Samstag, 20. April 2024

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Straffällig gewordene Ausländer
"Grenze für Ausweisung deutlich heruntersetzen"

Nach den Übergriffen in Köln hat sich der Vorsitzende der Innenministerkonferenz, Klaus Bouillon, dafür ausgesprochen, die Gesetze zur Ausweisung und Abschiebung zu verschärfen. Im DLF sagte der CDU-Politiker, die Grenze von einem Jahr Freiheitsstrafe müsse deutlich gesenkt werden. Der saarländische Innenminister warnte zudem vor einem Verlust des Vertrauens in den Rechtsstaat.

Klaus Bouillon im Gespräch mit Gudula Geuther | 10.01.2016
    Der saarländische Innenminister Klaus Bouillon (CDU).
    Der saarländische Innenminister Klaus Bouillon (CDU). (imago/Becker&Bredel)
    Geuther: Herr Bouillon, seit dem 1. Januar sind Sie Vorsitzender der Innenministerkonferenz und damit so mehr oder weniger auf die Minute genau seit dem Moment, als in Köln, in Hamburg, in Stuttgart massive Übergriffe auf Frauen stattgefunden haben. Vieles wissen wir noch nicht über die Täter, aber nach den Erkenntnissen zumindest der Bundespolizei sind auch Flüchtlinge unter den Verdächtigen. Welche Auswirkungen könnte das denn auf die Diskussion um Flüchtlinge haben? Was ist Ihre Prognose?
    Bouillon: Ich denke, es wird Auswirkungen haben. Es hat ja schon Auswirkungen. Leider Gottes, aus meiner Sicht, teilweise sehr überzogen, weil wir kennen ja nicht die genaue Anzahl der Flüchtlinge, wir wissen eigentlich nicht, wie viele Menschen echt aktiv beteiligt waren, wie viele Einheimische, wie viele Nordafrikaner. Die Meldungen widersprechen sich ja auch. Aber Eines ist sicher: Das darf man nicht beschönigen. Es ist sehr schwierig, was die Stimmung angeht. Und diejenigen, die dem rechten Rand zuzurechnen sind, nutzen das natürlich aus und schüren jetzt viele Vorurteile; da wird Vieles über einen Kamm geschert. Man muss erst mal in Ruhe recherchieren, analysieren. Wenn die Polizei die Ergebnisse hat, dann müssen wir weitersehen. Aber Eines ist klar: Es wird die Stimmung, leider Gottes, durchaus verändern.
    Geuther: Bundeskanzlerin Merkel hat jetzt schon scharf reagiert, hat auch angekündigt, das Recht von Ausweisung und Abschiebung gegebenenfalls prüfen zu wollen. Ist das jetzt eine Wende in der Flüchtlingspolitik?
    Bouillon: Ich glaube, es ist eine gewisse Wende. Wobei, man muss wissen: Jetzt fordern viele die schnelle Ausweisung. Das ist sicherlich berechtigt, wenn man diese Dinge sieht. Aber die Realität sieht folgendermaßen aus: Erst am 1. Januar dieses Jahres ist die Änderung des Aufenthaltsgesetzes eingetreten. Nach derzeitiger Gesetzeslage könnten wir, nach meiner Einschätzung, bei dem Personenkreis mit diesen Delikten – so schlimm sie sind, so widerwärtig sie sind – kaum einen ausweisen. Weil nach geltendem Gesetz – sowohl nach dem Asylbewerberleistungsgesetz oder dem Aufenthaltsgesetz – muss die Bestrafung mindestens ein Jahr Gefängnis betragen. Und wer die Rechtsprechung betrachtet, weiß: Um zu einem Jahr Gefängnis verurteilt zu werden, muss man viel, viel mehr tun. Das heißt, die Kanzlerin hat insofern recht – und alle, die die schnelle Abschiebung fordern: Wir müssen die Gesetzestexte völlig verändern, wir müssen festlegen: Ab wann darf man abschieben? Und meines Erachtens muss die Grenze von einem Jahr deutlich runtergesetzt werden.
    Geuther: Sie haben es ja selber eben angesprochen, gerade erst vor wenigen Tagen ist das neue Recht der Ausweisung in Kraft getreten. Wie kann denn Politik sich als kurzatmiger oder auch als reaktiver entlarven, als wenn sie nur Tage nach Inkrafttreten der letzten Verschärfung weitere Verschärfungen fordert und das eben noch nach aktuellen Ereignissen, die noch nicht einmal aufgeklärt sind?
