Samstag, 20. April 2024

Archiv


Stilistische Blütezeit der Gerichtsreportage

Kriminalitätsberichterstattung zielt heute vor allem auf Auflage und Quote. Ihr Erkenntniswert ist in aller Regel gering, der ideologische Anteil enorm. Kein Wunder also, dass Bedrohungsängste auch dann zunehmen, wenn die Kriminalitätsstatistik das Gegenteil nahe legt. In seiner Studie über die Gerichtsreportage der Zwischenkriegszeit in Berlin, Paris und Chicago zeigt Daniel Siemens, dass das nicht immer so war. Hans Detlev von Kirchbach hat die Untersuchung gelesen.

28.01.2008
    Wer an Gerichtsreportagen der 20er Jahre denkt, wenigstens was Deutschland angeht, dem wird zu allererst Kurt Tucholsky einfallen. Doch der sarkastische und wütende Kritiker von Gesinnungs- und Klassenjustiz kommt im Buch von Daniel Siemens nur ein einziges Mal namentlich vor, nämlich als einer jener Prominenten der Weimarer Republik, die sich erfolglos für die Abschaffung der Todesstrafe einsetzten.

    Das aber hat mit der Grundkonzeption des Buches zu tun, das die nur leicht überarbeitete Fassung einer Dissertation ist, die der Autor an der Berliner Humboldt-Universität vorgelegt hat. Sein Fokus richtet sich nicht auf die Aufsehen erregenden politischen Prozesse, sondern auf die eher alltägliche Gerichtsberichterstattung. In ihr, so Daniel Siemens spiegele sich wieder

    "wie anhand von Erzählungen über Recht und Unrecht die moralischen Ordnungen der jeweiligen Gesellschaften hinterfragt, aber auch neu ausgehandelt wurden."

    Auch nach 80 Jahren erscheinen die Grundfragen noch und zum Teil wieder aktuell, die den Prozessberichten der 20er Jahre den Puls vorgaben:

    "Zeigte sich ein allgemeiner Verfall der moralischen Werte, der zu einem Anstieg der Kriminalität führte? War es die Anlage oder die Umwelt, die manche Menschen zu Verbrechern werden ließ?"

    In den 20er Jahren, befindet Siemens, erlebte die Gerichtsreportage eine auch stilistische Blütezeit. Letzteres kann man mit Blick auf die Bundesrepublik, von wenigen Ausnahmen wie dem legendären "Spiege"l-Reporter Gerhard Mauz abgesehen, von der Justizberichterstattung der letzten drei Jahrzehnte freilich kaum noch behaupten. Im Gegenteil erschöpft sich der Gerichtsbericht allzu meist in Repetierung von Polizei- und Justizversionen, kommt über bestenfalls anekdotisches Niveau kaum hinaus. Mit Gratis-Gespöttel über tumbe Angeklagte aus "prekärem Milieu" hält sich manch Schreibgewandter schadlos, voyeuristische Privat-Enthüllungen, soweit es um Sensationsfälle oder sogenannte Promis geht, lässt sich fast kein Medium entgehen. Massenrezeption erreicht der Gerichts- und Kriminalitätsbericht ohnehin vor allem in Form affektiv aufpeitschender, brüllender Balkenlettern mit Blutrhetorik in Boulevardblättern oder im Krawallfernsehen. Diese populistische Breitenrezeption, orientiert an Quote und Auflage, spielt heute die Hauptrolle in der Berichterstattung über Justiz und Kriminalität. Dabei gibt es einen fast fugenlosen Konsens zwischen wirkungsstärkster Presse und den wieder vorherrschenden restriktiven Strömungen in der Rechts- und Kriminalpolitik.

    Das war, folgt man Siemens' Auswertung, in den 20er Jahren eben doch anders. Eine interessante Gemeinsamkeit, die große Teile der Gerichtsreportage dies- und jenseits des großen Teiches verband, war damals die Neigung zu einer gewissen diffusen Sympathie mit dem Delinquenten, dem Angeklagten, der dunklen Trieben ausgeliefert schien oder als Opfer eines harten persönlichen Schicksals wenigstens literarisches Mitempfinden veranlasste. Freilich - auch wenn sie versuchten, dem Täter oder Delinquenten menschliche Züge abzugewinnen - blieben die Justizjournalisten bürgerliche Subjekte und in ihren Klassenschranken gefangen.

