Sonntag, 07. April 2024

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Stephen Harding: "Die letzte Schlacht"
Ein interessantes Stück Tiroler Regionalgeschichte

Es ist eines der bizarrsten und sonderbarsten Gefechte des Zweiten Weltkriegs: Amerikanische Soldaten und Wehrmachtssoldaten verteidigen gemeinsam einen Ansturm von 150 SS-Männern. Der amerikanische Militärhistoriker Stephen Harding beschreibt es in seinem Buch "Die letzte Schlacht – Als Wehrmacht und GIs gegen die SS kämpften".

Von Günter Kaindlstorfer | 09.03.2015
    Wie ein Märchenkastell thront es über den Fluten der Brixentaler Ache: Schloss Itter, 20 Kilometer von Kufstein und zehn Kilometer vom Eisenbahnerstädtchen Wörgl entfernt. Schloss Itter sieht aus, als hätte Walt Disney eine mittelalterliche Burg in die Tiroler Bergwelt gesetzt. Das Kastell in seiner heutigen Erscheinungsform wurde in den 1880er-Jahren von einem Münchner Unternehmer namens Paul Spieß erbaut – als repräsentativer Wohnsitz, in dem glänzende Feste und exklusive Empfänge gefeiert wurden. Richard Wagner und Peter Iljitsch Tschaikowski waren hier ebenso zu Gast wie Franz Liszt.
    Nach mehreren Eigentümerwechseln im 20. Jahrhundert sicherte sich Heinrich Himmlers SS 1943 den Zugriff auf das Anwesen. Auf Schloss Itter wurde ein Außenlager des Konzentrationslagers Dachau eingerichtet – zu einem speziellen Zweck: Innerhalb der pittoresken Burgmauern wurden prominente Politiker aus dem besetzten Frankreich inhaftiert: der Sozialist Édouard Daladier zum Beispiel, Premierminister zur Zeit des "Münchner Abkommens", aber auch der konservative Ex-Regierungschef Paul Reynaud, der linke Gewerkschaftsboss Léon Jouhaux und der ehemalige Sportminister des Vichy-Regimes, Jean Borotra. Die SS-Oberen betrachteten die illustren Häftlinge als Geiseln, die man vielleicht später einmal, sofern es die politische Lage gebot, gegen prominente deutsche Gefangene austauschen könnte.
    Anfang April 1943 trafen die ersten Häftlinge aus Frankreich in Schloss Itter ein. Der amerikanische Militärhistoriker Stephen Harding hat genau recherchiert, wie sich die Ankunft vollzog:
    "SS-Untersturmführer Otto Stefan las den Neuankömmlingen die zweifellos recht lockeren Haftregeln vor. Frühstück, Mittag- und Abendessen würde es im Esszimmer im Erdgeschoss des Schlosses geben, aber wenn sie wollten, könnten die Herren ihre Mahlzeiten auch mit aufs Zimmer nehmen oder bei gutem Wetter auf der angrenzenden Terrasse speisen. Jedem Häftling standen zwei Liter Wein pro Woche zu, außerdem gab es ein monatliches Taschengeld von 500 Reichsmark, mit dem sie an einem kleinen Kiosk unter der Treppe im Parterre Tabak, Schreibpapier, Stifte und andere Kleinigkeiten kaufen konnten. Zudem hatten die Männer freien Zugang zur Schlossbibliothek und durften sogar dem großen Rundfunkgerät lauschen, das die Haupthalle schmückte – auch, wenn ausschließlich der Berliner Sender zu empfangen war."
    Stephen Harding dokumentiert die Geschichte des Schlosses Itter ebenso, wie er die Biografien und den Alltag der sogenannten Ehrenhäftlinge nachzeichnet. Einige Herren durften ihre Frauen und Geliebten aus Frankreich nachkommen lassen, darüber hinaus scheint man sich auf Schloss Itter vor allem gezankt zu haben: Der Linke Daladier und der Rechte Reynaud waren erbitterte politische Gegner.
    Solide Recherchearbeit
    Die letzten Kriegswochen des Jahres '45 allerdings brachten unabwägbare Gefahren. Je unübersichtlicher die militärische Lage wurde, umso nervöser reagierten die SS-Besatzer im Schloss. Anfang Mai gingen die Wachmannschaften stiften. Daladier und Co. blieben allein auf Schloss Itter zurück, was ihre Sicherheitslage paradoxerweise verschärfte: Das Unterinntal war voller fanatisierter SS-Männer.
    Um nicht in den letzten Kriegsstunden noch ums Leben zu kommen, nahmen die französischen Häftlinge Kontakt zu den vorrückenden Amerikanern und zum österreichischen Widerstand in Wörgl auf, und ersuchten um Schutz. Der wurde ihnen zuteil: In Gestalt eines Häufchens entlaufener Wehrmachtssoldaten rund um Major Josef "Sepp" Gangl. Bald näherten sich erste SS-Kämpfer dem Kastell: Sie hatten Order, die französischen Häftlinge wenige Tage vor Kriegsende noch zu liquidieren. Allerdings erhielten die Verteidiger des Schlosses kompetente Unterstützung. Nicht nur, dass die rüstigen, noch aus dem Ersten Weltkrieg kampferprobten Politiker rund um Daladier ebenfalls zu den Waffen griffen, auch zehn US-amerikanische Soldaten waren als Vorauskommando auf dem Schloss eingetroffen, um die französische Politprominenz zu schützen. Und dann, am Morgen des 5. Mai 1945, begann der Angriff der SS-Truppen:
    "Es sollte die letzte - und vielleicht seltsamste - Bodenkampfhandlung des Zweiten Weltkriegs in Europa sein", schreibt Harding. Detailliert und in imponierender Faktenfülle rekonstruiert der amerikanische Militärhistoriker des mehrstündige Gefecht, in dessen Verlauf einer der Schlossverteidiger, Major Sepp Gangl, ums Leben kam. Die französischen Häftlinge erlebten die Befreiung des Kastells durch amerikanische Truppen ebenso wie die Mehrzahl der Verteidiger.
    Stephen Harding hat solide Recherchearbeit geleistet. Umso irritierender ist ein Fehler, den kritische Leser auf Seite 160 entdecken werden: Dort lässt Harding einen SS-Hauptsturmführer namens Kurt-Siegfried Schrader auf dem Wiener Westbahnhof einen Zug besteigen, um auf Anweisung des Wiener Waffen-SS-Kommandanten nach Bad Tölz zu fahren - und zwar - laut Harding - am 24. April 1945. Wie der SS-Hauptsturmführer zu dieser Zeit noch Befehle entgegennehmen kann, da Wien doch seit einer Woche von der Roten Armee besetzt ist und der Sozialdemokrat Theodor Körner als Bürgermeister amtiert, weiß wohl nur Harding allein.
    Insgesamt soll man die Bedeutung dieses militärgeschichtlichen Thrillers nicht überbewerten. Was Stephen Harding, Chefredakteur der Fachzeitschrift "Military History", da so umfassend recherchiert hat, ist ein interessantes Stück Tiroler Regionalgeschichte, mit gewissen Bezügen zur französischen Zeithistorie. Im Gesamtgeschehen des Zweiten Weltkriegs allerdings ist das Ganze bloß eine Marginalie. Mehr nicht.
    Buchinfos:
    Stephen Harding: "Die letzte Schlacht. Als Wehrmacht und GIs gegen die SS kämpften", Übersetzung: Andreas Wirthensohn,
    Paul Zsolnay Verlag, 320 Seiten, Preis: 24,90 Euro, ISBN: 978-3-552-05718-0