    "Das darf nicht noch einmal vorkommen"
    Bouillon: Ich würde es nicht zu hart formulieren. Schauen Sie, hätte jemand im Januar 2015 gedacht, dass wir eine Völkerwanderung bekommen in einem Ausmaß, die ja nun alles übertrifft, was wir uns vorgestellt haben Anfang des Jahres 2015? Hätten wir gedacht, dass solche Terrorangriffe passieren, wie in Paris und in anderen Ländern der Welt? Und eine Situation, wie die in Köln, auch Hamburg und München, in dieser Größenordnung, ist, meines Erachtens, in Deutschland bisher noch nicht vorgekommen. Das heißt auch, der Gesetzgeber ging von anderen Voraussetzungen aus. Jetzt müssen wir allerdings ernsthaft diskutieren. Ich weiß ja, wie schwierig das ist politisch, aber wir müssen ja dafür sorgen, dass die Menschen in unserem Land sich wohlfühlen, dass speziell unsere Frauen eine Sicherheit garantiert bekommen. Die Unversehrtheit speziell der Frauen, ist ja nun auch ein Schutzgut. Das heißt, es wird sicherlich nach den Vorkommnissen ganz wichtig sein, dass solche Vorfälle nicht mehr vorkommen, weil sonst verlieren die Menschen das Vertrauen in den Rechtsstaat.
    Geuther: Sexuelle Nötigung wird mit mindestens einem Jahr Haft bestraft. Sie hatten eben Zweifel, ob das in diesen Fällen der einschlägige Straftatbestand wäre oder ob das die ausgesprochenen Strafen wären. Aber, jetzt unabhängig davon, ob man die Täter nach derzeitigem Recht ausweisen könnte oder nicht, man hat sie gar nicht – das ist ja gerade das Problem. Ist das nicht ein Ablenkungsmanöver, vor dem Hintergrund jetzt über die Ausweisung zu diskutieren?
    Bouillon: Ich denke, die Situation kam ja – so ist meine Einschätzung von außen – für die Polizei völlig überraschend. In dem Moment, wenn man überrascht ist, ist es immer schwer zu reagieren. Ich möchte den Polizistinnen und Polizisten in Köln keinen Vorwurf machen. Das sind Erfahrungen, die man sammeln muss. Und was man so liest in den Polizeiberichten, ist ja auch das Auftreten in einem beleidigenden Charakter gegenüber der Staatsgewalt aufgetreten wie selten zuvor, vor allen Dingen nicht in dieser Größenordnung. Das heißt, es wird ein Umdenken erfolgen; es ist ein Umdenken bei den Polizisten erfolgt. In allen Bundesländern – wir haben telefoniert – gibt es natürlich jetzt Gespräche. Wir versuchen uns alle einzurichten, speziell was die Karnevalsumzüge angeht, in den nächsten Wochen. Die Polizei wird die Präsenz verstärken. Wir sind dabei, unsere Pläne zu machen. Weil Eines ist sicher: Es darf nicht noch einmal vorkommen, sonst verlieren die Menschen das Vertrauen in die Polizei, in den Rechtsstaat und dann gewinnen diejenigen die Oberhand, die permanent die Ängste schüren.
    Geuther: Ich würde gerne gleich noch mal auf die Polizei eingehen, aber erst noch mal kurz bei der Ausweisung bleiben. Wer ausgewiesen wird, der wird ja noch lange nicht abgeschoben. Und die Gründe sind bekannt: Das können gesundheitliche Gründe sein, Verfolgung im Heimatstaat oder der Heimatstaat nimmt die Leute ohne Papiere nicht zurück. Gaukelt man mit dieser Ausweisungsdebatte den Leuten nicht Lösungen vor, die es so zumindest nicht gibt?
    Bouillon: Sie haben völlig recht. Die Praxis ist viel schwieriger. Es ist einfach gesagt: Wer straffällig wird, sofort raus! Wir leben in einem Rechtsstaat. In der Praxis beginnt es folgendermaßen: Wenn man die Leute ausweisen will oder abschieben will, dann müssen wir sie vorladen, sie werden angehört, es wird ein Verwaltungsakt, also ein Schriftstück erstellt, dagegen kann man Widerspruch einlegen, gegen den Widerspruchsbescheid kann man vor Gericht. Die Anwälte kennen alle Tricks; wenn man dann verloren hat, geht man zum Arzt und da gibt es Möglichkeiten – es gibt Menschen, die krank sind, aber es gibt sicherlich Menschen, die nicht krank sind –, dann wird die Nicht-Reisefähigkeit bescheinigt. Es ist also, was Sie andeuten, in der Praxis viel, viel schwieriger, als einige meinen.
