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Steinmeier in der Türkei
"Unglücklicher Zeitpunkt für unglücklichen Besuch"

Die SPD-Politikerin Lale Akgün zweifelt an Zeitpunkt und Sinn des Türkeibesuchs von Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD). Die mögliche Einführung der Todesstrafe in der Türkei und der dort vorherrschende Wunsch nach Abbruch der Verhandlungen mit der EU führten zu einer Instrumentalisierung des Besuchs, so Akgün im DLF. Dabei blute "allen Demokraten das Herz".

Lale Akgün im Gespräch mit Sarah Zerback | 15.11.2016
    Die frühere Politikerin und heutige Buchautorin Lale Akgün
    "Es geht der AKP um Leben und Tod, um es mal so auszudrücken. Sie müssen mit aller Macht ihre Position wahren und an der Macht bleiben": SPD-Politikerin Lale Akgün (dpa / picture-alliance)
    Sarah Zerback: Am Telefon begrüße ich jetzt die SPD-Politikerin Lale Akgün, einstige Islam-Beauftragte ihrer Fraktion und heute in der Staatskanzlei Nordrhein-Westfalens für internationale Angelegenheiten zuständig. Guten Tag, Frau Akgün!
    Lale Akgün: Guten Tag.
    Zerback: Frau Akgün, hat die Türkei diese Weichen nicht längst gestellt?
    Akgün: Ja. Vorneweg vielleicht: Ich möchte heute als SPD-Politikerin reden, und meine eigene Meinung hier äußern. Das ist wichtig, weil an vielen Punkten ich der Meinung bin, dass der Besuch zum Beispiel von Außenminister Steinmeier zu einem sehr ungünstigen Punkt erfolgt. Es ist ganz einfach, weil in der Türkei ja permanent Propaganda gemacht wird damit, wie wichtig die Türkei ist oder wie viele wichtige Leute immer wieder die Türkei besuchen. Sie kommen zu ihnen, zu ihren Füßen, und jetzt kommt ausgerechnet der Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten zu ihnen. Auch das wird ausgeschlachtet werden. Insgesamt, denke ich, ein unglücklicher Zeitpunkt für einen unglücklichen Besuch. Denn während Außenminister Steinmeier mit dem Außenminister Cavusoglu gesprochen hat, gab es Live-Sendungen aus der Türkei, wo eigentlich klar war, man will die EU nicht mehr.
    Zerback: Was wäre denn ein besserer Zeitpunkt gewesen? Kommt der Besuch zu spät?
    Akgün: Ich weiß nicht, ob es einen besseren Zeitpunkt gibt und ob der Besuch zu spät oder zu früh kommt. Ich glaube, mir ging es um die Symbolpolitik von Herrn Steinmeier, um nichts anderes im Moment. Denn letztendlich, wann der Besuch auch Erfolg, ich glaube, die Weichen der Türkei sind gestellt Richtung Osten, Richtung Revision und Richtung raus aus der EU und aus Europa.
    "Mit wem kann man eigentlich noch als Diplomat reden?"
    Zerback: Was wäre denn die Alternative? Die Hände in den Schoß legen und sagen, der Zug ist eh abgefahren?
    Akgün: Nein! Ich glaube, man muss ganz klar vielleicht noch mal etwas erwähnen, was ich auch wichtig finde. Die Türkei plant jetzt ein Referendum, und zwar sollen ja bei dem Referendum zwei Dinge auf einmal abgefragt werden: Wollt ihr die Todesstrafe, und wollt ihr in der EU bleiben, oder sollen die Verhandlungen mit der EU weitergeführt werden? Die beiden Fragen werden gestellt.
    Zerback: Und über das Präsidialsystem soll auch abgestimmt werden.
    Akgün: Aber zuerst einmal diese beiden Dinge zusammen. Und der AKP-Grande Burhan Kuzu sagte gestern in einer Live-Sendung, er geht davon aus, dass 60 bis 70 Prozent für die Todesstrafe sind und gegen die weiteren Verhandlungen mit der EU. Das heißt, es werden Dinge bereits diskutiert, wo wir uns sagen müssen, mit wem kann man eigentlich noch als Diplomat reden. Natürlich soll man den Faden nicht abreißen lassen. Das ist ganz klar. Aber die Frage ist, ob man mit diesen Leuten noch eigentlich auf eine Art und Weise reden kann, wo man zu einer Synthese kommen könnte.
    Zerback: Glauben Sie nicht, dass dieser Besuch auch dafür genutzt werden kann? Frank-Walter Steinmeier hat ja vor seiner Abreise davor gewarnt, die Todesstrafe einzuführen. Welchen anderen Hebel hätte er denn noch?
