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Stimmen am Mare Balticum
Zwischen Wehmut und Hoffnung

In den Ländern rund um die Ostsee sind Gesangsstile überliefert, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Von Dänemark bis Schweden, von Finnland bis Lettland beziehen sich Musiker auf alte Vokaltraditionen, verfeinern oder verfremden sie.

Von Jens-Peter Müller | 05.08.2016
    Vier Sängerinnen der Folkband Kraja aus Schweden stehen nebeneinander, halten Mikrofone in der Hand und singen
    Die Sängerinnen der Band Kraja aus Schweden beim Festival folkBALTICA (Jens-Peter Müller)
    Beim diesjährigen Festival folkBALTICA in Flensburg sowie in der deutsch-dänischen Region Sønderjylland -Schleswig standen die Stimmen und Vokaltraditionen des Ostseeraums im Mittelpunkt. Sie reichten von den balladenhaften Liedern der Schwedin Emma Björling und ihrer Band Lyy über die kraftvollen, slawisch anmutenden Stimmen des finnischen Frauenquartetts Kardemimmit bis zur traditionsverbundenen Vokalkunst der A-capella-Gruppen Latvian Voices aus Lettland und Heinavanker aus Estland. Allen gemeinsam ist ihre Experimentierfreude auf dem Weg zwischen Tradition und Moderne.
    Von der nationalen Volksmusik inspiriert
    Ein poetisches Sommerlied aus Dänemark - "Nu er dagen fuld af sang" - Nun ist der Tag voller Gesang - geht zurück auf ein Gedicht, das der dänische Komponist Carl Nielsen Anfang des vergangenen Jahrhunderts vertont und die Gruppe Nordens Tone jetzt neu arrangiert hat.
    Musik "Nu er dagen" Nordens Toner
    Tage voller Gesang und blühender Wiesenblumen, die zum Pflücken einladen: "Plocke, Plocke blomster" auf Dänisch. Das Lied der Folk-Jazz Formation Nordens Tone ist auf ihrer aktuellen CD zu finden, die ganz den Kompositionen von Carl Nielsen gewidmet ist. Der 150. Geburtstag von Carl Nielsen wurde im vergangenen Jahr in Dänemark groß gefeiert. Wie Edvard Grieg in Norwegen oder Jean Sibelius in Finnland hat sich auch Carl Nielsen von der nationalen Volksmusik inspirieren lassen und diese durch seine in Dänemark heute wie damals äußerst populären Melodien bereichert.
    Die Sängerin der Gruppe Jullie Hjetland hat Volksmusik studiert. Ihren Bachelor hat sie an der Carl Nielsen Akademie in Odense gemacht und dann noch einen so genannten Nordic Master mit Studien an verschiedenen Musikhochschulen in Nordeuropa und im Baltikum draufgesetzt.
    Wie Volksmusikgesang klingt, liegt an der Sprache
    Dozentin für Volksmusikgesang ist die schwedische Sängerin Emma Björling, die mit ihrer Gruppe Lyy ebenfalls beim folkBALTICA-Festival auftrat. Sie unterrichtet momentan hoch oben in Nordschweden in der Stadt Luleå junge Menschen, die sich auf ein Volksmusikstudium vorbereiten wollen. Nach ihrem Konzert mit LYY in Flensburg sagte die Sängerin auf die Frage, was sie ihren Schülern denn als Essenz der schwedischen Vokaltradition zu vermitteln versucht?
    "Das ist keine so leichte Frage. Ich würde sagen: klarer direkter Gesang ohne Vibrato. Das ist die technische Seite. Inhaltlich geht es oft um Sehnsucht, gebrochene Herzen auf der einen und viel Humor in Liedern mit Tanzrhythmen auf der anderen Seite.
    In jedem Land klingt der Volksmusikgesang etwas anders. Das hängt mit der Sprache zusammen. Schweden und Finnland sind ein gutes Beispiel für die Unterschiede. Die Vokale und Konsonanten einer Sprache prägen die Stimmfarbe. Für mich ist es außerdem sehr wichtig, dass der Text, die Story eines Liedes, gut zu verstehen ist. Da helfen die Vokale und mit den Konsonaten arbeite ich, weil die wichtig für den Drive und den Swing sind."