    Geuther: Nun soll ja auch dieses Recht – das ist ja Teil des Asylpakets II – deutlich verschärft werden, zum Beispiel eben gerade was die Gesundheitszeugnisse betrifft. Das ist dann in der Umsetzung noch mal eine andere Frage, aber trotzdem, wenn man jetzt hier rein auf die Ausweisung geht und so tut, als könnte man darüber ein Problem lösen – das ja nun erst einmal so nicht zu lösen ist –, ist das nicht eine Schieflage in der Diskussion?
    Bouillon: Natürlich versucht der ein oder andere abzulenken. Das eigentliche Problem ist doch Folgendes – und da müssen wir ehrlich sein: Wir haben ja in Deutschland genügend Beispiele dafür, wo die Integration nicht funktioniert hat. Die Erfahrung zeigt doch, dass viele dieser Menschen, die die Attentate begehen, die kriminell werden, nicht angekommen sind in dem Land, in dem sie leben. Wenn man nicht ankommt, wenn man, wie in den Banlieues in Frankreich lebt, wenn man keine Perspektive hat, das ist der Nährboden für Unruhe und für Gewalttätigkeiten.
    Mehr Polizei an Karneval
    Geuther: Jetzt haben Sie eben die Arbeit der Polizei angesprochen und haben auch das, was jetzt gerade schon in Planung eigentlich ist angesprochen, nämlich die nächsten Großereignisse, unter anderem Karneval. Was wird sich denn konkret verändern? Was kann sich überhaupt verändern?
    Bouillon: Ich denke, die Polizei wird verstärkt auftreten. Ich denke, dass alle Länderchefs dafür sorgen, dass die Polizei, die da ist, eingesetzt wird. Ich habe verfügt, dass alle technischen Mittel, die wir haben, zum Einsatz kommen. Wir tragen die Videokameras offen, um zu zeigen: Wir können jede Straftat dokumentieren. Wir sind in Einsatzbesprechungen, wir arbeiten offen und verdeckt – mehr will ich nicht sagen. Wir versuchen die Situation von Anfang an unter Kontrolle zu halten – wir sind gerüstet. Und das technische Equipment der Polizei in den Ländern ist durchaus sehr gut. Wir sind jetzt sicherlich für die Zukunft alle gerüstet, allerdings gibt es bei so großen Veranstaltungen in einigen Großstädten sicherlich keinen sicheren Schutz. Aber es darf zukünftig nicht mehr passieren, dass Straftäter freigelassen werden, weil man zu wenig Manpower hat. Wenn noch einmal so ein Vorfall vorkommt, bin ich sicher, dann ist das Vertrauen in unseren Rechtsstaat ernsthaft erschüttert.
    Geuther: Jetzt wollen wir diese Ereignisse natürlich nicht runterspielen, aber die andere Frage wäre: Wir konkret erwarten Sie eigentlich ähnliche Ausschreitungen noch mal? Glauben Sie, das war ein Ausrutscher oder haben Sie Sorge, dass so etwas öfter vorkommt?
    Bouillon: Ich bin sicher, nach der Reaktion der Politik, auch nach der Reaktion der Sicherheitsbehörden, wird so etwas in dieser Form nicht mehr vorkommen. Weil auch diejenigen, die es gemacht haben, werden wissen: Jetzt ist die Einsatzbereitschaft da, die Wachsamkeit aller Kräfte ist vorhanden. Und ich bin sicher, dass wir dann sofort zuschlagen können.
    Geuther: Sie haben eben die Polizei in Schutz genommen. Gerade Nordrhein-Westfalen hat ja in den vergangenen Jahren massiv Polizei abgebaut. Es gibt jetzt einen gegenläufigen Trend, aber es ist noch nicht ganz wieder ausgeglichen. Welche Rolle spielt das?
