Dienstag, 19. März 2024

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Stichwahl in Frankreich
"Die Pro-Europäer müssen sich gegen Frau Le Pen zusammenschließen"

Der frühere französische Premierminister Jean-Pierre Raffarin hat im Deutschlandfunk die Wahl von Emmanuel Macron bei der französischen Stichwahl als Pflicht bezeichnet. Er forderte die Mitglieder seiner Partei Les Républicains auf, sich hinter dem liberalen Bewerber zu sammeln. Noch am Wahlabend hatte Raffarin Macron seine Unterstützung zugesagt.

Jean-Pierre Raffarin im Gespräch mit Christoph Heinemann | 28.04.2017
    Der ehemalige französische Premierminister Jean-Pierre Raffarin in Paris.
    Der frühere französische Regierungschef Jean-Pierre Raffarin hält einen Sieg der rechtsextremen Kandidatin Le Pen bei der Stichwahl um das Präsidentenamt nicht für möglich. (AFP / Geoffroy Van der Hasselt)
    Für Marine Le Pens Erfolg machte Raffarin unter anderem die schlechte Bilanz des regierenden Präsidenten Hollande, aber auch eine falsche Auswahl des Spitzenkandidaten seiner Partei verantwortlich. Als Gründe für das Scheitern des Kandidaten François Fillon nannte der Konservative Raffarin die Affären, für die er hart angegriffen worden sei, sowie die Urwahl, mit der der Bewerber bestimmt wurde. Sie passe nicht zur Fünften Republik, da sie zu Spaltungen führe statt zum Zusammenschluss.
    Einen Sieg der rechtsextremen Kandidatin Le Pen bei der Stichwahl um das Präsidentenamt hält der frühere französische Regierungschef Raffarin jedoch nicht für möglich. Er sagte im Deutschlandfunk, es sei jedoch nötig, dass man bis zum letzten Augenblick wachsam sei. Das Volk sei der Souverän und manchmal launisch.
    "Die deutsch-französischen Beziehungen und das europäische Projekt werden wieder Werte der Zukunft"
    Marine Le Pens bisherige Erfolge erklärte der ehemalige Premierminister zudem damit, dass sie auf Abstand gegangen sei zu den "häufig vollkommen übertriebenen Äußerungen ihres Vaters". Zudem seien die Stimmen für den Front National Protest gegen die "gescheiterte Politik" von Präsident Hollande, betonte Raffarin.
    Europa und die deutsch-französische Zusammenarbeit bleiben für Raffarin Zukunftsprojekte, konkret die drei Aufgaben: Grenzsicherung, Euro-Politik und Verteidigung.

    Das Interview in voller Länge:
    Das Interview im französischen Original können Sie hier hören.
    Christoph Heinemann: Die erste Wahlkampfwoche hat Marine Le Pen zu ihren Gunsten entschieden. Eine Umfrage besagt, 50 Prozent halten ihren Start Richtung Stichwahl für gelungen. Macron billigen dies nur 43 Prozent zu.
    Am Mittwoch hatten streikende Arbeiter einer Haushaltsgerätefirma in Macrons Heimatstadt Amiens den früheren Wirtschaftsminister ausgebuht, nach dem Frau Le Pen unerwartet, wenige Stunde zuvor, bei den Arbeitern aufgetaucht war. Sie habe, sagte sie, anders als Macron, immer deutlich Position bezogen, wenn französische Firmen ihre Produktion in Billigländer verlagern wollten und sie kündigte an, zur Sicherung der Arbeitsplätze würde sie den Betrieb auch vorübergehend verstaatlichen. Ökonomisch mag das Unsinn sein, kein Wunder aber, dass es für die betroffenen Angestellten 1:0 für Le Pen steht.
    Vor der Sendung haben wir Jean-Pierre Raffarin erreicht, den ehemaligen französischen Premierminister. Er ist Mitglied des französischen Senats und gehört der konservativen Partei Les Républicain an. Diese Republikaner sind mit ihrem Kandidaten François Fillon gerade baden gegangen, die Affäre um die Scheinbeschäftigung seiner Ehefrau hat Fillon um den sicher geglaubten Wahlsieg gebracht.
    Ich habe Jean-Pierre Raffarin gefragt, ob die Wahl zugunsten von Emmanuel Macron entschieden ist?