    Musik "Raska Sjöman" Lyy
    "Raska Sjöman" vom neuen, dritten Album der Gruppe Lyy: ein traditionelles Seemannslied, zu dem Emma Björling eine neue Melodie verfasst hat. Die CD heisst schlicht "tre", was "drei" bedeutet. Zum Vergleich ein Lied in einer ganz anderen Sprache, und zwar aus dem finnisch-ugrischen Sprachraum; dazu gehört neben dem Finnischen auch das Estnische.Die junge estnische Sängerin und Songschreiberin Mari Kalkuun hat vor einigen Monaten ihr zweites Album auch in Deutschland veröffentlicht. Es heißt "Tii ilo", auf Deutsch: die Schönheit des Weges.
    Musik "Tee hümn" Mari Kalkuun
    "Tee Hümn", eine Hymne auf das Unterwegssein, von und mit der Estin Mari Kalkuun, die ihre neue CD zusammen mit den Musikerinnen und Musikern der finnischen Gruppe Runorun eingespielt hat. Die Kaanel - ein estnisches Zitherinstrument - trifft dabei auf die verwandte finnische Kantele.
    Estland und Finnland sind gerade in der Musikszene sehr eng miteinander verbunden. Seit 1984 kann man an der Sibelius Akademie in Helsinki Volksmusik studieren, wobei die Improvisation und andere experimentelle Verbindungen zu Jazz, Klassik und Pop wesentliche Bestandteile der Ausbildung sind. Mari Kalkuun hat das in den letzten Jahren genutzt ebenso wie die Musikerinnen und Sängerinnen der Gruppe Kardemimmit, die in diesem Jahr bei folkBALTICA die Folkszene Finnlands vertraten.
    Melodie ist wichtig, die erzählte Geschichte wichtiger
    Kardemimmit, das sind vier junge Frauen Mitte zwanzig, die -man höre und staune - schon seit über 15 Jahren als Gruppe zusammen sind. Alle vier haben in der gleichen Musikschule der Stadt Espoo im Alter von 8 oder 9 Jahren angefangen Kantele zu spielen. Sie haben von derselben Lehrerin Unterricht in traditionellen Instrumental- und Vokalstilen bekommen und haben zusammen als Ensemble begonnen. Wie sehen Kardemimmit ihre Stimmen im Vergleich zu den anderen Kulturen im Ostseeraum?
    "Es ist schon etwas speziell. Wir empfinden uns quasi in der Mitte zwischen östlichen und westlichen Einflüssen. Finnische Liedkultur basiert auf dem Sologesang. Es gibt eigentlich keine Mehrstimmigkeit. Wir haben das für uns zwar entwickelt, aber wir verwenden dabei die traditionellen finnischen Techniken. Und das bedeutet: laut und direkt, etwa so, wie man die Stimme benutzt, wenn man spricht. Klar, wenn wir höher singen, dann ist es anders, aber bei den tieferen Tönen kann man es so beschreiben. Wir sind, was den Stimmeneinsatz angeht, etwas näher an den baltischen Ländern dran als an Schweden. Aber die Balten haben ja diese großartige Chormusik in den letzten Jahrhunderten entwickelt, das kennen wir in Finnland überhaupt nicht.Bei uns hat sich die Tradition des Geschichtenerzählens im Lied entwickelt. Die Melodie spielt nicht so eine große Rolle. Es kommt auf den Text und die Geschichte an."
    Musik "Kun mun kultani tulisi" Kardemimmit

    Ich wünschte mein Liebster käme heim. Ich würde ihn am
    Klang seiner Schritte erkennen und würde ihm entgegen
    laufen, so schnell wie der Rauch mit dem Wind eilt.
    Es wäre mir egal, ob seine Lippen vom Wolfsblut bedeckt
    wären und in seinem Nacken der Tod schon sitzen würde.
    Aber seine Lippen sind wie Honig. Seine Hände sind
    kostbar wie Gold und sein Nacken stark wie der Stamm
    des Heidekrautbusches.
    Musik "Kun mun kultani tulisi" Kardemimmit
    Ein kleines Liebesdrama aus Finnland mit den vier Sängerinnen und Kantelespielerinnen der Gruppe Kardemimmit von ihrer aktuellen CD "Happiness".

