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Stefan Wackwitz
Unterwegs zwischen Tiflis, Baku und Eriwan

Als Leiter von Goethe-Instituten ist Stephan Wackwitz weit herumgekommen: Neu Delhi, Tokio, New York - und aktuell Tiflis. Von dort erzählt sein neues Buch, ein topografischer Reiseroman, in dem Stadtarchitektur, Geschichte und soziales Profil eine intensive Verbindung eingehen.

Von Werner Köhne | 10.07.2014
    Die Altstadt der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku mit Minaretten liegt vor dichtbebauten neuen Hochhäusern.
    Das Zentrum von Baku: Im Vordergrund die Altstadt der Kaukasusmetropole. (Deutschlandradio / Sven Töniges)
    In dem Musikfilm "The Commitments" feiert eine Soulband aus einem Dubliner Arbeiterviertel kurzzeitige Erfolge, bevor sie aus verschiedensten Gründen auseinanderfällt. Am Ende zieht ein Bandmitglied überraschende Bilanz: Gerade in ihrem Scheitern läge eine Art Poesie.
    An dieses Momentum erinnert mich eine These, die Stephan Wackwitz in seinem Buch vielfach variiert: Der Augenblick, wo etwas für immer verloren geht, ist der Augenblick der Poesie. Eine Poesie, die jeder mitgestalten kann, sofern er sich auf die Erfahrung dieses Verschwindens einlässt.
    Stephan Wackwitz hat ein ungewöhnliches Buch geschrieben - aus einer geografischen Ferne, die spürbar wird, und eingedenk einer so faszinierenden wie bestreitbaren These von Friedrich Nietzsche: Nur als ästhetisches Phänomen sei die Welt gerechtfertigt.
    Die Welt aus der Distanz verstehen
    Aber der Reihe nach und vom Konkreten ausgehend: Wie der Titel "Die vergessene Mitte der Welt - Unterwegs zwischen Tiflis, Baku und Eriwan", schon andeutet, kann man dieses Buch wie einen vielschichtigen Reiseroman lesen - mit eingeschobenen essayistische Betrachtungen, die das Erlebte in jene Distanz rücken, die wohl notwendig ist, um die Welt und die Dinge darin wirklich zu verstehen.
    Der Autor leitet seit Jahren das Goethe-Institut im georgischen Tiflis und er macht sich von dort aus auf, die Metropole und deren Umfeld zu erkunden. Es sind Routen, auf denen die Stadtarchitektur, die sie umgebende Landschaft und - darüber vermittelt - die urbane Geschichte in den Focus rücken. Dabei stößt der Wanderer, der in vielen Hinsichten an Walter Benjamins Passagengänger erinnert, auf ein Phänomen: Es ist die schrille Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die ihn vor allem städtebaulich in Tiflis anspringt, und in ihm, den Mitteleuropäer, zugleich Skepsis und ästhetische Assoziationen weckt.
    "Was im Moment die Stadt prägt, ist das Entstehen von ganz vielen modernen und sehr scheußlichen Gebäuden, die ohne Rücksicht auf die Kontexte einfach so in die Stadt hineingeknallt werden - und da hat man also wirklich das Gefühl hat, hier verschwindet etwas sehr schnell und man es jetzt noch einmal sehen, bevor es dann ganz weg ist. Andererseits ist es so, dass die Dinge sowieso veralten und so immer wieder die Poesie neu entsteht."
    Tiflis im Schleier
    Verantwortlich für diese ambivalente Physiognomie der Stadt ist- wen wundert es - die alte sowjetische Nomenklatura. Mehr als 20 Jahre nach dem Zusammenbruch des Sowjetreiches hat sich über Tiblissi - so der georgische Name für Tiflis - ein Schleier aus Vergessen und Verlust gelegt:
    "Die kommunistische Architektur in Tiblissi, die uns heute poetisch vorkommt - das war ja mal die knallharte Herrschaftsarchitektur, vor der die Leute eigentlich eher Angst hatten oder Angst haben mussten. Und eben dadurch, dass die eben keine Macht mehr hat, ist sie einfach poetisch anzuschauen. Das kann man hier sehr schön nachvollziehen und studieren."
    Ein bisschen Kritik also, dazu eine Prise Kontemplation, getränkt in Nostalgie? - Was die Betrachtungen von Wackwitz indes auf ein essayistisches Niveau heben, sind die assoziativen Ausritte, die er sich gestattet. Sein Spaziergang, den er zutreffend als ein "nomadisches Schweifen" begreift, lässt auch philosophische Betrachtungen und persönliche Erinnerungen in die Prosa einfließen. Gleich zu Beginn, wenn er einen alten Park in Tiflis besucht, macht er eine Ebene des Vergleichs auf, die ob ihrer ästhetischen, geschichtlichen und psychologischen Aspekte besticht. So erinnert ihn das, was er auf seinen Rundgängen erlebt, an frühe Fellini-Filme
    "Ich glaube, dass die Situation Georgiens in vieler Hinsicht der Situation Italiens in den 60er-Jahren, also zum Zeitpunkt der großen fellinischen Filme [entspricht] - das war eine Zeit, wo Italien im Grunde auf eine gleiche Weise zwischen Moderne und Mittelalter gestanden hat, wie das Georgien heute - mit diesen eher surrealistischen Kontrasten zwischen Hypermodene und Vormoderne. Und auch in der Verwirrung, die die Menschen ergreift in solch historischer Lage, die ja Fellini sehr komisch und poetisch dargestellt hat."
