Donnerstag, 28. März 2024

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DIHK-Chef zum Handelsstreit
"Wir haben einen Marathon vor uns"

Der Präsident des Industrie- und Handelskammertags, Eric Schweitzer, mahnt für die Verhandlungen über ein EU-Zollabkommen mit den USA Geduld an. Ziel sei der Abbau von Handelshemmnissen, sagte er im Dlf. Allerdings solle man sich keine Illusionen machen.

Eric Schweitzer im Gespräch mit Theo Geers | 29.07.2018
    Der Präsident des DIHK, Eric Schweitzer
    Der Präsident des DIHK, Eric Schweitzer (dpa/picture alliance/Wolfgang Kumm)
    Theo Geers: Herr Schweitzer, das Thema Außenhandel ist das große Thema in dieser Woche gewesen. Am Donnerstagabend, spät abends gegen 22.30 Uhr kamen dann die ersten Meldungen, dass sich die EU und die USA, dass sich EU-Kommissionspräsident Juncker und Präsident Trump in Sachen Handel aufeinander zu bewegt haben. Was haben Sie da eigentlich Donnerstagabend spontan gedacht?
    Eric Schweitzer: Ja, da habe ich geschlafen, ehrlicherweise. Es war ja irgendwann um 23 Uhr in der Ecke. Ich habe nicht mit einem solchen Ergebnis gerechnet - zumindest jetzt nicht in der Anfangssituation - und glaube auch, dass das eine gute Basis sein kann, zu einer sinnvollen Lösung zu kommen. Allerdings sollte man sich auch keine Illusionen machen und sagen, das wird jetzt so. Insbesondere aus den Erfahrungen der letzten anderthalb Jahre.
    Geers: Da spielt ja schon so eine gewisse Skepsis mit. Und diese Skepsis steht ja in einem gewissen Kontrast zu dem, was zumindest zum Beispiel der Bundeswirtschaftsminister in seiner allerersten Reaktion getwittert hat. Warum sind Sie so ein bisschen skeptisch?
    Schweitzer: Also, zunächst mal kann es daran liegen, dass Menschen unterschiedliche Naturelle haben. Also, zunächst mal, warum ist es so wichtig, möglichst eine sinnvolle Lösung zwischen der Europäischen Union und den USA zu finden. Ein Drittel des gesamten Handelsvolumens weltweit findet zwischen Europa und den USA statt. Bei uns ist jeder vierte Arbeitsplatz vom Export abhängig, in der Industrie jeder zweite Arbeitsplatz. Das hat also wirklich große Bedeutung für den Wirtschaftsstandort Deutschland und für die Beschäftigung in Deutschland. Ich bin nicht unbedingt skeptisch in dem Sinne, dass ich glaube, das ist nicht gut, was da gemacht wurde. Warum glaube ich, es ist … wir sollten nicht zu froh sein, denn damit ist ja noch kein Vertrag abgeschlossen, der zwei Unterschriften trägt. Nun ist zunächst mal die Basis gelegt dafür, um Gespräche zu führen. So aus den letzten anderthalb Jahren und so manchem Verhalten des amerikanischen Präsidenten … lässt, glaube ich, ein bisschen Skepsis da, ob denn jetzt Kontinuität stattfindet in den Verhandlungen, was auch wirklich dazu führen kann, dass man für beide Seiten einen fairen Deal macht.
    "Mal sehen, ob wir 42 Kilometer erreichen"
    Geers: Sie haben schon Donald Trump erwähnt und seine Sprunghaftigkeit, dass man bei ihm also nie so hundertprozentig weiß, ob er nun dabei bleibt, was er sagt, oder ob er das am nächsten Tag wieder umwirft - per Twitter oder wie auch immer. Ist das auch ein Grund, weswegen Sie da so ein bisschen vorsichtig bleiben?