    Gleich zwei "kleine Chöre", zwei a cappella-Ensembles von allerhöchster Güte, traten beim diesjährigen folkbALTICA-Festival auf: Heinavanker, eine gemischte Formation aus Estland, und aus dem Nachbarland Lettland die Latvian Voices.
    Musik "Menem Starus Stigo" Latvian Voices
    Sechs Frauen aus Lettland, die Latvian Voices: "Menem Starus Stigo" - das Gedicht "Mondstrahlen" des lettischen Lyrikers Aspazija, in einer Neuvertonung von Laura Jekabsone, Mitglied der Latvian Voices, zu hören auf der neuen CD der Latvian Voices. Der CD-Titel "Beyond Borders" ist Programm. Alle Stücke sind neukomponiert und in einem Crossover-Mix aus Klassik, Folk und Pop und zeigen die Sängerinnen dabei, was sie alles können.
    Heinavanker improvisiert mehrstimmige Arrangements
    Ganz anders der Ansatz von Heinavanker aus Estland. Ihre Musik ist eher nach innen gerichtet. Ihr musikalisches Material ist viele Jahrhunderte alt. Die Mitglieder der Gruppe haben daraus mehrstimmige Arrangements geformt, die nur in den Grundzügen festgelegt sind und in jedem Konzert etwas anders erklingen.
    Ein Schwerpunkt des Programms sind sogenannte Volkschoräle: religiöse Volkslieder. Das sind Kirchenlieder, die über Skandinavien nach Estland gelangten. Dort wurden in den Gesangbüchern nur die Texte, nicht die Melodien aufgeschrieben. Und das führte letztlich dazu, dass die ursprünglichen Melodien immer wieder verändert werden konnten oder sogar ganz neue Fassungen entstanden, wie bei dem folgenden Choral. Er steht im deutschen evangelischen Kirchengesangbuch auf Seite 446 mit dem Text von Paul Gerhard aus dem Jahre 1647: "Wach auf mein Herz und singe, dem Schöpfer aller Dinge, dem Geber aller Güter, dem frommen Menschenhüter". Und so klingen diese Zeilen in einem geistlichen Volkslied aus Estland.
    Musik "Mu süda, ärka üles" Heinavanker
    "Mu süda ärka üles - Wach auf mein Herz und singe": Ein religiöses Volkslied aus Estland in der Bearbeitung der Gruppe Heinavanker. Auch der Name Heinavanker, estnisch für Heuwagen, hat einen religiösen Hintergrund, sagt Vamboli Krigul von Heinavanker.

    "Der Name kommt von einem Altar-Gemälde des Meisters Hieronymus Bosch aus dem 15. Jahrhundert. Es heißt: 'Der Heuwagen'. Auf dem Bild ist ein großer Heuwagen zu sehen und oben drauf sitzen die Musikanten. Auf der einen Seite des Wagens sieht man die Engel, auf der anderen Seite den Teufel. Und beide versuchen jeweils die Musiker auf ihre Seite zu bringen. Wir bei Heinavnaker versuchen auf der hellen, himmlischen Seite zu stehen, auch wenn wir ganz alte Lieder aus vorchristlicher Zeit singen. Das sind dann zwar Lieder aus einer Zeit vor Christus, aber sie sind heilig. Es sind auf keinen Fall Lieder des Teufels."
    Runenlieder über eine andere Schöpfungsgeschichte
    Regilaul, Runenlieder, so heißen Gesänge aus der Zeit, bevor das Christentum vor etwa 700 Jahren in das heutige Baltikum kam. Im Runenlied "Loomine" wird die Schöpfungsgeschichte erzählt, aber auf ganz andere Weise als in der Bibel:
    "Ein blauer Vogel, ein blau-gold-buntgefiederter Vogel kommt auf unsere Wiese geflogen. Er baut ein Nest auf einer Pferdekoppel und brütet Junge aus. Ein Junges wird der Mond, das zweite die Sonne, das dritte die Welt, das vierte ein Stern und das fünfte ein Regenbogen."
