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Ta-Nehisi Coates
"Amerikaner glauben an Rasse"

Die wiederkehrenden Fälle von Polizeigewalt gegen Afroamerikaner haben die Debatte um Rassismus in Amerika angeheizt. Bereits im vergangenen Jahr legte der Journalist Ta-Nehisi Coates, einer der einflussreichsten schwarzen Intellektuellen der USA, einen sehr persönlichen Essay über Rasse und Rassismus in Amerika vor. "Zwischen mir und der Welt" ist jetzt auf Deutsch erschienen.

Von Katja Ridderbusch | 07.03.2016
    Demonstranten in Chicago halten ein Banner mit Fotos von Schwarzen hoch, auf dem steht "Ermordet durch die Polizei"
    Bürger von Chicago demonstrieren gegen Polizeigewalt (dpa / Picture Alliance / Tannen Maury)
    Michael Brown, Eric Garner, Walter Scott: Drei Namen aus der jüngsten Vergangenheit, die für Gewaltakte weißer Polizisten gegen schwarze Bürger in Amerika stehen. Auf die Gewalt folgte Gegengewalt: Proteste, Plünderungen und Vandalismus an Orten wie Ferguson, New York und Baltimore. Dies seien keine bedauerlichen Einzelfälle. Sondern: Rassismus in Amerika sei systemisch und strukturell, eingewoben in die Identität des Landes, schreibt der Journalist Ta-Nehisi Coates in seinem Essay "Zwischen mir und der Welt".
    "Amerikaner glauben an 'Rasse' als fest umrissenes, naturgegebenes Merkmal unserer Welt. Rassismus – das Bedürfnis, Menschen bis ins Mark zu kategorisieren und daraufhin zu demütigen, zu reduzieren und zu vernichten – wäre demnach eine unvermeidliche Folge dieser unabänderlichen Gegebenheit. So wird Rassismus zur unschuldigen Tochter von Mutter Natur (…). Doch Rasse ist das Kind des Rassismus, nicht seine Mutter."
    Das Buch, 2015 in den USA erschienen, stand an der Spitze der "New York Times"–Bestsellerliste und gewann den National Book Award. Die Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison bezeichnete es als "Pflichtlektüre".
    Ta-Nehisi Coates hat für seinen Essay die Form eines Briefes an seinen 15-jährigen Sohn gewählt. Darin seziert er das Wesen des Rassismus in Amerika, verbindet seine persönliche Geschichte mit der Geschichte des Landes.
    Angst vor Gewalt und dem Ausgeliefertsein
    Coates wuchs in den 80er Jahren in einem Schwarzenviertel von Baltimore auf. Gangs beherrschten die Straßen, Gewalt war allgegenwärtig. Verhaltensregeln waren überlebenswichtig, erklärt Coates im US-Rundfunk NPR:
    "Geh’ um Gottes willen nicht allein zur Schule. Stell’ sicher, dass du in einer Gruppe von fünf oder sechs Leuten gehst. Vermeide bestimmte Wohngegenden, außer du kennst jemanden dort, deine Großmutter oder einen Cousin. Beweg’ dich immer, als ob du ein klares Ziel hättest. Sei wachsam, sei immer bereit dich zu wehren, hab Deine Umgebung genau im Auge."
    Zwei Motive ziehen sich durch Coates' Essay: Die ständige Angst vieler Afroamerikaner vor Gewalt, vor dem Ausgeliefertsein. Und die Verletzlichkeit des eigenen Körpers. Wie ein Stakkato hämmert er die Worte "Angst" und "Körper" in das Bewusstsein des Lesers – in einer Sprache, die kraftvoll, poetisch, manchmal auch bedrängend ist.
    "Die Angst, (...) sie war da, direkt vor meinen Augen. Sie lebte in den Posen der Jungs meines Viertels, in ihren großen Ringen und Anhängern, ihren dicken Jacken und Ledermänteln mit Pelzkragen, ihrer Rüstung gegen die Welt. Wenn ich heute an diese Jungs denke, sehe ich nur ihre Angst; ich sehe, wie sie sich gegen die Geister der bösen alten Zeit wappnen, in der sich der Mississippi-Mob um ihre Großväter scharte, um die Zweige des schwarzen Körpers abzufackeln."