    Bouillon: Ob das eine Rolle spielt, kann ich nicht beurteilen. Ich glaube, die Täter, die das gemacht haben, hätten es auch gemacht, wenn wir mehr Polizisten hätten. Aber es ist richtig, dass wir und der Situation alle überlegen müssen, ob es nicht nötig wäre, aufzurüsten. Es geschieht auch im Übrigen schon in vielen Bundesländern. Selbst dort, wo man die Sparmaßnahmen früher durchgeführt hatte, wird umgedacht. Es gibt neue Begriffe, wie "Wachpolizei" in Hessen oder in Berlin. Ich habe jetzt den Begriff des "Polizeilichen Ordnungsdienstes" eingeführt – wir stellen im kleinen Saarland rund 65 Leute ein. Dadurch wird eine große Anzahl von ordnungsgemäß ausgebildeten Polizisten frei. Wir sind alle am Umdenken, weil die Situation hat sich verändert.
    Geuther: Nun ist die Bundespolizei vor allem durch die Einsätze an der Grenze am Limit und das heißt auch, bei überraschenden Entwicklungen fehlt die Reserve. Haben wir ein strukturelles Sicherheitsproblem?
    Bouillon: Strukturell, glaube ich, nicht. Man muss auch umorganisieren. Wobei, ich bin sicher, es werden noch mal neue Leute eingestellt. Das ist jetzt alles in der fließenden Entwicklung. Wenn die Situation so weitergeht und wenn wir tatsächlich noch einmal eine Million Menschen zu erwarten haben, dann wird sicherlich personell in vielen Bereichen aufzurüsten sein, nicht nur bei der Polizei, ich denke in erster Linie dann auch an die Lehrer. Schauen Sie, in unserem kleinen Saarland haben wir 3.500 Kinder mehr in einem Schuljahr. Das bedeutet: Insgesamt müssen wir in Deutschland einen gesamtpolitischen neuen Ansatz finden, hoffentlich auch parteiübergreifend. Wir müssen uns darauf einstellen, dass wir Wohnungen schaffen müssen für eine Million Menschen, dass wir Schulen brauchen, dass wir Kita-Plätze brauchen, dass wir mehr Dolmetscher brauchen, mehr Sprachkurse. Es ist eine Entwicklung an die keiner vor einem Jahr gedacht hat, aber wir müssen sie angehen, zumal der Strom ja zurzeit nach wie vor weitergeht.
    Geuther: Damit sind wir beim eigentlichen Thema "Flüchtlinge". Wir haben ja jetzt länger über ein Phänomen gesprochen, von dem wir noch nicht genauer wissen, wie sehr es eigentlich mit Flüchtlingen zu tun hat, wie sehr Flüchtlinge daran beteiligt waren. Das folgt der allgemeinen Diskussion, ich wollte es nur noch mal klarstellen. Zur Flüchtlingsfrage allgemein: Sie sind ja ungewöhnlich gut informiert als der Innenminister, der im Sommer seinen Amtssitz in eine Flüchtlingseinrichtung verlegt hat. Wie sieht es denn derzeit aus? Sie haben aufgezählt, was zu tun ist im Saarland. Das Saarland ist nicht das reichste Bundesland der Bundesrepublik – was geht denn noch?