    Jean-Pierre Raffarin: Eine Wahl ist niemals entschieden, bevor das Volk zu Wort gekommen ist. Ein Sieg ist wahrscheinlich. Ich vertraue darauf. Aber wir müssen bis zum letzten Augenblick wachsam bleiben. Das Volk kann manchmal launisch reagieren. Man muss ständig aufpassen, was es gerade sagt. Also: Vertrauen, aber auch Vorsicht.
    "Ich halte Le Pens Sieg nicht für möglich"
    Heinemann: Das heißt, Sie schließen eine Überraschung, einen Durchbruch von Frau Le Pen im zweiten Wahlgang, nicht vollständig aus …
    Raffarin: Daran glaube ich nicht. Ich halte ihren Sieg nicht für möglich. Da allerdings das Volk der Souverän ist, lassen wir es zu Wort kommen.
    Heinemann: Unterstützen die konservativen Republikaner als Partei Emmanuel Macron?
    Raffarin: Viele Republikaner tun dies, vor allem auch solche aus der Parteiführung. Ich habe am Sonntag um 20.00 Uhr zugunsten von Macron Position ergriffen. Ebenso haben sich Juppé, Fillon, Sarkozy und viele andere für ihn ausgesprochen. Macron ist Europäer, er möchte liberale Vorhaben verwirklichen.
    Meinungsverschiedenheiten bestehen unter anderem bei seiner Steuerpolitik. Aber vor der Wahl zwischen Frau Le Pen und Macron gibt es für uns keine andere Entscheidung als die für Macron.
    "Der Sieger der Präsidentschaftswahl wird voraussichtlich über eine Mehrheit im Parlament verfügen"
    Heinemann: Ist es im Interesse Frankreichs, dass ein möglicher künftiger Präsident Emmanuel Macron auch bei der bevorstehenden Parlamentswahl eine Mehrheit bekommt?
    Raffarin: Wahrscheinlich wird das französische Volk bei den Parlamentswahlen seine Entscheidung der Präsidentschaftswahl bestätigen. Das war bisher allgemein die Regel. Der Sieger der Präsidentschaftswahl, wahrscheinlich Herr Macron, wird voraussichtlich über eine Mehrheit verfügen können.
    Aber das hindert uns Republikaner nicht daran, in jedem der 577 Wahlkreise Kandidaten aufzustellen. Und wir werden alles für das bestmögliche Ergebnis tun. Je mehr republikanische Abgeordnete es geben wird, umso mehr bilden sie ein Gegengewicht gegen den Kurs des neuen Präsidenten, dort, wo der uns nicht passt.
    "Frau Le Pen kann nicht Garantin der Institutionen sein"
    Heinemann: Wie können die Republikaner erklären, dass sie bei der Präsidentschaftswahl zur Unterstützung von Emmanuel Macron aufrufen, aber bei der Parlamentswahl nicht?
    Raffarin: Weil man bei der Parlamentswahl nicht über einen Präsidenten abstimmt. In der Fünften Republik ist die Zuständigkeit des Präsidenten klar: Er ist Oberbefehlshaber der Armee. Er leitet die Außenpolitk. Er ist der Garant der Institutionen. Frau Le Pen kann nicht Garantin der Institutionen sein. Die Wahl Macrons ist Pflicht.
    Andererseits: Die Beschäftigungspolitik, die Haushaltspolitik und viele andere sind Themen, über die das Parlament entscheidet. Für die Abgeordneten der Republikaner sind bestimmte Themen vorrangig: die innere Sicherheit und Beschäftigung. Dafür setzen wir uns im Parlament ein. Gleichzeitig respektieren wir die Verantwortung des Präsidenten. Die Aufgaben der Legislative und der Exekutive unterscheiden sich in der Fünften Republik. Unterschiedliche Mehrheiten sind möglich.
    "Eine 'Kohabitation' wäre durchaus möglich"
    Heinemann: Auch um den Preis einer Kohabitation, mit allen Problemen, die man sich vorstellen kann?
    Raffarin: Die Kohabitation hat in Frankreich nicht immer schlechte Lösungen und Ergebnisse gebracht. Eine Kohabitation mit einem Präsidenten, dessen Funktion respektiert wird, wäre durchaus möglich. Wie mit Präsident Mitterrand und Jacques Chirac als Premierminister oder Premierminister Jospin mit Präsident Chirac. Diese Aufgabenteilung ist möglich. Die Funktionen des Präsidenten und des Parlaments sind unterschiedlich.
    "Urwahlen sind Prozesse, die zu Spaltungen führen"
    Heinemann: Wieso ist das bürgerliche Lager erstmals nicht in einer Stichwahl vertreten?
