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Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert

Die von Kurt Schwitters selbst aufgezeichnete Version seiner "Ursonate" zeigt auf beeindruckende Weise, was es heißt, wenn sich die Stimme von der Bedeutung emanzipiert. Sie wird zum Instrument und ist nicht mehr Träger oder Überträger eines geistigen Inhalts. Das Medium ist die Botschaft, die vom Lautgedicht als reiner Klang zum Ausdruck gebracht wird. Und die Stimme macht den Ton, auf den es ankommt, seine Fülle, seine Schwingung, kurz seine physikalische Materialität.

Michael Wetzel | 19.08.2002
    Der Berliner Literaturwissenschaftler Reinhart Meyer-Kalkus hat sich mit der Entstehung dieser Sprechkunst als autonomer Kunstform beschäftigt. Schwitters "Ursonate" als an der Grenze von absoluter Dichtung und Musik stehenden Gesamtkunstwerk wird ebenso durch Dadaisten wie Hugo Ball weiterentwickelt bis hin zur Körpermusik von Ernst Jandl und Gerhard Rühm. Es setzt sich künstlerisch damit durch, was in der sinnesphysiologischen Forschung als Phänomen der Akustik untersucht wurde.

    Der Reiz der Studie und ihre Originalität liegen offen auf der Hand: Sie richtet sich an eine Literatur- und vor allem Kulturwissenschaft, die sich nur als Textwissenschaft versteht und die vergißt, daß die Sprache der Dichtung erst in der Stimme zu Leben erwacht. So moniert Meyer-Kalkus gegen die monomane Fixiertheit auf Forschungsfelder wie Schriftbild und Bilderschrift, daß die alte Tradition der Sprechkunst unberücksicht bleibt, die anderseits gerade in den neuen Medien wieder große Bedeutung erlangt hat. Telephon, Radio, Schallplatte und Tonfilm gelten als Symptome der Wiederkehr eines oralen Zeitalters, in dem es ästhetisch gerade auf die klanglich-musikalische Seite der Sprache ankommt.

    Die Untersuchung beschreitet vielfältige Wege. Ihr Gegenstand bleibt das Poetische, aber dessen stimmliche Präsenz bricht sich kritisch in den historischen Betrachtungsweisen der Physiologie und der experimentellen Psychologie, der Linguistik (speziell der Phonologie), der Psychoanalyse sowie in den medienästhetischen Überlegungen zur Mikrophonstimme im Studio und auf der Leinwand. Seinen Ausgang nimmt der Autor von Lichtenbergs Beobachtungen über die Physiognomie der Stimme, die in dem emphatischen Satz gipfeln: "Rede, damit ich Dich sehe." Die Stimme ist Ausweis der Persönlichkeit und des Charakters, so lautet die Einsicht des 18. Jahrhunderts, die gewissermaßen das Erbe der rhetorischen Ausbildung des Redners antritt und auch überschreitet. Denn auf die Individualität der Stimme kommt es jetzt an.

    Meyer-Kalkus führt diesbezüglich vor allem die experimentellen Untersuchungen des 19. Jahrunderts an, in denen die Erzeugung von Ton und Schall systematisch am menschlichen Körper vermessen wurde. Namen wie Eduard Sievers, Herman von Helmholtz, Wilhelm Wundt, aber auch Karl Bühler und Heinz Werner bewirken einen Wandel von der Augen- zur Ohrenphilologie, für die sich die Seele im Sprachgestus und -duktus am reinsten spiegelt. Entsprechend wurden Körpertechniken für Schauspieler und Kulturrepräsentanten entwickelt.

    Erst Elias Canetti drehte dieses authentische Ausdrucksverhältnis um, indem er von "akustischen Masken" redete, bei denen sich das Subjekt durch Wahl des sprachlichen Ausdrucks, des Tongestus, Akzents, Dialekts und Tempos vor allzu einfacher Durchschaubarkeit schützt. Diese Funktion wird nicht zuletzt im Zuge der Mediatisierung der Stimme durch Rundfunk und Tonfilm noch verstärkt. Die Aufzeichnungs- und Übertragungstechniken von Mikrophon, Schallplatte und Sender erzeugen nachgerade ein artifizielles Organ. Bühler versuchte zum Beispiel wenig erfolgreich eine Resonanz zwischen Persönlichkeit und radiophoner Stimme experimentell beim Hörer nachzuweisen. Im Tonfilm wird bald die Möglichkeit der Erzeugung einer Doppeldeutigkeit durch optische und akustische Informationen erkannt, wobei der Reiz der körperlosen Stimme, die aus dem Off kommt und keinem sichtbaren Sprecher zugeordnet werden kann, besonders viele Thrill-Effekte bewirkte.

    Es entstand eine neue "Kultur des Hörens", die quasi zu einer "Apotheose der menschlichen Stimme", zu einer "Fetischisierung des gesprochenen Wortes" führte. Freuds psychoanalytische Behandlungsmethode nutzte dies zur Erforschung der verdrängten Wünsche, die sich in seiner "talking cure" wieder Gehör verschaffen sollten. Meyer-Kalkus fokussiert diese Triebtheorie der Stimme vor allem auf den Freudschüler Theodor Reik und seine Theorie eines "Hörens mit dem dritten Ohr". Aber auch die Verhältnisse von Stimme und Ruf, wie sie der Philosoph Martin Heidegger in seiner Daseinsanalyse thematisierte, kommen zur Sprache.

    Die Fülle der vom Autor kompetent und klar verständlich angeführten Beispiele ist unerschöpflich. Immer wieder geht es aber um den grundsätzlichen Perspektivenwechsel oder um ein Aufhorchen auf das leise Gemurmel jenseits der optischen Gewißheit. In diesem Sinne ist die Loslösung der Sprechmelodie vom Sinn zu verstehen: als Befreiung zum reinen Sprachklang, in dem sich eine Neubestimmung des Verhältnisses von Dichtung und Musik, von Sprechen und Singen vollzieht. Meyer-Kalkus erinnert auch an Roland Barthes Ausführungen zur Rauheit und Körnigkeit der singenden Stimme. Den Anfang machte jedoch Arnold Schönberg, der in seinem Melodram "Pierrot Lunaire" diese Emanzipation der Sprechstimme vom Instrumentalpart vollzogen hat. Hören wir also!