    Bouillon: Wir haben im Saarland – Gott sei Dank – Ruhe an der Front. Es läuft alles in geordneten Verhältnissen. Der Aufenthalt im Lager – wir sagen "Lager" positiv besetzt – in Lebach war eine der wichtigsten Entscheidungen meines Lebens. Ich habe sehr viel Erfahrung gesammelt. Man ist auch mitgenommen nach drei, vier, fünf, sechs Wochen, wenn man die Schicksale tagtäglich sieht. Es war wichtig – und das haben wir im Saarland geschafft - von Anfang an zu integrieren. Ich bin belächelt und attackiert worden, als ich im Dezember 2014 ein Wohnraumsonderprogramm aufgelegt habe zur Schaffung von Wohnraum für Flüchtlinge. Ich bin attackiert worden, "Soziale Ungerechtigkeiten" et cetera. Wir haben in diesem Programm im vergangenen Jahr zwölf Millionen investiert. Es ist gelungen, 2.000 Menschen in tausende von Mietverträgen unterzubringen; insgesamt 11.500. Wir haben keine einzige Halle, kein einziges öffentliches Gebäude belegt und wir sind dabei, dies auch in den nächsten Monaten fortzuführen. Das heißt, wir haben – Gott sei Dank – erkannt, dass man von Anfang an auch Wohnraum schaffen muss. Und mir ist die Diskussion manchmal zu verkürzt in Deutschland. Es wird ja sehr oft diskutiert über Massenunterkünfte, über die Erweiterung von Massenunterkünften, aber nicht darüber, wie es weitergeht. Und das ist meine ganz, ganz große Sorge. Schauen Sie, eine Million Flüchtlinge, da braucht man mindestens 250.000 Wohnungen. Wir gehen im Saarland davon aus, für 10.000 streben wir an, 2.000 Wohneinheiten zu finden. Wir haben Sonderprogramme – ich habe sie mit dem Kollegen Reinhold Jost ins Leben gerufen. Wer bei uns ein leer stehendes Gebäude renoviert, kriegt 50.000 Euro, obwohl wir finanziell nicht auf Rosen gebettet sind, er kriegt 50.000 Euro pro Wohneinheit pro vier Personen. Das hat dazu geführt, dass über 200 Häuser renoviert wurden. Wir haben zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Die Leerstände beseitigt und die Menschen sind in den Dörfern integriert. Das hat bisher funktioniert. Nur meine Sorge ist, dass in den Ballungsräumen, wo es wenig Wohnraum gibt, die Spannungen in den nächsten Monaten zunehmen.
    Freizügigkeit einschränken
    Geuther: Nun haben Sie eben beschrieben, vor allem, als es um die Wohnungen ging, was Sie auch für einzelne Menschen tun, damit die integriert werden. Der Städte- und Gemeindebund hat gesagt: 'Dann findet man möglicherweise Arbeit oder zumindest bringt man die Leute unter und dann ziehen sie doch lieber in die Ballungsräume' und hat vorgeschlagen, man solle die Freizügigkeit für längere Zeit, als es bisher der Fall ist, einschränken. Was halten Sie von dem Vorschlag?
    Bouillon: Ich halte das für eine gute Idee. Es wird ja in Dänemark praktiziert. Ich kenne das ja auch aus meinem Lager Lebach: 40 Prozent wollen in die Städte. Es gibt ja klare Wege: Die Afghanen wollen nach Hamburg – in Hamburg ist eine große Kolonie –, die Syrer wollen ins Saarland, andere wollen nach München. Das führt dazu, dass wir erhebliche Schwierigkeiten bekommen. Weil die Städte nehmen zunächst einmal auf nach dem Königsteiner Schlüssel, sind am Rande ihrer Kraft, die Kapazitätsgrenze ist oft schon beinahe erreicht und wenn jetzt noch mal Zehntausende freiwillig dazu kommen, wird dies in den nächsten Jahren zu erheblichen Problemen führen. Die Dänen haben es uns vorgemacht. Die Dänen sorgen dafür, dort, wo man registriert und anerkannt ist, hat man drei Jahre zu bleiben, es sei denn, man weist eine Wohnung oder einen Arbeitsplatz nach. Das sind Dinge, die werden jetzt alle diskutiert werden müssen, sonst werden wir ja der Situation nicht Herr. Wir erleben es ja zurzeit umgekehrt. Wir wissen ja nicht, haben wir 200.000 oder 250.000 Menschen nicht registriert, die in einer Form von Asyltourismus durch Deutschland reisen. Das schafft Probleme. Das heißt, wir stehen in diesem Jahr vor mit den größten Herausforderungen, die wir gemeinsam bewältigen müssen. Und ich hoffe, dass das auch politisch gelingt. Weil eine solche Anzahl von Problemen, die miteinander verzahnt sind, gab es seit dem Zweiten Weltkrieg, meines Erachtens, nicht mehr.
    Geuther: Nun sind gerade die Gründe, die Sie aufgezählt haben, also zum Beispiel, dass Afghanen gerne zur größeren Gruppe von Afghanen ziehen wollen, ja auch verständlich. Und an sich ist es ja in unserem Rechtssystem so, dass der anerkannte Asylbewerber die gleichen Rechte im Prinzip hat wie andere. Wir stoßen mit dem Vorschlag doch an rechtliche Grenzen, oder?
    Bouillon: Natürlich, aber es ist rechtlich denkbar. Weil ansonsten kommt die praktische Unmöglichkeit. Ich überspitze einmal: Wenn jetzt 200.000 Afghanen innerhalb von einem Monat nach Hamburg gehen, ist dort "Land unter". Das heißt, wir müssen ja auch die praktische Situation sehen und die Lösung. Es muss alles diskutiert werden. Einfach wird es nicht, aber es geht.

