Das Afghanistan der Taliban

Wo die Gotteskrieger regieren

29:50 Minuten
Wenig vom Fortschritt in Kabul kommt im ländlichen Afghanistan an.
Vom Fortschritt in Kabul kommt im Rest des Landes wenig an: Afghanistan ist größtenteils ländlich geprägt. © Emran Feroz
Von Emran Feroz · 30.04.2019
Audio herunterladen
Afghanistan hat zwei Parallelwelten: In Großstädten wie Kabul leben Reiche und Gebildete ihre Freiheiten aus, in den Dörfern herrschen Armut und Analphabetismus. Die Taliban bauen hier eigene Strukturen auf - oft mit Zustimmung der Bürger.
Mehrere Männer haben sich am Flussufer versammelt. Auch ein paar Kinder schauen gespannt zu. Im Zentrum des Geschehens befindet sich eine Wasserpumpe. Ein junger Mann aus dem Dorf versucht mehrmals, sie in Gang zu bringen. Er stellt den Gang ein, dreht am Kolben und blickt dann in Richtung Schlauch. Das Wasser steht still. Nichts geschieht. Die Pumpe - ein privates Geschenk aus Deutschland - will sich nicht bewegen.
Im Dorf Mussahi im gleichnamigen Kabuler Distrikt ist dies nichts Neues. Hier steht vieles still, und zwar schon seit Jahren.
Die Dorfbewohner von Mussahi versuchen eine Wasserpumpe aus Deutschland in Gang zu bringen. Einer drückt, der Rest steht drum herum und guckt.
Die Dorfbewohner von Mussahi begutachten eine Wasserpumpe aus Deutschland.© Emran Feroz
In Kabul gibt es mittlerweile westlich anmutende Coffeeshops, wo ein Becher Kaffee schon mal über einhundert Afghani – mehr als ein Euro – kosten kann. Es gibt abgesicherte Villen, leuchtende Hochzeitspaläste und viele Orte, an denen die urbane Stadtelite ihren Wohlstand auslebt.
Doch eine 20-minütige Fahrt reicht aus, um eine andere Welt zu erleben. In Mussahi gibt es nichts außer Armut und Krieg. Die Macht im Distrikt hat nicht die Kabuler Regierung, sondern die Taliban. Es ist der am nächsten gelegene Distrikt zur Hauptstadt, der von den Aufständischen kontrolliert wird.

Nachts offenbaren sich die Taliban und patroullieren

Warum das so ist, hat viele und gute Gründe. Wie in vielen anderen ländlichen Regionen Afghanistans hat die Regierung auch hier versagt. Dies ist keine neue Entwicklung, sondern geht schon seit Jahren so. Die Dorfbewohner fürchten sich nicht vor den Taliban. Sie sind ein Teil von ihnen und werden von ihnen unterstützt.
Es ist der klassische Guerilla-Krieg, wie er im Buche steht. Tagsüber offenbaren sich die Kämpfer nicht. Doch sobald die Nacht einbricht, patrouillieren sie. Die Soldaten der afghanischen Armee sind in dieser Region überflüssig. Manchmal sieht man ein paar von ihnen, etwa wenn sie zum Freitagsgebet in die nächste Moschee gehen oder auf ihren Posten verharren. Sie wissen, dass sie in Mussahi nichts zu suchen und auch nichts zu sagen haben. Im allerbesten Fall können sie nur für sich selbst sorgen.
Das Dorf Mussahi liegt an einem Fluss etwa 25 Autominuten von Kabuls Innenstadt. Schneebedeckte Berge sind zu sehen - dazu grüne Felder und Bäume in der Ebene.
Mussahi liegt an einem Fluss etwa 25 Autominuten von Kabuls Innenstadt.© Emran Feroz
Warum die Soldaten der Regierung hier keinen guten Ruf haben, erklärt Student Hasibullah, der aus Mussahi stammt.
"Die Menschen hier unterstützen die Taliban, beziehungsweise das Islamische Emirat Afghanistan, und das hat auch seinen Grund. Im Gegensatz zur Armee sorgen sie für Ordnung und sind in der Lage, Probleme schnell und effektiv zu lösen. Die Regierung tut all dies nicht und ist auch nicht dazu in der Lage. Ihre Soldaten sorgen sich nicht um die Belange der Dorfbewohner und kümmern sich nur um sich selbst. Stattdessen plündern und terrorisieren sie. Das hat bis jetzt jeder Kommandant getan, der hierher entsandt wurde. Sie legen sich nicht mit den Aufständischen an, denn dafür sind sie zu schwach. Stattdessen knöpfen sie sich hilflose Dorfbewohner vor. Das geht schon seit langem so, weshalb sie hier auch nicht erwünscht sind."
Die Probleme, von denen der Student spricht, sind vielseitig. Es geht zum Beispiel um korrupte Regierungsvertreter, die Bestechungsgeld wollen. Aber auch um Familien- und Stammesstreitigkeiten, die in ländlichen Regionen alltäglich sind und die zunehmend von den Taliban mit ihren Regeln gelöst werden. In vielen Gebieten haben die Taliban erfolgreich Parallelstrukturen etabliert. Verschiedenen Schätzungen zufolge wird mittlerweile rund die Hälfte des Landes von ihnen kontrolliert. Viele weitere Distrikte drohen den Aufständischen in die Hände zu fallen.

