Freitag, 19. April 2024


Stehparty im Korallenriff

Frühmorgens ist das Korallenriff vor der Küste von Boipeba ein himmlischer Ort. "Piscinas naturais" nennen die Menschen das Riff: Naturschwimmbad. Bei Ebbe ist das Wasser hier smaragdgrün, der ideale Ort zum Schnorcheln. Bis elf Uhr. Dann kommen die Speedboote.

Von Jörg-Christian Schillmöller mit Fotos von Dirk Gebhardt | 09.08.2013
    Jeden Tag kommen sie hierher, die Speedboote - die meisten aus der Touristenhochburg Morro de São Paulo auf der Nachbarinsel Tinharé. Binnen 20 Minuten ankern um uns herum 14 Boote. Und kurz darauf sind mehr als 100 Menschen im Wasser. Das Riff ist voll.

    Korallen erkunden: im besten Fall heißt das, sie zu anzuschauen und nicht groß zu berühren - und schon gar nicht auf ihnen herumzutrampeln. Iasira von der Umweltschutzorganisation "Pro Mar" setzt sich seit Jahren dafür ein, dass die "piscinas naturais" - und damit das Ökysystem des Korallenriffs - erhalten bleiben. "Die Schäden fangen beim Ankern an", sagt sie. "Die Kapitäne werfen die Anker einfach auf das Riff und schädigen damit die Korallen."

    Inzwischen dröhnen Bässe und irgendwie brasilianisch klingende Musik von einem der Speedboote über das Riff. Die Stehparty beginnt: Ein Restaurantschiff hat kleine, viereckige Tische an Seilen ausgeworfen, die jetzt im Wasser treiben. Der Besitzer macht seinen Job seit 16 Jahren und betont, dass er der Presse noch nie ein Interview gegeben hat. Und dass das so bleibt. Stattdessen verkauft er frisch gepressten Saft, Caipirinha und Fisch. Die ersten Gäste kommen, unter ihnen Estera aus dem Bundesstaat Minas Gerais.

    Sie bestellt ein Mineralwasser und hat alles richtig gemacht: Sie hat die schwarz-gelben Fische - die Sargentinhos - im Riff nicht gefüttert. Allerdings nicht, weil sie gewusst hätte, dass das verboten ist, sondern weil sie - kaum im Wasser - gleich von so vielen Sargentinhos umringt war, dass sie ein bisschen Angst bekam.

    Will aus England beobachtet die Szene mit gemischten Gefühlen. Er macht gerade Urlaub auf Boipeba und hat die Tagestour mit seiner Freundin gebucht. Einmal um die Insel, erster Stopp: Korallenriff.

    "Wir sind von unserem Bootsführer informiert worden", berichtet er. Das heißt: er weiß jetzt (unter anderem), dass er das mitgebrachte Sandwich nicht den Sargentinhos geben darf. Iasira von Pro Mar nennt den Grund: "Bei Ebbe gibt es hier nur noch den Sargentinho", sagt sie. "Er ist die einzige Fischart, und das liegt daran, dass er von Touristen angefüttert wurde."

    Die Situation im Riff wird jetzt skurril. Die Speedboote von den Inseln haben einen Kreis gebildet. In der Mitte tauchen, schnorcheln und trinken Touristen. Und vom Festland nähern sich zwei knallgelbe Kanus aus Kunststoff, die aussehen wie schwimmende Bananen. Drin sitzen - bezahlt von der Präfektur - zwei Umweltschützer: Sie sollen die Riff-Besucher an Ort und Stelle aufklären darüber, was hier erlaubt ist und was nicht.



    Mit dem Paddel arbeiten sich beide durch Menschen und Schnellboote, sie pfeifen und winken, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen. Einer von ihnen notiert auf einer wasserdichten Kladde die Namen der Schnellboote und die Zahl der Mitreisenden: die Präfektur in Cairú will herausfinden, wie viele Menschen zum Riff kommen.

    Die Zahlen erschrecken: Heute sei wenig los, hören wir - und "wenig los" ist schon alles andere als idyllisch. Aber in der Hochsaison (also im Sommer, unserem Winter) sind hier mitunter mehr als 40 Boote - und um die 1000 Personen pro Tag.

    Inseltourismus 2013: Die "piscinas naturais" sind in Gefahr. Immerhin gibt es inzwischen einen Gesetzentwurf, um den Zugang zum Riff zu reglementieren. Iasira von "Pro Mar" wünscht sich, dass die Bootsführer konsequente Aufklärungsarbeit leisten und dass die Boote wenigstens außerhalb ankern.

    Sie ist guten Mutes, dass das Gesetz - das seit einem Jahr auf der Agenda steht - bald verabschiedet wird. Und dass sie bald für ihre Organisation neue Geldgeber findet. Denn "Pro Mar", so räumt Iasira ein, hat Geldsorgen: Der Sponsor, der die NGO lange finanziert hat, ist pleite.


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    Jörg-Christian Schillmöller
    ist seit 2001 Nachrichtenredakteur beim Deutschlandfunk. Er war mehrfach für den Sender im Ausland auf Reportage-Reisen - zuletzt 2012 mit Dirk Gebhardt im Iran. Brasilien hat er im vergangenen Jahr entdeckt.

    Dirk Gebhardt ist Fotograf und Professor für Bildjournalismus an der FH Dortmund. Er arbeitet seit Frühjahr 2012 an einer Langzeit-Dokumentation über den Sertão, eine Trockenwüste im Nordosten Brasiliens. Fotografiert hat er neben Südamerika auch in Afrika und auf dem Balkan.
    Karte von Boipeba