    Akgün: Ich glaube, er hätte vielleicht gestern Abend auch mit Herrn Kuzu reden sollen, dem AKP-Abgeordneten, der ganz klar gesagt hat, es kann ja sein, dass die EU danach die Beitrittsverhandlungen abbricht, wenn wir die Todesstrafe einführen. Aber wir wollen ja auch Wahlen gewinnen, und wenn 70 Prozent der Bevölkerung für die Todesstrafe sind, werden wir sie selbstverständlich einführen. Ich glaube, diese Warnung stößt auf taube Ohren, weil sich die AKP von dieser Todesstrafe mehr verspricht als von den Verhandlungen mit der EU. Ich glaube, man muss eine Sache klarstellen: So wichtig wirtschaftliche Beziehungen sind und die persönlichen Beziehungen. Die AKP ist im Moment eigentlich auf einem ganz anderen Trip. Sie muss ihre Position absichern. Sie muss dafür sorgen, dass diese Regierung nicht stürzt, dass Erdogan nicht stürzt, und dass danach demokratische Dinge ins Rollen kommen, die all das, was diese Regierung gemacht hat, in Frage stellen könnten. Es geht der AKP um Leben und Tod, um es mal so auszudrücken. Sie müssen mit aller Macht ihre Position wahren und an der Macht bleiben.
    Zerback: Aber genau davor, wenn ich Sie da mal unterbrechen darf, haben ja zum Beispiel auch die Kurden in der Türkei Angst. Die HDP warnt ja sogar in Teilen davor, den Dialog jetzt abbrechen zu lassen, weil genau das noch viel gefährlicher für das Land sein könnte. Ist das nicht ein Argument, was man durchaus nachvollziehen kann?
    Akgün: Natürlich! Es geht ja nicht nur um die Kurden, um die HDP, es geht um alle Demokraten der Türkei, die sich im Stich gelassen fühlen. Mir ist natürlich ganz klar, dass auch die Bundesregierung in einer schwierigen Situation ist. Spricht sie mit der AKP, festigt sie deren Position; spricht sie mit keinem, lässt sie auch die Demokraten in der Türkei im Stich. Es ist eine Situation, in der es kaum eine Lösung gibt. Es kann auch nicht der Außenminister in die Türkei reisen und dann nur mit NGOs und der Zivilgesellschaft sprechen. Das ist auch ganz klar.
    "Es gibt, glaube ich, im Moment keine Lösung, die uns befriedigen könnte"
    Zerback: Was wäre denn dann Ihr Vorschlag?
    Akgün: Wenn ich den Vorschlag hätte, würde ich wahrscheinlich den Friedensnobelpreis bekommen können. Es gibt, glaube ich, im Moment keine Lösung, die uns befriedigen könnte, weil auf der einen Seite sehen wir natürlich, dass Gespräche fortgesetzt werden müssen. Gleichzeitig blutet allen Demokraten das Herz, wenn sie erleben müssen, wie die Besuche von gut meinenden europäischen Politikern instrumentalisiert werden.
    Zerback: Frau Akgün, so nachvollziehbar Ihr Argument klingen mag, aber es klingt doch sehr fatalistisch. Eine Lösung haben wir im Prinzip nicht. Was sollen wir denn in der Zwischenzeit machen, bis diese Lösung gefunden wird?
    Akgün: Ich glaube, wir müssen weiterhin den Kontakt zur Zivilgesellschaft halten. Wir müssen den Kontakt zu den Oppositionsparteien halten, diese Menschen stützen, unterstützen. Es mag ja das, was ich sage, fatalistisch klingen. Aber wenn Sie mit Oppositionspolitikern in der Türkei sprechen, oder mit Journalisten, dann sehen Sie, dass eigentlich alle eine sehr, sehr düstere Zukunft prognostizieren.
    Zerback: Aber genau das macht Steinmeier jetzt auch. Genau das tut er, sich mit Oppositionellen treffen und auch mit Menschen der Zivilgesellschaft. Ist das nicht genau das Signal, was Sie fordern?
    Akgün: Ja, natürlich! Das ist auch ganz wichtig. Nein, ich finde den Besuch wichtig und richtig. Ich habe nur davon gesprochen, dass man auch gucken muss, wie dieser Besuch instrumentalisiert wird. Aber das ist eine Beigabe, mit der man wahrscheinlich leben muss, wenn man in solche Diktaturen reist, dass die immer die Besuche instrumentalisieren. Die Frage ist aber wirklich, ob die Türkei in dieser Situation wirklich ernsthaft in der EU einen Platz hätte oder nicht, und ich sehe diesen Platz im Moment eigentlich nicht. Das heißt, die Fortführung der Beitrittsgespräche kann nur dazu dienen, dass man weiterhin im Gespräch bleibt, aber nicht ernsthaft der Türkei die Tür zu öffnen, in die EU beizutreten.
    "Man muss wirklich die Beitrittsgespräche abbrechen"
    Zerback: Verstehe ich Sie richtig, Sie fordern auch ein Ende der Beitrittsgespräche?
    Akgün: In dem Moment jetzt, wie die Situation ist, würde ich sagen, man muss wirklich die Beitrittsgespräche abbrechen, weil ich sehe eigentlich nicht, wohin diese Beitrittsgespräche führen sollten. Ich glaube, dass die Türkei die Beitrittsgespräche eh selber abbrechen wird. Und an der Stelle sollte man überlegen, ob man dem nicht zuvorkommt und selber sagt, bis dahin und nicht weiter.
    Zerback: … sagt die SPD-Politikerin Lale Akgün. Besten Dank für das Gespräch heute hier im Deutschlandfunk.
    Akgün: Gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.