    Nomadisches Schweifen
    Damit umkreisen wir als Leser einmal mehr die Kernthese dieses Essays: Der offene und geschärfte Blick auf die Dinge, auf Architektur, Plätze und Treppen lässt Kontraste deutlicher hervortreten. Auch zu seinem Heimatland Deutschland. Dort nämlich ist die "Furie des Verschwindens" kaum noch im kollektiven Gedächtnis präsent - dafür lösen die Impressionen in Georgien Erinnerungen an seine Kindheit in den 50er-Jahren in Deutschland aus.
    "Also ich glaube, was im Moment in Deutschland verschwindet, eigentlich schon verschwunden ist, das ist meine Kindheit - die Zeit der frühen 50er-Jahre. Und das ist eben etwas, was mir hier entgegenkommt, so eine Art altmodisches Design, altmodische Straßenbilder und das Eindringen der Natur in die Stadtlandschaft. Das ist ja das 50er-Jahre-Deutschland und kaum noch zu sehen, und das ist vielleicht auch der Grund dafür, dass mir diese Stadt Tiflis so gut gefällt, einfach, dass ich das Gefühl habe: Hier kann ich meine Kindheit noch ein bisschen erleben."
    Einen weiteren Reizpunkt für seine Art des konzentrischen Umherschweifens spricht schon der Titel an: Die vergessene Mitte der Welt. Unterwegs zwischen Tiflis, Baku, Eriwan. Vor allem Eriwan, die Hauptstadt Armeniens bietet genügend optischen Stoff, um diesen Titel eindrucksvoll zu verifizieren.
    "Eriwan: Es ist ganz konzentrisch aufgebaut, auf einen Mittelpunkt eines großen Platzes zentriert. Es ist auch historisch nachweisbar, dass diese Länder eigentlich - man sagt ja immer: Im Zentrum des Sturms herrscht Windstille. Das heutige Georgien, Armenien Aserbaidschan waren immer so etwas wie ein Kippschalter der Weltpolitik zwischen Russland, Persien und der Türkei und der Vorgängergeschichte, also Byzanz und das neupersische Reich. Man hat irgendwie den Eindruck, hier ging es historisch immer ums Ganze. Und deswegen haben sich auch alle großen Mächte immer wieder versucht, diese Länder zu erobern."
    Kommunismus als Irrtum der Jugend
    Selbst Hitler erlag dieser Suggestion, als er die Belagerung Moskaus zugunsten der Eroberung von Baku aufgab. Bei geopolitischen Aspekten belässt es Wackwitz indes nicht. In der Mitte des Sturms, der alle drei Länder über Jahrzehnte in das Sowjetimperium einschloss, stand jene Ideologie, die auch den Autor selbst in seiner Jugend erfasste, der Kommunismus:
    "Ich war ja Kommunist, habe mir eingebildet, ein Kommunist zu sein als junger dummer Mensch. Das hat sich dann lebensgeschichtlich erledigt, aber es hat sich ja auch historisch sehr stark erledigt. Eine Zeit lang hat man ja wirklich gedacht, dass das ein gangbares Modell der geschichtlichen Entwicklung sein könnte, wenn man hier und da einige Demokratisierungsprozesse einbaut. Auch das ist etwas, was man hier besichtigen kann. Man kann hier die Schäden, die dieser historische Irrtum angerichtet hat sehen."
    Die "Verwirrungen des jungen Stephan" sind nun - so bestätigt das Buch - einer liberalen Sicht gewichen. Unterstützt wird er dabei von vielen Georgiern, die sich inzwischen als leidenschaftliche Europäer sehen. Ein wenig naiv scheint indes schon die Gegenüberstellung von kommunistischer Ideologie und liberaler westlicher Demokratie. Umso nachvollziehbarer ist Wachwitz' Urteil zu Peter Handke, einem Autor, der sich ebenfalls dem Wandern verschrieben hat - speziell im ehemaligen Jugoslawien, dem Land seiner Mutter; wobei allerdings seine ästhetische Sicht der Dinge in politische Statements ausschlug. Das rief bekanntlich zahlreiche Kritiker auf den Plan:
    "Vielleicht hat Handke den Fehler gemacht, eine ästhetische Erfahrung zu politisieren. Ich glaube, dass Handke so ein ähnliches Gefühl wie ich hat: Oh, hier geht meine Kindheit verloren, und hat das vielleicht mit einem politischen Gefühl verwechselt, wobei er dann in politische Fehleinschätzungen geraten ist."
    Davon bleibt das Buch von Stephan Wackwitz weitgehend verschont. Auch deshalb, weil der Autor sich geschichtsphilosophische Urteile versagt. Auch in Hinblick auf die Diskussion um Moderne. Adorno und Horkheimer hatten zu Ende des Zweiten Weltkriegs in ihrer Schrift "Dialektik der Aufklärung" diese Moderne noch als katastrophisch eingeschätzt, für Stephan Wackwitz indes überwiegen positivere Elemente. Es bleibt indes dieser Rest - aus Wehmut, Poesie und Verlust.
    "Ich glaube sie (die Moderne) ist de facto positiv. Ich glaube, es gibt nichts an der Moderne, das man grundsätzlich ablehnen muss. Was man aber sagen darf, ist, dass sie die Welt nicht unbedingt schöner macht. Also einerseits macht sie das Alte poetisch und andererseits wird abgeräumt."
    Stephan Wackwitz: "Die vergessene Mitte der Welt - unterwegs zwischen Tiflis, Baku, Eriwan"
    Fischer Verlag, 2014. 248 Seiten, 19,99 Euro