    "Die Gerichtsreporter konnten oder wollten die soziale Differenz zu den Angeklagten, die mehrheitlich aus dem Proletariat stammten, nicht überwinden.

    Die Deutungen der Gerichtsreporter blieben so stets dem bürgerlichen Wertekanon verhaftet, wodurch die politische Brisanz einzelner Fälle nicht ausgeschöpft wurde.

    Zweitens erkannten sie die Schattenseiten der zeitgenössischen 'wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Delinquenten nur sehr begrenzt."

    Die gutbürgerlichen Zeitungsautoren brachten die Kraft nicht auf, einen relevanten Gegenpol zu antiproletarischen und überdies rassistischen Erblichkeitstheorien und brachialen Strafrechtskonzepten aufzubauen, die aber Fachdiskussion und politische Ebene dominierten. Dennoch ist manch "progressiver" Ansatz der damaligen professionellen Prozessbeobachter gerade heute bemerkenswert:

    "Während die forensischen Psychiater in der Regel den Schluss zogen, Abweichungen von der Norm zu kriminalisieren und von der 'Normalgesellschaft' auszuschließen, beharrten die Gerichtsreporter darauf, dass das Problem weniger eine Krise des Individuums denn eine Krise der Vergesellschaftung und damit ein Problem der gesellschaftlichen Ordnung insgesamt war. Mit dieser Deutung erzielten die Journalisten vor dem Hintergrund der [...] zunehmenden Hegemonie der intellektuellen Rechten [...] jedoch kaum gesellschaftspolitische Wirkung."

    In punkto Kriminalitätsdiskurs sollte es sich aber, vor allem in Deutschland, bald als menschenrechtliche Katastrophe erweisen, dass sich nicht die verständnisvollere Sichtweise der Gerichtsreporter durchsetzte, sondern die autoritär-ordnungsstaatliche Dogmatik der fast ausschließlich rechtsorientierten Universitäts- und Gerichtsjuristen sowie jene biologistischen und sozialhygienischen Ideologien, die in Kriminologie und Forensik vorherrschten. Dort jedenfalls wurde schon weit vor Machtantritt der Nazis anstelle einer Verbesserung sozialer Bedingungen die eliminatorische Entschlossenheit proklamiert, den geborenen Verbrecher aus der "gesunden Volksgemeinschaft" dauerhaft zu "entfernen".

    Im 20 Jahrhundert breitete sich die Eugenik namentlich auch unter kriminalpolitischen Reformern in den USA aus. Dies zeigt Siemens am Beispiel des Stadtgerichts von Chicago, das zu einer Bastion der kriminalistischen Eugenik wurde. Neben Resozialisierung und paternalistischer Betreuung sollte Kriminalität auch "biologisch eingedämmt" werden - durch eugenische Reduzierung angeblich genetisch und "rassisch" kriminalitätstendierender Bevölkerungsgruppen. Doch nur in Deutschland trug die biologistische Kriminologie zu einer Rechtsdogmatik bei, die Vernichtungsmaximen wie "Ausrotten mit Stumpf und Stiel" auch die massenmörderische Tat folgen ließ.

    Immerhin aber kann man der deutschen Gerichtsreportage nicht nachsagen, der eliminatorischen Ideologie Vorschub geleistet zu haben. Bei aller Vagheit der Gesellschaftskritik und manchem Begriffsmangel gegenüber dem "Phänomen" Kriminalität in der unübersichtlichen modernen Metropole flüchtete sich der Justizjournalismus nicht in simple politische Brachiallösungen. Unbeschadet seiner analytischen Unzulänglichkeiten blieb das Genre seiner humanen Orientierung treu. Das ehrt es im Vergleich zu den wirkmächtigeren antihumanen Hauptströmungen, die sich hierzulande schließlich in Fachwissenschaften und Rechtspolitik verhängnisvoll durchsetzten.


    Daniel Siemens: Metropole und Verbrechen
    Transatlantische Historische Studien, Band 32: Die Gerichtsreportage in Berlin, Paris und Chicago 1919-1933
    Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2007
    444 Seiten, 54 Euro