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Stellenabbau bei Siemens
Wirtschafts-Experte: Angriff auf den "Pakt" mit den Mitarbeitern

Norbert Kluge von der Hans-Böckler-Stiftung hat im Dlf den Siemens-Konzern wegen der geplanten Streichung von 7.000 Stellen kritisiert. Die Geschäftsführung wolle einseitig über die Zukunft bestimmen. Die Interessen von Kapitalgebern seien aber nicht höher zu bewerten als die der Arbeitnehmer und der Gesellschaft.

Norbert Kluge im Gespräch mit Silke Hahne | 17.11.2017
    Beschäftigte der Siemens-Niederlassung Offenbach protestieren gegen den geplanten Stellenabbau. 17.11.17
    Beschäftigte der Siemens-Niederlassung Offenbach protestieren gegen den geplanten Stellenabbau. 17.11.17 (dpa / Frank Rumpenhorst)
    Silke Hahne: Fossile Energieträger sind die Grundlage für das Kraftwerksgeschäft von Siemens – und das ist aus Sicht des Konzerns so nicht mehr haltbar. Die Konsequenz: Fast 7.000 Stellen werden abgebaut, davon rund die Hälfte in Deutschland. Betriebsbedingte Kündigungen konnte die Personalchefin Janina Kugel nicht ausschließen. Zwei Standorte werden geschlossen.
    Und die Arbeitnehmer laufen Sturm. In Berlin demonstrierten heute rund 1.300 Mitarbeiter gegen die Einschnitte, im Werk Erfurt sollen Hunderte erbost die Mitarbeiterversammlung verlassen haben. Es droht sich ein Riss zu bilden zwischen Konzern und Belegschaft.
    Darüber konnte ich vor der Sendung mit Norbert Kluge sprechen. Er leitet bei der Hans-Böckler-Stiftung die Abteilung "Mitbestimmungsförderung". Als erstes habe ich ihn gefragt: Sind solche Umbauten und radikalen Kürzungen im Sinne der Zukunft nicht eigentlich in Ordnung?
    Norbert Kluge: Aus der Sicht des Unternehmens kann man ein gewisses Verständnis äußern, wenn ihnen ein Geschäftsfeld nicht mehr erfolgreich erscheint, es zu schließen oder aufzugeben. Aus der Sicht der Arbeitnehmer muss ich sagen, es geht um qualifizierte Arbeit, und im Siemens-Konzern selber – der ist bekannt für seine qualifizierte Arbeit – soll und muss es auch für Kolleginnen und Kollegen in solchen Geschäftsfeldern eine Perspektive geben für einen Arbeitsplatz und den Erwerb. Das ist, glaube ich, das, was die Arbeitnehmerseite der Geschäftsleitung dort vorwirft. Sie tut so, als sei es alternativlos, Standorte zu schließen, und zudem die neuen Geschäftsfelder durch die Digitalisierung dann gar nicht mehr in Deutschland anzusiedeln, sondern die Arbeit vollkommen woanders anzufangen.
    "Das Abkommen von Radolfzell ist ein politisches Abkommen"
    Hahne: Jetzt sind Standortschließungen und betriebsbedingte Kündigungen nicht ausgeschlossen worden, trotz des Abkommens Radolfzell II, und das schließt eigentlich beides aus. Verabschiedet sich hier ein deutscher Großkonzern von der Mitbestimmung?
    Kluge: Man muss sagen, das Abkommen von Radolfzell ist ein politisches Abkommen. Es ist aber auch das Vertrauensabkommen zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite, die Zukunft des Siemens-Konzerns, die Transformation des Siemens-Konzerns gemeinsam durchzuführen. Insofern ist es das Rückgrat der Praxis der Sozialpartnerschaft bei Siemens. Wenn Sie so wollen, muss man die Ankündigung, Standorte zu schließen, Menschen aus der Arbeit rauszutun, als einen Angriff auf diesen Pakt verstehen. Ja, das ist so.
    Hahne: Was heißt das jetzt für die Zukunft des Konzerns?
    Kluge: Für die Zukunft des Konzerns heißt es für mich, dass die Geschäftsführung einseitig bestimmen möchte, was denn diese Zukunft sein soll. Wenn wir aber über die Digitalisierung reden, über die neuen Herausforderungen für Unternehmen, dann stellt sich doch die Frage, muss man da nicht nach gemeinsamen Lösungen ringen, muss man nicht gemeinsam darüber reden, was nicht nur die Zukunft der Gewinne von Siemens ist, sondern auch die Zukunft des Erwerbs und der Arbeitsplätze für die Arbeitnehmer in Deutschland und auch in Europa.
    Hahne: Die Argumentation, im Sinne der Zukunft bauen wir Arbeitsplätze ab, damit wir überhaupt noch eine Chance haben in der neuen Welt, die ist nicht neu. Die gibt es zum Beispiel auch bei Thyssen-Krupp. Umbauten gibt es jetzt auch bei Opel, wo noch unklar ist, ob Arbeitsplätze gestrichen werden oder nicht. Ist so ein Abschied von der Mitbestimmung in Europa und in Deutschland eine generelle Entwicklung?
    Kluge: Die Frage, die dahinter steckt, ist doch: Warum sind eigentlich Interessen von Kapitalgebern höher zu bewerten als die von Menschen, von Arbeitnehmern und auch von der Gesellschaft. Und dafür ist die Mitbestimmung eigentlich gemacht worden, nämlich auch unter fundamentalen ökonomisch unterschiedlichen Interessenkonflikten gangbare, gute, gesellschaftspolitisch auch gut begründete Lösungen zu erreichen, die auch eine Zukunft für das Unternehmen wirtschaftlich erreichen.
    Dieser Konsens scheint in der Tat, wenn man auf die anderen Fälle schaut, brüchig geworden zu sein, weil wir in einer Zeit leben, wo Unternehmensfinanzierer, internationale Kapitalgeber anscheinend auch für das Management den Takt angeben. Insofern frage ich mich manchmal, ist das Management eigentlich noch Treiber, oder sind sie inzwischen Getriebene.
    "Mitbestimmung gewährleistet, dass nach gemeinsamen Lösungen gesucht wird"
    Hahne: Welche Gefahren birgt das vielleicht auch für die Gesellschaft, Ihrer Meinung nach?
    Kluge: Die Mitbestimmung gewährleistet, dass nach gemeinsamen Lösungen gesucht wird, dass nicht die eine Seite sich den siebten Maßanzug in den Schrank hängen kann und die andere Seite dafür ihr letztes Hemd geben muss. Das heißt, Mitbestimmung in den Unternehmen sorgt auch dafür, dass so etwas wie Integration, wie Akzeptanz, wie Motivation auch für das Neue entsteht. Wenn wir jetzt sehen, dass ein solcher Pakt, ein solcher Vertrag aufgekündigt wird, werden die Arbeitnehmer erst mal nicht ihre angestrengten Mitbestimmungsrechte verlieren, aber sie werden vielleicht den Glauben darin verlieren, dass man mit der Mitbestimmung zu besseren Lösungen kommt, wirtschaftlich, gesellschaftlich, demokratisch, als ohne sie.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.