    Schweitzer: Ja, sicherlich ist das ein Grund. Wobei ich mir wirklich wünsche, dass wir zu einer guten Lösung kommen, denn das ist nicht nur für Europa, nicht nur für Deutschland wichtig, das ist auch für die USA wichtig, auch für die Beschäftigung in den Vereinigten Staaten. Und das wäre, glaube ich, schon ein guter Schritt mal wieder in die Richtung von mehr Freihandel und weniger Protektionismus. Also, das wäre ein deutliches Signal in die Welt. So, jetzt sind wir … jetzt haben wir einen Marathon vor uns und sind bei Kilometer … wir sind gerade am Start. Mal sehen, ob wir 42 Kilometer erreichen.
    Geers: In der Tat ist jetzt die spannende Frage, wie es weitergeht, Herr Schweitzer. Und die Frage eins, die einem sich da natürlich stellt, ist die Frage des Verhandlungsklimas. Und, wenn die USA weiter ihre Zölle erheben auf Stahl und Aluminium, wenn die Drohung mit Auto-Zöllen ja auch noch weiter im Raum steht, ist das eigentlich für Sie eine, ja, gute Vorbedingung für erfolgreiche Gespräche? Oder müssten nicht diese Zölle auf Stahl und Aluminium erst mal zurückgenommen werden?
    Schweitzer: Also, wenn wir ins reale Leben zurückgehen und auch ins reale Verhandlungsleben zurückgehen, ist es unrealistisch zu sagen, wir verhandeln erst, wenn ihr die Zölle wegnehmt. Wenn man sich mal einen Moment in die Situation der USA versetzt, sagen die ja, die verhandeln erst, weil wir die Zölle machen. Wir hätten ja auch ohne die Zölle verhandelt. Da wollte es keiner. Also, ist ein bisschen das Henne-Ei-Problem. So, wie ich es verstanden habe, sollen ja zunächst die Auto-Zölle ausgesetzt sein, bis es entweder kein Ergebnis gibt oder einer die Verhandlung für beendet erklärt. Solange soll es nicht stattfinden. Das Thema der Stahl- und Aluminium-Zölle ist nicht schön, aber ist vom Grunde her, vom Volumen her ja auch, zumindest für Deutschland, einigermaßen überschaubar.
    Ein Mann arbeitet im BMW-Werk in Regensburg (Bayern) an einem BMW.
    Die von US-Präsident Trump angedrohten 20-Prozent-Zölle würden die deutsche Autoindustrie hart treffen (picture alliance / dpa / Armin Weigel)
    Geers: Verhandlungen auf Augenhöhe kann man aber nur führen, wenn keine der beiden Seiten noch ein Druckmittel in der Hand hält, wie Trump das offenbar macht mit seinen Auto-Zöllen, die er jederzeit wieder herausholen könnte. Muss die Drohung nicht dennoch vom Tisch?
    Schweitzer: Ich glaube nicht, dass die Drohung von den USA vom Tisch genommen wird, weil sie damit ja natürlich beabsichtigen zu sagen, zu einem vernünftigen Ergebnis zu kommen. Wenn man ein Stück weit ehrlich ist, sagt die EU ja auch: Falls ihr Auto-Zölle macht, machen wir auch Gegenzölle, insbesondere auf pharmazeutische Produkte, auf Medizinprodukte, auf die Chemie. Und das ist ja auch nicht aus der Luft, sondern es steht vom Grund her. Nur da können wir jetzt sagen, sagt die USA, wir machen Auto-Zölle, dann sagt die EU, dann machen wir Gegenzölle. Das steht im Raum. Das wissen auch beide. Und ich glaube, weil das so ist, haben auch beide ein Interesse, dass es nicht dazu kommt.
    Am liebsten ein großes Freihandelsabkommen
    Geers: Nun soll ja speziell über den Zollabbau für Industriegüter gesprochen werden. Ist das für uns, für die Exportnation Deutschland, eine gute Nachricht?