    Den Teufelskreis der Angst konnte Coates erst durchbrechen, als er Baltimore verließ und an der afroamerikanischen Howard-Universität in Washington, D.C. studierte. Hier begegnete er Prince Jones, einem jungen Afroamerikaner aus bürgerlichem Haus. Der lebte so, wie sonst – zumindest nach Coates’ bisheriger Erfahrung - nur Weiße leben. Und wurde trotzdem Opfer von Polizeigewalt.
    "Er kam aus einer wohlhabenden Familie, er hatte Eliteschulen besucht, seine Mutter war Ärztin. Er hatte alles, was in Amerika zählt. Und er wurde getötet. Hingerichtet wie ein Schwerverbrecher."
    Später stellte sich heraus: Prince Jones war das Opfer einer fatalen Verwechslung geworden. Es gab eine Untersuchung, aber der Täter blieb straffrei. Coates‘ Wut und Trauer waren so groß, dass ihn sogar die Anschläge vom 11. September 2001 ein Jahr später kalt ließen. Dass er im New Yorker Finanzviertel, selbst angesichts der schwelenden Skelette der Twin Towers, nur den ehemaligen Ort des Sklavenhandels sah:
    "Ich dachte daran, dass das südliche Manhattan für uns schon immer Ground Zero gewesen war. Dort hatten sie unsere Körper versteigert, in diesem verwüsteten, passend benannten Finanzviertel. Und einst gab es dort einen Friedhof für die Versteigerten. Auf einem Teil davon hatten sie ein Kaufhaus errichtet. (…) Ich wusste, dass Bin Laden nicht der Erste war, der in diesem Teil der Stadt Terror ausübte."
    "Du und ich, mein Sohn, wir sind dieses 'Unten'."
    Coates ist gespalten in seiner Botschaft an seinen Sohn: Er hat Angst um ihn, nicht nur körperlich. Er will verhindern, dass sein Sohn naiv in sein Erwachsenenleben startet. Deshalb beschreibt er mit bitterer Ernüchterung die soziale Wirklichkeit im Amerika des 21. Jahrhunderts, wo Versöhnung zwischen Weißen und Schwarzen kaum möglich scheint.
    "Du und ich, mein Sohn, wir sind dieses 'Unten'. Das galt 1776. Das gilt auch heute. Es gibt kein sie ohne dich, und ohne das Recht, dich zu brechen, fallen sie zwangsläufig vom Berg, verlieren ihre Göttlichkeit und purzeln aus dem Traum."
    Die Rassismus-Debatte wird in den USA seit Jahren intensiv geführt – in den Medien und in der Politik, in den Hörsälen und in Hollywood. Und derzeit vor allem im Wahlkampf, wo die Kandidaten sich in ihren Versprechen einer Reform von Polizei und Justiz überbieten. Dennoch hat Ta-Nehisi Coates wenig Hoffnung, dass sich die Lage der Afroamerikaner in absehbarer Zeit ändert:
    "Ob wir Wandel erwarten können? Ich bin da eher skeptisch. Die Polizei in Amerika steht ja nur stellvertretend für das Verhältnis zwischen der breiten amerikanischen Gesellschaft und der schwarzen Bevölkerung."
    "Zwischen mir und der Welt": Der Essay von Ta-Nehisi Coates über Rasse und Rassismus in Amerika ist kein großes, vielleicht nicht einmal ein wirklich gelungenes Buch – allein schon, weil sich der Autor zu oft vom Pathos überwältigen lässt, von Selbstgerechtigkeit und Selbstmitleid. Lesenswert ist es trotzdem – als ein tief persönliches, radikal subjektives, aber durchgehend leidenschaftliches und niemals langweiliges Manifest.
    Buchinfos:
    Ta-Nehisi Coates: "Zwischen mir und der Welt", übersetzt von Miriam Mandelkow. Hanser, Berlin, 2016. 240 Seiten, 19,90 Euro.