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"Stötzer hat ein reales Vorbild"

Der Autor Jan Kuhlbrodt hat in "Stötzers Lied" einen Gedichtband geschrieben, der den Umgang mit der deutschen Geschichte aus den Augen des titelgebenden Leipziger Stötzers thematisiert. Die Figur, so der Autor, sei einem Professor seiner Leipziger Studienzeiten angelehnt.

Von Volkmar Mühleis | 04.09.2013
    Wenn ein Buch die Summe seiner Hauptfigur ist, dann heißt es oft nach ihm. Ob es sich dabei um Herrn Palomar von Italo Calvino handelt, den Eulenspiegel Bracke von Klabund oder den berühmten Herrn Keuner von Bertold Brecht, dessen Geschichten posthum gebündelt wurden. Zu diesen Herren gesellt sich nun eine weitere Figur: Stötzer. Der Leipziger Dichter und Schriftsteller Jan Kuhlbrodt hat sie ins Leben gerufen, aber nicht als Alter Ego oder Wunschbild, sondern nach einem Mann mit gleichem Namen:

    Jan Kuhlbrodt:
    "Stötzer hat ein reales Vorbild. Das war ein Professor von mir in den 1980er-Jahren hier in Leipzig, als ich hier politische Ökonomie studierte, der auch Stötzer hieß. Das ist so die eine Seite, die andere Seite hat dann noch ein Vorbild, das kommt von Karl Mickel, der hat eine Reihe von Gedichten geschrieben, die hießen Motek. Und auch Motek war von Karl Mickel ein Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Hochschule für Ökonomie."

    Stötzer wandert durch Leipzig, durch die Gestalten der Stadt, deren Veränderung, Geschichte und mit ihm der Erzähler. Aber es ist keine Erzählung, die er beschreibt. Er folgt dem Rhythmus und Ton der Gedanken Stötzers, seinen Assoziationen, Eindrücken. Vom Völkerschlachtdenkmal zum alten Messegelände, in die Nachklänge sozialistischer Weltvorstellungen, bis zum sandgestrahlten Bundesverwaltungsgericht, angestrahlt in der Nacht. Die neue Doktrin bewegt sich in einer Mitte, die sachlich, sauber, konform ist, der vermeintliche Pragmatismus einer Wirtschaftsgläubigkeit. Stötzer kann es nicht fassen. Doch er ist kein Empörter, er durchstreift die Lage, eine Randfigur. Jan Kuhlbrodt schreibt von diesem Streifen in erzählender Lyrik oder lyrischer Prosa, Bilder werden von kurzen Schilderungen getragen. Als Leitsatz fungiert dabei ein Gedanke, in dem es heißt: Es gelte mit der Sprechstimme die Denkstimme nachzuahmen. Vom Denken ins Sprechen ins Schreiben – um diese Bewegung ins Spiel zu bringen, dazu braucht es den Abstand zum vorgefassten Genre. Kuhlbrodt selbst meint:

    "Ich seh mich als Aufklärer, gewissermaßen, aber misstraue der Aufklärung. Das heißt, es ist für mich auch die Möglichkeit mir selber ins Wort zu fallen, immer wieder. Quasi meinen Positionen zu misstrauen. Und daraus entsteht dieses Mäandern. Das nichts fest ist, letztlich. Aber das man trotzdem versucht, etwas Festes zu formulieren. Ich hab auch mal versucht, den ganzen Stötzer in Hexametern zu formulieren, hab mich dann aber erinnert, wie ich mich durch die Odyssee quälte, und wollte das auch keinem Leser dann antun. Auch weil der Stoff dann auf gewisse Weise gezähmt oder domestiziert wird. Und für mich ist eigentlich schon die Vorstellung, dass der Stoff eben nicht domestizierbar ist und sich immer wieder eben auch, in Halbsätzen usw. von selbst äußert."

    Nun ließe sich das imaginäre Mäandern auch in der Prosa allein darstellen, in freier, essayistisch erzählender Form. Mit dem Langgedicht, dem Versepos knüpft der Autor auch an eine Vorliebe an, die bereits frühere Texte von ihm charakterisiert, wie etwa Il Manifesto. Das Gedicht, das als Einzelveröffentlichung im vergangenen Jahr in der Kölner parasitenpresse erschienen ist, enthält selbst alle Ingredienzien für ein episches Gedicht, als Reflexion, Beschreibung, Verdichtung. Warum erscheint Stötzers Lied nun explizit als Mischform, weder Gedicht noch Erzählung, sondern beides?