    Schweitzer: Also, natürlich wäre uns ein großes Freihandelsabkommen, wie es ja mit TTIP beabsichtigt war, lieber, wo wir nicht nur über Industriezölle sprechen, sondern insgesamt über Zölle und über insgesamt nicht tarifäre Hemmnisse, unterschiedliche Standards und Ähnliches. Wenn man wieder in die Realität zurückblickt - ist das realistisch? Nein, es ist nicht realistisch. Vielleicht nur als Hinweis. Das Freihandelsabkommen zwischen Japan, was jetzt die Europäische Union abgeschlossen hat, wurde über sieben Jahre verhandelt. Ich glaube nicht, dass der amerikanische Präsident, die amerikanische Regierung sagen wird, wir setzen jetzt mal aus und verhandeln in sieben Jahren ein Freihandelsabkommen. Also muss man gucken: Was ist realistisch? Sodass ich glaube, es ist zunächst ein guter Ansatz zu sprechen, zunächst mal über das Thema Industrie, über Zölle auf … Nullzölle auf Industriegüter. Darüber hinaus in diesem Bereich Abbau der Subventionen und andere Dinge.
    Geers: Was meinen Sie mit "andere Dinge"?
    Schweitzer: Andere Dinge meine ich jetzt die …
    Geers: Öffentliche Aufträge, Zugang zu öffentlichen Aufträgen - oder was meinen Sie?
    Schweitzer: Das betrifft ja den reinen Industriebereich weniger, weil eine Kommune selten Industrieanlagen kauft - hoffe ich zumindest. Sondern das betrifft ja dieses Thema "Buy American" in manchen Ausschreibungsbedingungen, betrifft ja eher andere Bereiche. Das ist ja jetzt nicht Teil, sondern das Industrieabkommen ist zunächst mal oder das Industrieabkommen, was kommen soll, zunächst mal ein kleineres Abkommen, was ausschließlich auf Industriegüter bezogen ist. Ich glaube, es ist ein sinnvoller erster Schritt, auch, wenn man sich Europa anschaut und ein weitergeben des Freihandelsabkommen ja auch in Europa nicht ganz unstrittig ist. Ich erinnere nur an Frankreich und auch dort die große Gegenwehr, beispielsweise, wenn man das ganze Thema Landwirtschaft mit reinnehmen würde, was ja drin wäre. Und ich glaube, es ist gut zu sagen zunächst mal, jetzt Verhandlungen zu beginnen an einem nicht so komplexen Thema, das versuchen, zügig zu einer Lösung zu führen und dann Schritt, für Schritt, für Schritt voranzugehen.
    Geers: Europa ist das Stichwort, Herr Schweitzer. Es hat jetzt in dieser Woche immer wieder geheißen, die Tatsache, dass Europa geschlossen gewesen sei und hinter Jean-Claude Juncker gestanden habe, das sei auch ein Grund gewesen, weshalb es in Washington diese Lösung erst einmal gegeben habe. Sehen Sie das genauso? Ist Europa geschlossen?
    Schweitzer: Also, ich glaube, dass unsere Lebensversicherung als Deutschland und der übrigen EU-Mitgliedsstaaten ist, dass es eine Europäische Union gibt. Es hat noch nie eine so lange Zeit des Friedens zwischen den 28 EU-Mitgliedsstaaten, wie es ihn gibt, seitdem es die Europäische Union gibt. Die wirtschaftlich positive Entwicklung über mehrere Jahrzehnte gibt es erst, seitdem es die Europäische Union gibt und einen Europäischen Binnenmarkt gibt. Das heißt, das ist … unsere Lebensversicherung ist die europäische Lebensversicherung. Ich glaube, dass das eine ganz maßgebliche Rolle spielt, dass wir als Europa einheitlich auftreten in Wirtschaftsfragen. Sie müssen wissen, circa sieben Prozent der Einwohner der Welt wohnen in Europa. Circa 25 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung findet in Europa statt. Und circa 50 Prozent der weltweiten Sozialleistungen finden in Europa statt. Das heißt, jedes einzelne der 28 Mitgliedsstaaten ist nur dann wirtschaftlich nachhaltig erfolgreich und wahrnehmbar, wenn es im Rahmen der Europäischen Union handelt und jeder Einzelne ist für sich zu klein, egal, ob es Deutschland oder Malta ist.
    Geers: Die Frage war aber, Herr Schweitzer: Erleben Sie die Europäische Union im Moment als einen geschlossenen Block, der da gegenüber den Amerikanern entsprechend auftritt?