    Vamboli Krigul von Heinavanker erklärt zu dem Stück:
    "Die Veränderung der Tonhöhe, wie in diesem Lied , entstammt der Tradition der Setu, einem Volk im Osten Estlands. Die Setu praktizieren das in allen ihren Gesängen. Es ist eine Art musikalische Freiheit. Wenn die Spannung in einem Lied steigt, dann werden die Menschen erregt. Damit hängt die oft überraschend und zufällig wirkende Veränderung der Tonhöhe zusammen. Für uns ist es schön, dieses ungewöhnliche Element bewußt in unsere Interpretation einzubauen."
    Musik "Loomine" Heinavanker
    Uralte Volkskunst aus Estland, für heutige Hörgewohnheiten arrangiert von Heinavanker, eingespielt auf der international vertriebenen CD "Songs of olden times". Sie ist eine wahre Kostbarkeit, die auch mit ausführlichen Kommentaren in englischer, französsicher und deutscher Sprache einen seltenen Einblick in eine verborgene Musikkultur gibt.
    Von den sechs hervorragenden Sängerinnen und Sängern arbeitet erstaunlicherweise niemand als Sänger im klassischen Fach, keiner ist dementsprechend ausgebildet. Die Mitglieder von Heinavanker sind Musikpädagogen, Orchesterleiter, einer ist klassischer Konzertpianist und Vamboli Krigul verdient seinen Lebensunterhalt als Perkussionist in einem Symphonieorchester.
    Musik "Vakert Väder" Kraja
    Mehrstimmigen Gesang aus Schweden präsentierte das Quartett Kraja bei der 12. Ausgabe des Festivals folkBALTICA. Der künstlerische Leiter des Festivals, der Däne Harald Haugaard, hatte die "a cappella-Formation" als Doppelkonzert zusammen mit Kardemimmit aus Finnland in das Programm gesetzt. Das lag nahe, denn es gibt enorme Ähnlichkeiten zwischen den beiden Ensembles: Kraja ist wie Kardemimmit ein reines Frauenquartett, das sich auch schon im Teenageralter an der Musikschule in ihrer Heimatstadt Umea in Nordschweden zusammengefunden hat.
    Finnische und schwedische Sängerinnen in Niebüll
    Kardemimmit erzählten dem folkBALTICA Publikum, dass sie vor etwa 10 Jahren über ihre Musikschullehrerin mit der ersten Kraja-CD in Berührung bekommen sind, um sich auch mit Liedern in schwedischer Sprache zu beschäftigen, denn Schwedisch ist ja die zweite offizielle Landsprache in Finnland. Seitdem haben Kardemimmit einen Titel von dieser CD im Programm. Persönlich begegnet sind sich die beiden Gruppen aber erst Ende April 2016 bei folkBALTICA.
    Das Doppelkonzert fand in der Christuskirche zu Niebüll statt. Und als Zugabe baten die finnischen Sängerinnen ihre schwedischen Kolleginnen mit auf die Bühne. Gemeinsam wollten sie das folgende Lied, einen schwedischen Morgen-Choral, aufführen. Und zwar sowohl im schwedischen Original als auch in einer neuen finnischen Textfassung. Ich habe schnell mein Aufnahmegerät angeschaltet, um diesen besonderen Moment festzuhalten.
    Musik "Sjung i stilla Morgeonstunden” Kraja und Kardemimmit
    Kraja aus Schweden und Kardemimmit aus Finnland live am 28. April 2016 in der Christuskirche in Niebüll im Rahmen des Festivals folkBALTICA. Seit elf Jahren spürt diese Veranstaltung den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den Kulturen im Ostseeraumes nach.
    Zum diesjährigen Stimmenschwerpunkt bemühte Harald Haugaard ein dänisches Sprichwort: "Enhver fugl synger med sit næb.” Jeder Vogel singt wie ihm der Schnabel gewachsen ist - eine passende Umschreibung dessen, was in diesem Jahr bei folkBALTICA zu hören war. Übrigens:Kraja und Kardemimmit haben in Niebüll festgestellt, dass sie die gleiche Agentur in Japan beschäftigen und sich dort auch im Dezember dieses Jahres wiedertreffen werden.
    Diese Sendung können Sie nach Ausstrahlung sieben Tage online nachhören.