    Raffarin: Hinter uns liegt ein schwieriger Wahlkampf. Die Affären, für die Fillon hart angegriffen wurde, waren sehr belastend. Außerdem passt die Urwahl des Kandidaten nicht zur Fünften Republik. Bei einer Urwahl treten die verschiedenen Lager einer Partei gegeneinander an, damit ihr Favorit gewinnt. Das führt zu Spaltungen, Spannungen und zu Streit.
    Das hat sich herauskristallisiert und dieses Klima hat nicht zum Schulterschluss beigetragen. Nach General de Gaulles Vorstellung sollte die Fünften Republik eine Republik des Zusammenschlusses sein. Demgegenüber sind Urwahlen Prozesse, die zu Spaltungen führen.
    Heinemann: War Fillon nicht der richtige Kandidat?
    Raffarin: Fest steht, dass er nicht gewählt wurde. Natürlich kann uns dieses Ergebnis, unsere Niederlage, nicht zufriedenstellen. Aber Fillon hatte die Urwahl gewonnen. Deshalb muss man über dieses Verfahren noch einmal diskutieren.
    "Wo Wut herrscht, besteht der Wunsch nach Protest"
    Heinemann: Wie ist Frau Le Pens Erfolg zu erklären, 15 Jahre nachdem Jean-Marie Le Pen in die Stichwahl gelangt ist?
    Raffarin: Frau Le Pen hat das Erscheinungsbild des Front National verändert. Sie hat es weicher gezeichnet. Sie ist auf Abstand gegangen zu den häufig vollkommen übertriebenen Äußerungen ihres Vaters. Das hat ihr einerseits geholfen. Andererseits hat die gescheiterte Politik von Präsident Hollande für große Enttäuschung und Wut gesorgt. Und wo Wut herrscht, besteht der Wunsch nach Protest. Die Wahl des Front National ist in Frankreich zum großen Teil eine Protestwahl.
    Heinemann: 40 Prozent der Wähler haben für Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon gestimmt, das heißt, für eine anti-europäische und deutschfeindliche Denkweise. Wie ist das zu erklären?
    Raffarin: Die anti-europäische Sicht ist nicht deutschfeindlich ...
    Heinemann: … die von Frau Le Pen und Mélenchon schon …
    Raffarin: Das ist komplizierter, da gibt es unterschiedliche Nuancen. Die Wirtschaftskrise in Frankreich und Hollandes gescheiterte Politik sorgen für Spannungen, die, wie in vielen Ländern, beim Thema Europa zum Ausdruck kamen. Ein Grund mehr für uns Republikaner, dass wir uns hinter Macron sammeln.
    Wir sind sehr europäisch ausgerichtet und legen großen Wert auf die deutsch-französische Verständigung. Wir möchten, dass diese besondere und starke Beziehung zwischen Frankreich und Deutschland ein Motor für Europa ist. Das ist unabdingbar, und deshalb müssen sich die Pro-Europäer gegen Frau Le Pen zusammenschließen.
    Deutsch-französische Projekte: "Grenzsicherung, Euro-Politik und Verteidigung"
    Heinemann: Besteht in Frankreich gegenwärtig das Gefühl, dass Deutschland in Europa zu stark und zu dominant ist?
    Raffarin: Gelegentlich ja, in bestimmten Milieus und Regionen. Insgesamt bekennen sich die Franzosen zu Europa. Frau Le Pen hat zwar ein gutes Ergebnis erzielt hat, das erkennen wir an. Aber verglichen mit Ergebnissen bei Regionalwahlen ist ein deutlicher Rückgang zu verzeichnen. Der Brexit und in der Folge die Entwertung der britischen Währung sorgen dafür, dass das Gefühl für Europa in unserem Land wieder etwas Farbe bekommt. Die deutsch-französischen Beziehungen und das europäische Projekt werden wieder Werte der Zukunft.
    Wir haben eine schwierige Zeit hinter uns. Den deutsch-französischen Beziehungen wurde in Präsident Hollandes Amtszeit nicht der angemessene Wert beigemessen. Ich glaube, dass wir vor einem neuen klareren und besseren Zeitabschnitt stehen. Wir wollen vor allem bei drei Themen mit Deutschland für Europa zusammenarbeiten: bei der Grenzsicherung, bei der Euro-Politik und bei der Verteidigung. In diesen drei Bereichen erkennen wir mögliche Annäherungen zwischen Frankreich und Deutschland. Und damit wollen wir innerhalb der Amtszeit des nächsten Präsidenten vorankommen.
    Heinemann:
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.