    Schweitzer: Ich sage mal, es kann nie so geschlossen sein, als wenn wir ein Nationalstaat wären. Wir sind aber dafür, dass wir 28 verschiedene Länder sind mit 28 verschiedenen Regierungen, Kulturen, unterschiedlichsten Sprachen, unterschiedlichsten Währungen, sind wir, glaube ich, relativ geschlossen. Und es ist der "Schweiß der Edlen" wert, dass wir immer möglichst einheitlich auftreten, auch Wege dafür finden, einheitlich in Wirtschaftsfragen aufzutreten, um dann auch ähnliche Ergebnisse zu erzielen. Und ich glaube, das ist ein wichtiger Punkt gewesen, jetzt zumindest zu dem ersten Zwischenergebnis zu kommen mit der amerikanischen Regierung, dass wir als Europäische Union, dass Juncker und Malmström dort aufgetreten sind. Und ich glaube, dass die deutsche Bundesregierung nicht diesen Erfolg gehabt hätte, aber nicht, weil sie schlechter ist, sondern einfach, weil sie nicht die wirtschaftliche Power hat, die die Europäische Union hat.
    Geers: Noch einmal zurück zu dem, was jetzt passieren muss, Herr Schweitzer. Sie sagten gerade, es ist eher unrealistisch, dass man jetzt großes, umfassendes Abkommen mit den Amerikanern aushandeln kann, weil das im Wesentlichen viel zu lange dauern würde, und weil zweifelhaft ist, ob zum Beispiel der Präsident im Weißen Haus derzeit ausreichend Geduld mitbrächte, um so eine Zeit abzuwarten. Wenn Sie als deutsche Wirtschaft sich so eine Art Wunschzettel überlegen dürften, was müsste dann in diesem Fall zuerst verhandelt werden? Also, worüber sollte man in jedem Fall versuchen, zu einer Einigung zu kommen und was könnte eventuell noch dazukommen? Also, können Sie einige Sektoren nennen, wo es wichtig wäre aus deutscher Sicht?
    Schweitzer: Also, ich glaube, was jetzt angedacht ist, ein Abkommen zu schließen über Nullzölle im Industriebereich. Das halte ich für gut. Da ist ja im Wesentlichen der Pharmabereich, der Chemiebereich, der Medizinbereich. Das ist ja sinnvoll. Der Autobereich ist wohl ausgenommen. Und darüber hinaus gemeinsam aufzutreten im Rahmen der WTO für faire Handelsbedingungen auch weltweit. Das, glaube ich, ist auch sinnvoll. Was ich mir noch wünschen würde, dass wir auch stärker über nicht tarifäre Hemmnisse sprechen, also Handelshemmnisse. Das heißt über einheitliche Standards. Und dann, glaube ich, wäre das schon ein gutes Abkommen, wenn es denn gelingt es hinzubekommen und keine Störmanöver dazwischenkommen.
    Geers: Soweit zum Wunschzettel der Industrie an das mögliche Handelsabkommen, was man mit den USA abschließen sollte. Herr Schweitzer, Stichwort Zuwanderung. Die Union vor allem hat sich wochenlang regelrecht bekriegt, dabei in den Abgrund geschaut und es sich dann wieder anders überlegt. Die SPD hat ein bisschen mitgeholfen bei der Rettung dieser Regierung. Und zu dieser aktiven Beihilfe zur Rettung der Regierung gehört auch ein Einwanderungsgesetz, das aber so nicht heißen darf. Es heißt jetzt "Fachkräftezuwanderungsgesetz" und soll bis Ende des Jahres unter Dach und Fach sein. Bevor wir über das Gesetz selbst reden, Herr Schweitzer, wie groß ist das Problem Stichwort Fachkräftemangel? Wie viele Leute fehlen jetzt schon und wie entwickelt sich das weiter?
    Zuwanderung "kein Gutmenschenthema"
    Schweitzer: Das Thema Fachkräftemangel ist das zentrale Problem, zentrale Herausforderung für die deutsche Wirtschaft. Bei allen unseren Umfragen, die wir in den Unternehmen durchführen, gibt es nicht ansatzweise ein anderes Problem, was eine solche herausgehobene Stellung hat.
