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Stephen Crane: "Das offene Boot"
Dieses lidschlaglose Starren

Als Stephen Crane im Jahr 1900 im Alter von nur 28 Jahren starb, hinterließ er ein Werk, das ihn zur Ikone der Literaturgeschichte machte. Seine stilistische Brillanz zeigt sich auch in den nun übersetzten Erzählungen, die unter dem Titel "Das offene Boot" erschienen sind. Sie alle haben etwas mit dem Meer zu tun.

Von Martin Grzimek | 15.02.2017
    Der Tropensturm "Hermine" trifft in Florida auf Land und überschwemmt Uferstraßen.
    Die Küste Floridas während des Hurrikans "Hermine" 2016 (dpa/picture-alliance/Tom Copeland)
    Der amerikanische Autor Stephen Crane, 1871 geboren und bereits 1900* mit 28 Jahren verstorben, ist trotz seiner kurzen Lebenszeit und einer enormen schriftstellerischen Produktivität mehr als eine literarhistorische Legende. Denn einige seiner Texte sind bis heute wegen ihres äußerst präzisen Stils zum Maßstab realistischen Erzählens geworden. So berühmte Autoren wie Joseph Conrad, Ernest Hemingway oder Henry James verweisen immer wieder auf den literarischen Einfluss Cranes auf ihre eigenen Werke.
    Unter anderem ist die etwas mehr als dreißig Seiten lange Erzählung "Das offene Boot" ein Beispiel für Cranes herausragende stilistische Kunstfertigkeit. Unter diesem Titel hat der Herausgeber und Übersetzer Lucien Debrijck nun für den mare-Verlag eine Sammlung von insgesamt fünfzehn Geschichten und Prosastücken aus der Fülle der von Stephen Crane meist in Zeitschriften publizierten Short-Stories zusammengestellt. Sie haben gemäß dem Programm des Verlags alle etwas mit dem Meer zu tun.
    Erzählungen über das Meer
    Während es in der Titelgeschichte um den Überlebenskampf von vier Schiffbrüchigen in einem kleinen Ruderboot bei aufgewühlter See nahe der Küste Floridas geht, versetzen uns die meisten anderen Episoden an Küstenorte Amerikas, Irlands oder auch Griechenlands. In "Abfahrt eines Ozeandampfers" etwa konzentriert sich Crane ganz auf Abschiedsszenen. Ständig wechselt sein Blick von den Zurückbleibenden auf die Davonfahrenden und umgekehrt. Dabei lässt er uns in tumultartigen und herausgehobenen Einzelsequenzen die ganz besondere Stimmung der Wehmut nachvollziehen, die mit einer endgültigen Trennung verbunden ist.
    "Die Menge geriet voreilig in Bewegung. Die Wortwechsel wurden aufgeregter, hektischer. Man sprach lauter und immer schneller, in dem Bewusstsein, dass es nun bald so weit war. Und so mancher fürchtete, in der letzten Minute im Chaos der Köpfe an Deck die Freunde aus den Augen zu verlieren, sodass man dutzendfach die immer gleichen Floskeln hörte, als ob es allen um ein und dieselbe vermisste Person ging."
    Die Verlorenheit des Einzelnen gegenüber einer unbändigen Natur
    Die erschreckende Unüberschaubarkeit der Menschenmenge und die Verlorenheit des Einzelnen gegenüber einer unbändigen Natur oder einer verlassenen Gegend haben Crane in allen seinen Geschichten fasziniert. So schildert er etwa einen Besuch auf Coney Island nach der Hochsaison der Badezeit. Wie mit dem dokumentarischen Auge einer Kamera werden die "tristen Tage" der plötzlich von Menschen leer geräumten Gebäude und Vergnügungsparks beobachtet.
    In der etwas längeren Erzählung "Wie Flanagan sich einmal zum Filibuster aufschwang" zeigt er anderseits in slapstickartigen Episoden den Kampf der Maschinisten mit den stampfenden Motoren in der labyrinthischen Tiefe eines Schiffsbauches. Viele seiner Kurzerzählungen widmen sich auch der Armut der Fischer und ihrer täglichen Auseinandersetzung mit der Widerspenstigkeit der See. "Ein Fischerdorf", "Die Männer im Sturm" oder "Reisende wider Willen" – eine jede dieser Geschichten gibt ein genaues Bild wieder von den Empfindungen der handelnden Personen und der Umgebung, die ihr Handeln bestimmen. Unübertroffen ist das dem Autor in der Titelgeschichte "Das offene Boot" gelungen. Der Kampf der vier Männer in einem Ruderboot gegen eine tosende See ist nie wieder in dieser Intensität beschrieben worden. So etwa in einer Szene, als den um ihr Leben rudernden Männern eine Schar von Seemöwen begegnet, die sich im Sturm völlig unbeschwert und souverän verhält.
    Ausgabe wird der Bedeutung des Autors gerecht
    "Manchmal ließen sie sich auf dem Meer nieder, wo braune Seetangfelder über die Wellen glitten wie aufgehängte Teppiche im Sturm. (...) Oft kamen die Vögel sehr nahe und sahen die Männer mit ihren schwarzen Glasperlenaugen an. Dieses lidschlaglose Starren hatte etwas Unheimliches und Boshaftes, und die Männer suchten sie mit wütendem Geschrei zu verscheuchen."
    Lidschlagloses Starren – ein Ausdruck, den man fast auf Stephen Cranes gesamte Prosa applizieren könnte. Die ausgewählten Erzählungen Cranes, von Lucien Debrijck einfühlsam ins Deutsche übertragen, lässt uns dieses Starren vorzüglich nachvollziehen – präsentiert in einer schön gebundenen Ausgabe im Schuber. Sie wird der Bedeutung dieses Autors – nach vielen Taschenbuchausgaben – endlich gerecht.
    *An dieser Stelle haben wir das Todesjahr korrigiert. Stephen Crane ist nicht im Jahr 1901 gestorben, sondern im Jahr 1900.
    Stephen Crane: "Das offene Boot und andere Erzählungen"
    Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt und herausgegeben von Lucien Debrijck. Mare Verlag, Hamburg 2016. 238 S., Euro: 26,00