Der Extremismus hat auf dem Land eine lange Geschichte

Afghanistan wird oftmals ausschließlich mit Kabul und einigen anderen Großstädten assoziiert. Doch dieser Schluss ist falsch. Die Mehrheit des Landes ist nicht urban, sondern ländlich geprägt. Dieses ländliche Afghanistan war stets unterrepräsentiert, sowohl medial als auch politisch.
Doch in ebenjenen Gebieten ließen sich stets der Aufstand, die Revolte und der Extremismus finden. Während der Anglo-Afghanischen Kriege im 19. und 20. Jahrhundert gab es stets eine elitäre Schicht in Kabul, die sich den Briten anbiederte und gegen Kolonialisierungsversuche nichts auszusetzen hatte, während in den Dörfern geplündert und gemordet wurde.
Ähnlich verhielt es sich auch Jahrzehnte später während der sowjetischen Besatzung. Während Studentinnen in Kabul mit linken und feministischen Slogans aufmarschierten, wurden ganze Dörfer von der Roten Armee dem Erdboden gleichgemacht. Die Guerilla-Kämpfer der Mudschaheddin fanden in den meisten Städten kaum Unterschlupf, doch in den Dörfern waren sie willkommen, und ebenjene Dörfer sind heute auch die Heimat der Taliban.

Taliban-Herrschaft bringt keinen ökonomischen Fortschritt

Auch in Mussahi gibt es Taliban-Gerichte und anderweitige Institutionen. Doch an der massiven Armut hat dies nichts geändert. Die Taliban können die Dorfbewohner nicht finanziell unterstützen und ihren Alltag erleichtern. Simpelstes Gerät für die Landwirtschaft fehlt. Seit 2001 flossen Milliarden von Hilfsgeldern nach Afghanistan – doch bereits vor den Toren Kabul sieht man nichts davon, während sich korrupte Politiker, Kriegsfürsten und Drogenbarone massiv bereichert haben.
Vier Kinder im afghanischen Dorf Mussahi. Im Hintergrund ist ein Brunnen zu sehen.
Laut UNICEF gehen in Afghanistan fast vier Millionen Kinder nicht zur Schule. Vor allem in den Taliban-regierten Gebieten, wie hier im Dorf Mussahi, haben sie keinen Zugang zu Bildung.© Emran Feroz
Die deutsche Wasserpumpe – Baujahr 1955 – stammt etwa nicht von der Bundesregierung, sondern von einem privaten Spender aus Kassel, ein Afghane, dessen Familie ursprünglich selbst aus Mussahi stammt, erklärt Mohammad Azif, ein Bauer aus Mussahi.
"Wir haben hier viele Probleme, etwa mit der Landwirtschaft. Wie du siehst, haben wir mit dieser Wasserpumpe zu kämpfen. Ein Freund aus Deutschland hat sie uns vor zwei, drei Tagen zukommen lassen. Wir wissen überhaupt nicht, wie sie funktioniert. Selbst unser Ingenieur aus dem Dorf weiß nicht, wie man das Ding einschaltet. Unser Land ist wirklich arm und zurückgeblieben, auch in Sachen Bildung. Wir sind dann mit solch einfachen Dingen schnell überfordert."