    Geers: Also, noch größer als zum Beispiel die Sorgen vor einem Handelskrieg oder Ähnlichem?
    Schweitzer: Deutlich höher. Deutlich höher. 60 Prozent, also mehr als die Hälfte aller deutschen Unternehmen sagt, das Thema Fachkräftemangel ist für uns Kernthema Nummer eins. Vier von zehn Unternehmen in Deutschland müssen inzwischen Aufträge ablehnen. Das ist so die Höchststrafe, die Sie einem Unternehmer antun können. Müssen Aufträge ablehnen, weil sie nicht genügend Fachkräfte haben. Jede zweite offene Stelle kann langfristig nicht besetzt werden. (Anmerkung der Redaktion: Herr Schweitzer hat diese Aussage nach Ausstrahlung des Interviews korrigiert. Richtig sei, dass jedes zweite Unternehmen langfristig offene Stellen nicht besetzen könne). Das ist unser zentrales Problem. Und deswegen ist es unglaublich wichtig, dass wir sehr zügig zu einem guten Fachkräftezuwanderungsgesetz kommen wollen. Zurzeit verlassen pro Jahr 700.000 Schüler die Schule und circa eine Million Menschen gehen in Rente. In zwei Jahren, also morgen, gehen 1,2 Millionen pro Jahr in Rente und die Schülerzahl bleibt die gleiche. Alleine daraus ergibt sich noch mal jetzt eine zusätzliche Herausforderung. Wie können entsprechend Fachkräfte besetzt werden? Deswegen glaube ich, ist das ein zentrales Thema. Das ist kein Gutmenschenthema, sondern das ist ein zentrales Thema für die deutsche Wirtschaft.
    Geers: Was würde denn passieren, wenn in Sachen Erleichterung der Zuwanderung nichts passieren würde?
    Schweitzer: Wir würden, wenn das langfristig passieren würde, einen sehr großen Wohlstandsverlust in Deutschland erleiden, weil natürlich, ich sage mal, auch Auftraggeber nicht darauf warten zu sagen: "Wenn ich einen Auftrag erteile, kannst du liefern?" "Na, ich kann in zwei Jahren liefern, denn ich habe keine Fachkräfte." Dann gehen die woanders hin. Und dann gehen auch die anderen Arbeitsplätze in Deutschland verloren. Das heißt, es geht darum, den Status quo und Wohlstand zu erhalten. Und, wenn man nichts tut, wird es schlechter.
    Geers: Dann reden wir mal über das Gesetz, was da kommen soll. Was muss denn aus Sicht der Wirtschaft da drinstehen?
    Schweitzer: Vielleicht noch eine Zahl vorab. Wir haben zurzeit ein Beschäftigungs- … wir haben ja im dreizehnten Jahr in Folge in Deutschland einen Beschäftigungsaufwuchs, also zusätzliche Beschäftigungen. Über einen solchen langen Zeitraum wie noch nie zuvor. Im letzten Jahr waren das alleine 600.000 zusätzliche Arbeitsplätze in Deutschland. Dieses Jahr ist die Prognose irgendwo bei 500.000. Inzwischen, auch bereits im letzten Jahr und den Jahren davor wurde über die Hälfte der neuen zusätzlichen Arbeitsplätze über Fachkräfte aus dem Ausland besetzt. Das heißt, wir müssen jetzt dazu kommen, dass wir Fachkräftezuwanderung nach Deutschland bürokratisch deutlich erleichtern, und dass wir zum Beispiel auch nicht nur für Akademiker aus dem Ausland, also Nicht-EU-Ausland, wir reden über Nicht-EU-Ausland immer, weil in der EU die Freizügigkeit gilt. Akademiker aus dem Nicht-EU-Ausland dürfen ja auch bisher schon nach Deutschland kommen, ohne einen Arbeitsplatz zu haben und haben ein halbes Jahr Zeit, sich einen Arbeitsplatz zu suchen. Und wenn sie innerhalb von einem halben Jahr den nicht finden, gehen sie wieder zurück und kriegen in der Zwischenzeit keine Sozialleistungen. Das wünschen wir uns auch für beruflich Qualifizierte, dass das nicht nur für Akademiker gilt, sondern auch für beruflich Qualifizierte, dass die hierherkommen können, dass die sich dann einen Arbeitsplatz suchen, ihre Qualifikation anerkennen lassen und dann auch hierbleiben dürfen.