    Geuther: Sie hören das Interview der Woche, mit dem Vorsitzenden der Innenministerkonferenz, dem saarländischen Innenminister Klaus Bouillon, CDU. Herr Bouillon, der Beginn Ihrer Amtszeit, die Silvesternacht, fiel mit einem weiteren Ereignis zusammen. Wegen der Terrorwarnung ausländischer Geheimdienste – Sie haben es vorhin schon kurz angesprochen – wurden zwei Bahnhöfe in München gesperrt. Wenige Wochen vorher war ein Fußball-Länderspiel in Hannover kurzfristig abgesagt worden. Müssen wir uns darauf einstellen, dass Großereignisse nicht mehr berechenbar stattfinden können?
    Bouillon: Ich hoffe nein. Das wäre natürlich eine Katastrophe für das gesellschaftliche Leben. Und deshalb appelliere ich immer daran, die Geheimdienste durchaus zu stärken. Ich weiß, es wurde ja noch bis vor kurzer Zeit erheblich anders diskutiert. Ohne die Informationen der Geheimdienste hätten wir vermutlich schon viel größere Probleme als bisher. Man kann ja nur hoffen, dass die Menschen einen guten Job machen, dass wir rechtzeitig informiert werden. Ansonsten gibt es ja nicht mehr das gesellschaftlich ungestörte Leben, das wir zurzeit haben.
    Geuther: Nun haben Geheimdienstinformationen es auch so an sich, dass sie geheimer sind, als es vielen lieb ist. Bundesinnenminister de Maizière hat ja nach der Absage des Fußballspiels nähere Informationen nicht gegeben, unter anderem mit dem berühmt gewordenen Satz: "Ein Teil der Antworten könnte die Öffentlichkeit beunruhigen". Den Satz wollen wir jetzt nicht auf die Goldwaage legen, aber ist es denn richtig, dauerhaft die Öffentlichkeit nicht zu informieren über mögliche Anschlagspläne, die danach dann doch in der Zeitung stehen?
    Bouillon: Ich denke, ich gebe Herrn de Maizière recht. Die Arbeit der Geheimdienste muss im Geheimen erfolgen. Es besteht ja immer das Risiko, dass auch die Informationen nicht immer zutreffend sind. Und da macht man manchmal die Pferde scheu und nachher stellt sich heraus: Es war eigentlich gar nicht so ernst, wie es ausgesehen hat. Es ist eine schwierige Abwägung. Alle Innenminister hoffen, dass sie im Jahr 2016 nicht vor diese Fragen gestellt werden, wie in Hannover oder in Bayern. Es bleibt ja den Verantwortlichen, meines Erachtens, nichts anderes übrig als zu reagieren. Wenn etwas passiert und es nur einen Schwerverletzten gibt, dann ist der Verantwortungsbereich aller derjenigen, die vorher gesagt haben: 'Wir sperren' oder 'Wir sagen nicht ab', so groß, dass man im Prinzip den Rücktritt erklären muss.
    Geuther: Was ist Ihr Rat für das neue Jahr?
    Schluss mit Schuldzuweisungen
    Bouillon: Mit Optimismus und Mut an die Dinge heranzugehen. Wir müssen zusammenhalten. Wir müssen wissen, dass Integration sehr, sehr schwierig wird, dass wir alle Verständnis und Toleranz brauchen. Aber es besteht kein Grund, den Kopf in den Sand zu stecken. Wir haben schon viele Probleme gelöst – nur wir müssen mit gegenseitigen Schuldzuweisungen aufhören. Länder, Kommunen, die Landräte und die Bundesregierung müssen miteinander zusammenarbeiten, sonst ist es nicht zu schaffen.
    Geuther: "Gegenseitige Schuldzuweisungen", das bezieht sich vor allem auf einzelne Länder, die auf das BAMF, auf das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, sehr kritisch reagiert haben in den vergangenen Monaten?