    Jan Kuhlbrodt:
    "Also erst mal, für ein einzelnes Gedicht wäre es zu lang. Dann ist natürlich auch eine Vorstellung, dass ich, wenn ich ein Gedicht wähle oder diese Gedichtform wähle, ich wesentlich freier bin, auf gewisse Weise, als wenn ich eine Erzählung schriebe. Ich kann gewissermaßen Einflüsse besser aufnehmen, hab ich das Gefühl, zumindest. Ja, und dann gibt es natürlich für mich selber noch so Ursprünge. Ich fing an zu lesen mit russischen Langgedichten, irgendwann in meiner Jugend. Da war viel Majakowski dabei, usw. Das waren alles so Poeme. Das hat mich, glaub ich, geprägt, und hat mich ziemlich lange Zeit auch beschäftigt. Und natürlich, das große Vorbild ist natürlich die Odyssee."

    Der Verweis auf die griechische Antike ist ausdrücklich im Text enthalten, in Form einer Reihe von Gedichten, Miniaturen, die nicht Stötzer zum Thema haben, sondern wie freie Variationen den Text durchziehen, als Embolien, wie die Reihe genannt ist. Was muss man sich darunter vorstellen? Und welche Rolle spielen die Embolien mit Blick auf Stötzer?

    Jan Kuhlbrodt:
    " Also erst mal hab ich versucht, diese klassische Form des Emboliums, das gibt’s in der antiken Tragödie, also im antiken Theater, da ist in dem längeren Text, einem längeren Theaterstück, dann kommen immer mal artfremde Einsprengsel. Also sozusagen Pausen fürs Publikum. Wo dann Akrobatik oder irgendwas, was nichts eigentlich mit dem Stück, das aufgeführt wird, zu tun hat, gemacht wird. Also für mich sind die Embolien Ruhepausen – und sie haben natürlich eine gewisse, sagen wir mal, nicht formale, aber eine gewisse inhaltliche Rückbindung an den Text."

    Die sehr subtile Schichtung des Textes – sowohl innerhalb der Stötzerverse als auch in der Variation mit den Einschüben der Embolien –, wurde von Andrea Schmidt, der Gestalterin des Verlagshauses Frank, in dem der Band nun erschienen ist, hervorragend aufgegriffen und mit der Setzung des Textes, grafischen Verbindungen sowie unterschiedlicher Schrifttypenwahl sehr gut veranschaulicht. Wie auch bei einigen anderen jungen und unabhängigen Verlagen wird der Text hier zudem mit Illustrationen versehen. So hat die Künstlerin Ivonne Dippmann, wie Jan Kuhlbrodt in Chemnitz geboren, zahlreiche Tuschezeichnungen und Schwarz-Weiß-Collagen in den Band eingefügt. Gemeinsam ergibt sich auf die Art eine sorgfältige, anregende, wechselseitig sich bereichernde Edition, die das Buch zu einem besonderen Vergnügen macht. Und die zugleich das Drängende, Urbane, Rastlose der Schilderungen aufgreift und variiert, als eigene Ruhepausen und Vertiefungen dieses Nachgesangs auf Stötzer. Stötzers Lied ist, wie es im Untertitel heißt, ein Gesang vom Leben danach, ein Requiem für den Protagonisten. Dabei steht sein Tod in der Mitte des Bandes, als gruppiere sich sein Leben darum, als gäbe es nicht nur ein vor, sondern auch ein danach. Die Literatur ist nicht nur der letzte Ort der Utopie, mit ihr nahm sie einst ihren Anfang. Jan Kuhlbrodt macht sich diese Eigenschaft von Literatur zu eigen – indem ein literarischer Held seinen Tod überleben mag, für den einen Moment seiner Wiederbelebung, fiktiver Reanimation.

    Jan Kuhlbrodt
    Stötzers Lied – Gesang vom Leben danach, im Berliner Verlagshaus Frank, 180 Seiten, 13,90 Euro