    Geers: Sie reden von beruflich Qualifizierten. Nun gibt es ja eine sogenannte Positivliste von Mangelberufen in Deutschland. Das sind ungefähr 60 Berufe, die dort aufgelistet sind, wo eben eine Zuwanderung möglich ist. Taugt diese Liste aus Ihrer Sicht?
    Schweitzer: Ja, ich glaube, sie ist … erstens, sie ist zu wenig flexibel, denn ich kenne inzwischen kaum noch einen Berufszweig, wo kein Fachkräftemangel ist. Und das Zweite ist, wenn sie bisher in einem Mangelberuf sind aus dieser Liste, brauchen sie einen Arbeitsvertrag, bevor sie nach Deutschland kommen. Jetzt überlege ich mir, eine Pflegekraft aus den Philippinen braucht einen Arbeitsvertrag in Deutschland, bevor sie hierherkommen darf. Das ist bürokratisch. Das ist komplex. Das ist schwierig. Wie wollen sie das machen? Ein Arbeitgeber will zumindest denjenigen ja auch mal gesehen haben neben der reinen Bewerbung und vielleicht auch mal ein Gespräch geführt haben. Deswegen glaube ich, brauchen wir dort deutlich bürokratische Erleichterung in dem Sinne, wie ich es gesagt habe.
    Geers: Hubertus Heil plant so etwa ja. Er sagt ja, dass er für Bewerber, die nach Deutschland kommen wollen, eine Frist von sechs Monaten einführen will. Innerhalb derer können sie sich bewerben. Sie können auch versuchen, ihre Berufsabschlüsse hier in Deutschland anerkannt zu bekommen. Das geht also aus Ihrer Sicht in die richtige Richtung?
    Schweitzer: Genau. Ich finde den Vorschlag, den der Bundesarbeitsminister gemacht hat in diesem Bereich, gut.
    Geers: Noch mal zurück zu dieser Liste mit den 61 Berufen. Da taucht vieles nicht auf, wo trotzdem Mangel herrscht. Ich sage mal jetzt ein Beispiel. Kellner sucht man vergebens. Die suchen aber auch die Gastwirte vergebens derzeit. Wäre es eine Option, diese Liste einfach ganz abzuschaffen?
    Schweitzer: Ich glaube, wenn wir zu einer Situation kommen, dass wir wissen, wir haben einen Fachkräftemangel, wir wissen, er wird noch dramatisch zunehmen und wir wissen, das ist ein großes Problem für den Wohlstand in Deutschland, also müssen wir es lösen. Glaube ich, wenn wir die Lösung haben, dass wir einerseits sagen, Akademiker können nach Deutschland, ohne dass sie vorher einen Arbeitsvertrag haben, könnte man das Gleiche auch für beruflich Qualifizierte machen und ich glaube, in dem Sinne auch auf eine solche Liste verzichten.
    Geers: Sie hoffen ja jetzt generell, Herr Schweitzer, aus Sicht der Wirtschaft auf durchlässigere Grenzen. Wenn man jetzt aber mal das politische Klima im Land nimmt, dann muss man ja feststellen, dass der Wind genau aus der gegengesetzten Richtung kommt. Es geht um Grenzkontrollen. Wir reden über Rückführungen von Schutzsuchenden und, und, und. Und alles läuft irgendwie unter dem Obertitel, weniger Ausländer im Land zu haben. Und jetzt kommt die Wirtschaft und sagt, wir brauchen aber ein Fachkräftezuwanderungsgesetz. Wie wollen Sie das unter einen Hut bringen?
