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Francisco Cantú
"No man's land"

Ein ehemaliger US-Grenzschützer hat die Seiten gewechselt und versucht, mexikanischen Einwanderern zu helfen. Seinen Wandel und seine Erlebnisse schildert er anschaulich in einem Buch, das nun auf Deutsch erhältlich ist.

Von Ina Rottscheidt | 06.08.2018
    Hintergrundbild: US-Grenzfahnder fahren in einem Auto an Mauern und Befestigungen an der Grenze zu Mexiko entlang, bei Otay Mesa, Kalifornien, USA, am 14. Oktober 2010. Vordergrund: Buchcover.
    Das Buch von Francisco Cantú ist die Geschichte eines Mannes, der als US-Grenzschützer jahrelang Einwanderer verfolgt hat – obwohl er selbst mexikanische Vorfahren hat. (picture alliance / dpa / Mike Nelson & Carl Hanser Verlag )
    Warum arbeitet ein Enkel mexikanischer Einwanderer als US-Grenzpolizist? Warum macht er es sich zur Aufgabe, Einwanderer ohne Papiere zu jagen, zu verhaften und abschieben zu lassen? Als Francisco Cantú 2008 Mitglied der United States Border Patrol, der amerikanischen Grenzpolizei wurde, war er 23 Jahre alt. Der aus Arizona stammende US-Amerikaner hatte Politik studiert und er entschied:
    "Ich will vor Ort sein, die Praxis erleben, den realen Alltag an der Grenze. Ich weiß, dass es hässlich sein kann, dass es gefährlich sein kann, aber ich weiß keinen besseren Weg, die Grenze wirklich zu verstehen."
    Vier Jahre lang spürt Cantú mit Kollegen bei sengender Hitze Einwanderern in der Wüste Arizonas nach, zerstört Verstecke mit Wasser und Lebensmitteln, greift Menschen auf, die von der Flucht völlig erschöpft sind.
    Ein Beruf wird zur Bürde
    Aber es ist nicht so, wie er sich das vorgestellt hat: Es sind nicht Vergewaltiger, Drogendealer und Kriminelle, die ihm da begegnen - die "bad hombres", wie US-Präsident Donald Trump die Migranten später nennen sollte. Sondern fast immer verzweifelte Menschen: auf der Flucht vor Armut und Gewalt in der Heimat. Junge Menschen, Familien, Kinder. Am Ende erträgt Cantú den Job nicht mehr:
    "Ich sehe die Leute durch die Wüste stolpern […], Männer, die ohne Nahrung und Wasser umherirren und langsam sterben, während sie nach einer Straße Ausschau halten, einem Dorf, einem Ausweg. In meinen Träumen suche ich nach ihnen, ohne Erfolg, bis ich schließlich auf ihre Leichen stoße, die vor mir auf der Erde liegen, […] menschliche Wegmarken in einer weiten und glühend heißen Landschaft."
    Cantú kündigt. In einem amerikanischen Fernsehinterview erklärt er heute, wie ihn diese Erfahrung verändert hat:
    "Der Job bringt dich dazu, Mitgefühl zu unterdrücken, du schiebst es weg, du gewöhnst dich an die Gewalt. Wie viele andere habe auch ich nicht darüber gesprochen, über meine Zweifel, meine Träume und Alpträume."
    Cantús Buch ist streckenweise ein Sammelsurium an Erzählungen, Perspektiven, Auszügen aus wissenschaftlichen Texten und Reportagen. Klarheit gewinnt es erst, als der Autor von José erzählt:
    Ein mexikanischer Familienvater, von dem Cantú nicht weiß, dass er keine Aufenthaltsgenehmigung hat. Die beiden freunden sich an, da hat Cantú längst seinen Grenzer-Job an den Nagel gehängt und arbeitet in einem Café.
    Die innere Wende
    Eines Tages verschwindet José. Der Autor fängt an, nach ihm zu suchen und - so scheint es - erst jetzt versteht er das System wirklich:
    "Als Grenzschützer bist du immer da draußen in der Wüste unterwegs, aber für mich war es das erste Mal, dass ich sozusagen hinter den Vorhang schauen konnte, auf die amerikanische Abschiebeindustrie. Du weißt das alles theoretisch, aber dann ist da jemand, der sich durch dieses System durchkämpfen muss, ganze Familien sind betroffen. Mitzubekommen, wie das jemandem passiert, den ich kenne, hat mich wirklich verändert."
    30 Jahre lang hatte José in den USA ohne Papiere unentdeckt gelebt, gearbeitet, sich ein bescheidenes Leben aufgebaut. Die drei Söhne mit amerikanischer Staatsbürgerschaft gehen zur Schule. Als seine Mutter im Sterben liegt, kehrt er noch einmal nach Mexiko zurück. Zurück in die USA schafft er es dann nicht mehr. Jeder Versuch, noch einmal die Grenze zu überqueren, scheitert. José wird inhaftiert und abgeschoben. Ein Schicksal, das tausenden Migranten widerfährt. Cantú muss erkennen:
    "Menschen, die mustergültige Staatsbürger sein könnten, werden auf diese Weise zu Verbrechern gemacht."
    Ein undurchdringliches Abschottungssystem
    Francisco Cantú beschließt, der verzweifelten Familie bei Gerichtsterminen und mit dem Papierkram zu helfen. Doch schmerzhaft wird ihm klar, wie wenig er gegen das System, für das er selbst gearbeitet hat, ausrichten kann.
    "Im Einwanderungssystem wird oft vergessen, dass diese Leute auch Menschen sind."
    200.000 Menschen wurden allein im Jahr 2017 aus den USA abgeschoben. Im Juni verfügte Trump, Kinder von ihren Eltern direkt hinter der Grenze zu trennen. Das würde abschrecken, so Trumps Überzeugung. Nach einem weltweiten Aufschrei der Empörung hat er diese Praxis mittlerweile stoppen lassen - doch immer noch sitzen zahlreiche Minderjährige in Auffanglagern.
    In Zeiten, in denen auch Europa immer mehr auf Abschottung setzt, ist Cantús Buch ein wichtiger Beitrag zur Debatte: Eine Mahnung, die Menschen hinter den Zahlen zu sehen. Und zu begreifen, dass Grenzen Migranten nicht davon abhalten, in den reichen Ländern des Nordens nach einem besseren Leben zu suchen:
    "Je schwieriger es wurde, auf die andere Seite der Grenze zu kommen, desto höher wurden die von den Schleppern verlangten Preise. Und je lukrativer der Menschenschmuggel wurde, desto mehr geriet dieses Geschäft unter die Kontrolle von Drogenkartellen. […] Mit jeder Verschärfung des Grenzregimes konnte man an jedem potentiellen Migranten mehr Geld verdienen. Für die Schlepper ist es eine simple Methode der Profitmaximierung."
    Francisco Cantú: "No Man's Land. Leben an der mexikanischen Grenze",
    Hanser Verlag, 239 Seiten, 22 Euro.