nicht gefunden haben. Bildlich gesprochen könnten diese supersymmetrischen Teilchen das Kaon heimlich umschwirren und es dazu überreden, öfter in ein Pion zu zerfallen als es eigentlich erlaubt ist.