    Schweitzer: Also, aus Wirtschaftssicht, glaube ich, ist es wichtig, diese komplexe Herausforderung im Einzelnen sich anzuschauen. Erstens: Kein Land der Welt ist, bezogen auf den Wert pro Einwohner, so abhängig von internationalen Verflechtungen und von Offenheit, wie es Deutschland ist. Zweitens: Wir haben eine wirtschaftliche Situation bezüglich des Fachkräftemangels, die, wenn wir sie nicht lösen - und, das sage ich ausdrücklich, wir können sie alleine nicht lösen aus dem Bestand an Arbeitsplätzen, die wir noch in der sogenannten stillen Reserve haben, also aus Vereinbarkeit Familie, Beruf oder aus … Langzeitarbeitslose in Beschäftigungen zu bringen, das alleine reicht bei Weitem nicht aus, um das zu lösen und den Wohlstand der Menschen, die hier sind, zu erhalten. Und das Dritte ist: Ich glaube, man muss sehr deutlich differenzieren zwischen dem Thema Flüchtlinge und Asyl und dem Thema Fachkräftezuwanderung. Bei Fachkräftezuwanderung geht es nicht um das im Grundgesetz verbriefte Recht aus Asyl, sondern da geht es darum, dass wir qualifizierte Fachkräfte nach Deutschland holen wollen, die anschließend dann hier auch Steuern zahlen und ins Sozialsystem einbezahlen und nicht zu Lasten des Sozialsystems hier leben. Das andere Thema ist das Thema Flüchtlinge, wo wir eine humanitäre Aufgabe haben und die Diskussion darum, wie viele Flüchtlinge können aufgenommen … und inwieweit ist das möglich. So, das sind aber unterschiedliche Themen. Und ich glaube, was ganz wichtig ist, dass wir als Wirtschaft, aber nicht nur als Wirtschaft, sondern auch Gewerkschaften, auch andere wichtige Organisationen und Institutionen in diesem Land darauf hinweisen: Kein Land ist so abhängig von der Internationalisierung, von der Offenheit von Märkten, von der Toleranz gegenüber Dritten wie Deutschland.
    Logo der Bundesagentur für Arbeit mit Menschenmenge.
    Die "stille Reserve" etwa der Arbeitslosen in Deutschland reiche nicht aus, um den Fachkräftemangel zu beheben (imago / Ralph Peters)
    Geers: Braucht es eine andere Willkommenskultur?
    Schweitzer: Ich glaube, in diesem Bereich sollten wir uns nicht darauf verlassen, dass, wenn Deutschland sagt, wir brauchen Fachkräfte, dass alle Fachkräfte dieser Welt auf Wanderung gehen und nach Deutschland kommen wollen, weil hier das Wetter so schön ist. Also, wir müssen auch schauen, dass wir offen sind, und dass wir wahrscheinlich auch in manchen Bereichen eine andere Willkommenskultur brauchen.
    "Etwas an der Willkommenskultur tun"
    Geers: Deutschland konkurriert ja im Grunde mit anderen Ländern um dieselben Leute. Die Leute können sich überlegen, ob sie nach Kanada einwandern oder in die USA. Deswegen frage ich noch mal nach der Willkommenskultur. Wenn wir hier im Lande ausländerfeindliche Übergriffe haben, wenn wir eine Diskussion haben, wie werden wir die Leute wieder los, ist das ja alles eigentlich eine Debatte, die einem Ausländer, wenn er von außen auf Deutschland schaut, erst einmal etwas suspekt vorkommen könnte.
    Schweitzer: Also, ich glaube, auch hier muss man es ein Stück weit differenzieren. Ich glaube, dieses Land hat schon eine sehr gute Willkommenskultur. Und ich glaube, wenn man ein Stück weit den Mikrokosmos Berlin verlässt und auch mal in andere Städte, in andere Regionen in Deutschland geht, was ich gelegentlich mache, merkt man, dass das hier sehr fokussiert politisch diskutiert wird. Ich glaube, wir haben eine Willkommenskultur in Deutschland. Man muss die Themen einzeln sich anschauen. Und wir müssen aber an unserer Willkommenskultur, glaube ich, auch noch etwas tun. Also, nie ist etwas perfekt, sodass man sagt, man ist fertig damit. Aber ich glaube, so schlecht, wie es teilweise geschildert wird, ist es nicht.
