Fensterblicke in der Filmgeschichte

Gleichzeitig in zwei Welten

05:23 Minuten
Filmausschnitt aus "Hiroshima, mon amour" von Alain Resnais (1959): Porträt der Schauspielerin Emmanuelle Riva.
Die Schauspielerin Emmanuelle Riva im Film "Hiroshima, mon amour" von 1959. Der Film gilt als einer der ersten Vertreter der französischen Nouvelle Vague. © picture alliance / kpa
Von Fabian Saul · 16.04.2020
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Wer aus dem Fenster schaut, wie in Corona-Zeiten so viele, befindet sich im Innen und Außen, wechselt zwischen Objekt und Subjekt, schreibt Sigmund Freud. Der Film "Hiroshima, mon amour" nutzt das, teilt durch Fensterblicke Gegenwart und Vergangenheit.
Der Psychoanalytiker Sigmund Freud zeichnet in seinen Notizen den Angsttraum eines Patienten auf. "Ich träumte, dass es Nacht war und dass ich im Bett lag. Mein Bett stand mit dem Fuß zum Fenster, vor dem Fenster stand eine Reihe von Wallnussbäumen. Plötzlich öffnete sich das Fenster von selbst, und ich sah voller Angst, dass einige weiße Wölfe auf dem großen Wallnussbaum vor dem Fenster saßen und mich anstarren."
Freud hat zu diesem Traum zahlreiche umstrittene Analysen angestellt: Ohne ihm dabei zu folgen, kann uns doch eine seiner Anmerkungen etwas über das Unheimliche des Fensters sagen.
Freud sieht das Unheimliche nämlich nicht in den Wölfen draußen, sondern im aufmerksamen Schauen, das eigentlich dem Patienten selbst zuzuschreiben sei.
Diese Vertauschung von Subjekt und Objekt ist das eigentlich Unheimliche, denn der Träumende befindet sich an zwei Orten zugleich – sowohl hinter als auch vor dem Fenster. Das Intimste zeigt sich draußen und das Bild draußen entpuppt sich als Innerstes.

Zwischen Gegenwart und Vergangenheit

Wie das Fenster dieses paradoxe Verhältnis von außen und innen konfiguriert, zeigt sich auch an einem anderen Beispiel. Das Drehbuch zum Film "Hiroshima, mon amour" des Regisseurs Alain Resnais stammt von der Autorin Marguerite Duras.
In einer Szene tritt die Protagonistin des Films nach einem Kaffee in der Morgensonne auf dem Dach durch das Fenster zurück ins Zimmer. Sie sieht ihren Liebhaber, den sie gerade kennengelernt hat, auf dem Bett liegen, und ihre eigentlich gelöste Stimmung verdunkelt sich. Mit dem Eintreten ins Zimmer, auf der Schwelle des Fensters, sieht sie ihn plötzlich nicht mehr schlafend im Bett, sondern verblutend am Boden liegen: ein Bild aus ihrer Erinnerung.
Der gesamte Film zeigt dieses Wiederauftauchen der Vergangenheit. Anhand von Fenstern und Türen wird in "Hiroshima, mon amour" das Ein- und Austreten zwischen Gegenwart und erinnerter Vergangenheit vermittelt. Die Vertrautheit des neuen Liebhabers ist der Erinnerung an einen anderen Liebhaber, ihrer ersten Liebe, geschuldet. Und im Moment dieser Erinnerung beginnt das Vergessen.

Heimelig und heimlich

Freud hat auf die besondere Bedeutung des Wortes heimlich hingewiesen. Es kann sowohl vertraut im Sinne von heimelig bedeuten, aber auch versteckt oder verborgen im Sinne von heimlich.
Für ihn ist es ein Wort, dessen Bedeutung mit seinem Gegenteil zusammenfällt. Und unheimlich, schreibt er, ist irgendwie eine Art von heimlich.
Das intimste Bewusstsein der Protagonistin zeigt sich in einer ihr fremden, aber merkwürdig vertrauten Stadt, in einem ihr fremden, aber unheimlich vertrauten Liebhaber. Nichts hast du in Hiroshima gesehen, gar nichts, sagt er immer wieder, und sie antwortet: Alles habe ich gesehen, alles.
Der Film "Hiroshima, mon amour" handelt vom Trauma der Erinnerung und dem Horror des Vergessens. Und diese Erinnerungsbilder, die wie wiederkehrende Angsträume in die Realität einfallen, sind – das zeigt der Film – individuell und kollektiv Teil unserer Realitäten. Denn selbst wenn die unheimlichen Bilder, die die Protagonistin sieht, als sie zum Balkonfenster eintritt, mit dem Aufwachen des Liebhabers kurzzeitig verschwinden, ist sie doch selbst die ganze Zeit wach gewesen.
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