Hoffnung auf Frieden durch Verhandlungen mit Taliban

Das Einzige, was die Menschen in Mussahi und in vielen anderen Regionen wirklich antreibt, ist die Hoffnung auf Frieden, und diese ist in diesen Tagen besonders groß. Der Grund hierfür sind die laufenden Verhandlungen mit den Taliban. In den letzten Monaten fanden mehrere Gesprächsrunden zwischen den Amerikanern und den Taliban im Golfemirat Katar statt. Hinzu kam eine innerafghanische Konferenz in Moskau, an der zahlreiche afghanische Politiker, Kriegsfürsten und Stammesälteste auf der Seite von Ex-Präsident Hamid Karzai präsent waren.
Bei den Gesprächen in Katar ist vor allem eine Person federführend: US-Chefunterhändler Zalmay Khalilzad, der selbst afghanische Wurzeln hat. Khalilzad beeinflusst die US-Politik am Hindukusch seit Jahrzehnten. Ins Rampenlicht trat er bereits in den 1980er-Jahren, als der damalige US-Präsident Ronald Reagan sich mit Mudschaheddin-Führern im Weißen Haus traf. Damals fungierte Khalilzad unter anderem als Dolmetscher. Nun soll er Afghanistan den Frieden bringen.
Der US-Sondergesandte für Afghanistan, Zalmy Khalilzad, steht vor einer USA-Flagge.
Der US-Sondergesandte für Afghanistan: Zalmy Khalilzad. © JIM WATSON / AFP
Doch nicht wenige Afghanen sind zu Recht skeptisch. Der Grund hierfür ist die Tatsache, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt auf der anderen Seite des Tisches nur die Taliban vorzufinden sind. Bei allen Gesprächen, die bis jetzt stattfanden, waren keine Vertreter der Kabuler Regierung vorzufinden. Eine weitere innerafghanische Gesprächsrunde in Katar wurde in der vergangenen Woche abgesagt. Der Grund: Kabul und die Taliban konnten sich bezüglich der Teilnehmerlisten nicht einigen. Die Regierung hatte eine Liste mit 250 Vertretern zusammengestellt und wollte diese nach Doha entsenden. Die Taliban reagierten daraufhin spöttisch und meinten, dass das Treffen "keine Hochzeitsfeier" sei. Hinzu kam, dass die Extremisten jegliche Regierungsvertreter lediglich als Privatpersonen wahrnehmen wollte.
Während die politischen Eliten des Landes weiterhin streiten, hat für Mohammad Azif aus Mussahi die Einkehr des Friedens höchste Priorität.
"Die Menschen in diesem Land haben schon so viel gelitten. Wir wollen endlich in Frieden leben, denn dann können wir auch in Armut verweilen. Wenigstens herrscht dann Ruhe. Zurzeit können wir uns nachts nicht einmal frei bewegen. Es gibt weiterhin Gefechte zwischen Soldaten und Aufständischen. Ich unterstütze die Friedensgespräche und hoffe, dass sie fair und zum Wohle aller Afghanen ablaufen."
Der Unmut über das Desinteresse der Regierung ist allerdings auch in Mussahi zu spüren, wie Student Hasibullah meint:
"Wir befinden uns hier im am nächsten gelegenen Distrikt zur Hauptstadt. Der Präsidentenpalast liegt nur 25 Kilometer weit weg von uns. Doch wir haben hier sehr viele verschiedene Probleme. Es gibt sowohl wirtschaftliche als auch sicherheitstechnische Probleme. Die Regierung interessiert sich allerdings nicht für das Geschehen hier. Unser Distrikt hat auch keinen wahrhaften politischen Vertreter, der sich für die Belange der Menschen interessiert. Niemand repräsentiert uns im Parlament."
Mehr zum Thema