    Geers: Sie haben gerade gesagt: "Wir müssen auch trennen zwischen der Zuwanderung in den Arbeitsmarkt und der Zuwanderung, die wir haben in Form von Schutzsuchenden, die nach Deutschland kommen." Nun sind ja gerade die Flüchtlinge der Knackpunkt hierzulande, also, die Menschen, die schon da sind, die möglicherweise auch als Arbeitskräftepotenzial zur Verfügung stehen. Was tun jetzt? Soll man da flexibler sein? Wir erleben im Alltag in der Verwaltungspraxis häufig, und das erleben auch die Menschen draußen im Land, das erleben auch die Unternehmer im Land, dass sie manchmal das Gefühl haben, es werden die Falschen zurückgeschickt, die, die sich schon halbwegs integriert haben, die schon eine Ausbildung gemacht haben. Und andere, die wird man nicht los. Also, wie kommt man hier aus dem Dilemma raus?
    Schweitzer: Zunächst ganz wichtig vorneweg. Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, kommen nicht hierher, um ein Fachkräfteproblem zu lösen. Dafür ist es auch nicht gedacht, sondern sie kommen eher in einen separaten Bereich des Themas, des grundgesetzlichen Anspruchs auf Asyl. Und der Staat hat zu entscheiden, ob dieser Anspruch gerechtfertigt ist oder nicht.
    Geers: Sie kommen aus Not. Sie kommen entweder aus wirtschaftlicher Not oder sie kommen aus politischer Not, weil in ihrem Land Krieg herrscht.
    Schweitzer: Genau, aber nicht von der Wirtschaft, zu sagen, damit ist ein Beitrag zur Lösung des Fachkräfteproblems … sondern wir als Wirtschaft setzen dann ein, wenn nach dem grundgesetzlichen Anspruch auf Asyl … dann prüft der Staat: Gibt es einen Bleiberechtsstatus oder nicht? Und dann ist ein wichtiger Teil der Integrationsaufgabe, die wir dann leisten, aber wir akquirieren nicht. Also, wir holen Flüchtlinge nicht gezielt ins Land. So, was tun wir? Die größte Herausforderung bei der Integration von Flüchtlingen ist das Thema deutsche Sprache. Die Kurse, die das BAMF anbietet, sind gut, um zunächst mal umgangssprachlich Deutsch zu sprechen, reichen aber nicht aus für berufsqualifizierende Sprachangebote. Das heißt, da brauchen wir deutliche Verbesserung.
    Wir brauchen des Weiteren Verbesserung des sogenannten 3-plus-2-Verfahren, also, wenn jemand noch keinen dauerhaften Aufenthaltsstatus hat, eine Ausbildung begonnen hat, dass er diese zu Ende führen darf und anschließend zwei Jahre auch in der Ausbildung arbeiten darf. Das steht im Koalitionsvertrag, wird aber nicht bundeseinheitlich umgesetzt. Das sollte auch bundeseinheitlich umgesetzt werden. Was wir da als Wirtschaft konkret tun, über 14 Prozent der ausbildenden Unternehmen in Deutschland bilden Flüchtlinge aus. Über 16 Prozent haben das vor, in den nächsten zwei Jahren und über 20.000 Flüchtlinge haben inzwischen einen Ausbildungsplatz bei Unternehmen. Das heißt, die deutsche Wirtschaft engagiert sich sehr stark für die Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt, denn am Ende des Tages hängt Integration von zwei Faktoren ab. Das Erste ist: Beherrsche ich die deutsche Sprache - auch für den Beruf, in dem ich tätig bin? Punkt zwei: Nehme ich Teil im Ausbildungs- oder Arbeitsmarkt? Denn die beste Integration findet über Ausbildung und Arbeit statt. Und da ist unser Ansatz dann, wie gesagt, wenn Flüchtlinge im Land sind, die unterschiedlichsten Verfahren zur Anerkennung einsetzen, dann sind wir tätig genau in dem Bereich der Integration in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. Das ist aber ein steiniger Weg und ein langer Weg.
    Geers: Herr Schweitzer, vielen Dank.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.