    Bouillon: Ich muss sagen, die Situation beim BAMF ist nicht einfach. Aber jegliche Kritik an Herrn Dr. Weise und seinem Stellvertreter, Dr. Thiel, halte ich persönlich für völlig unberechtigt. Herr Dr. Weise und seine Leute haben Erbschaften angetreten, die sind sehr, sehr schwierig. Man macht es mit Engagement, und in den wenigen Monaten ist schon viel erreicht. Wenn man die Erledigungsziffer pro Tag und Monat von früher vergleicht mit dem, was bereits jetzt erreicht ist, ist das viel. Das Problem ist für das BAMF, die Rückstände sind exorbitant hoch und es kommen jeden Monat permanent Leute dazu. Bis diese 4.000, 5.000 Menschen zusätzlich eingestellt sind, vergehen sicherlich Monate. Das heißt, der Berg wird kurzfristig bis zum Sommer mindestens noch anwachsen. Aber schauen Sie, in der Kürze der Zeit ist es Herrn Dr. Weise gelungen, die Umstellung der Computersysteme von drei Systemen im Groben auf eins zu schaffen. In einigen Wochen werden die ersten Modellversuche anlaufen beziehungsweise schon abgelaufen sein. Wir werden im März dieses Jahres ein großes Musterprojekt in Lebach eröffnen. Das Ziel ist es, dass wir an einem Tag in Form einer gemischten Behörde – Bundes-/Landesbehörden, Bundeswehr, Abgeordnete aus Kommunen - von der Registrierung bis zur Antragsstellung alles erreicht haben, sogar in einzelnen Fällen die Bescheidung. Das heißt, es ist sehr, sehr viel in Bewegung. Aber viele haben natürlich – aus der Not geboren, aus dem Druck, der da ist – keine Geduld mehr. Man muss diese Geduld haben. Wenn es einer schafft, dann Dr. Weise mit seinem Team.
    Geuther: Noch mal zur Kritik am Bundesamt. Nach dem Treffen dem Treffen der Landesinnenminister mit Herrn Weise, waren vor allem Sie zitiert worden mit der Forderung, die Mitarbeiter des Bundesamtes sollten in Schichtarbeit arbeiten.
    Bouillon: Jawohl, dazu stehe ich. Ich habe es praktiziert mit meinem Lebacher Modell. Wir hatten, nachdem ich im Sommer dort war – man kann es immer einfach runterbrechen –, eine Erledigungsziffer von 80 Bearbeitungsvorgängen pro Tag und auf einmal waren da 3.000 Leute. Da hat man jeden Tag gesehen, wenn man nur 80 abarbeitet, wie lange die Schlange ist, dann kommt es zu diesen Verteilungskämpfen, wie in Berlin. Dann haben wir gesagt: Okay, wir müssen aufrüsten. Wir haben dann innerhalb von drei Wochen die Erledigungsziffer auf 400 gesteigert; in drei Wochen waren die Dinge abgearbeitet. Und heute läuft es ruhig und normal. Dasselbe wird passieren, wenn die Umstellung beim BAMF vom Computersystem her funktioniert. Und der entscheidende erste Schritt ist, dass wir möglichst schnell das einheitliche Papier bekommen mit den Fingerabdrücken, dass wir miteinander vernetzt sind in den Bundesländern. Dann hört der Asyltourismus auf, dann hört der Missbrauch auf, dann sind wir einen wesentlichen Schritt weiter. Ich bin optimistisch. Ich sehe, was hinter den Kulissen gearbeitet wird, auch bei dem Modellprojekt bei uns. Wir können nur nicht von Herrn Dr. Weise in der Kürze der Zeit Unmögliches verlangen.
    Geuther: Na ja und die Mitarbeiter beim Bundesamt arbeiten ...
    Bouillon: ... in zwei Schichten, ja.
    Geuther: ... ja schon tatsächlich derzeit sehr viel. Und es ist derzeit auch nicht abzusehen, dass die Belastung sinken wird. Die zwei Schichten müssten ja von denselben Leuten gemacht werden. Ist das nicht gerade die Art des Schwarzen-Peter-Zuweisens, die Sie nicht haben wollen?
    Bouillon: Glaube ich nicht. Zunächst einmal: Viele der Mitarbeiter beim BAMF arbeiten ja schon in zwei Schichten. Es ist ja nicht so, dass das nicht üblich ist. In Bayern hat man sogar in drei Schichten gearbeitet. Herr Dr. Weise hat mobile Teams in Einsatz gebracht. Es geht, meines Erachtens, nur in den zwei Schichten, wenn auch mit Abordnungen gearbeitet wird. Ich habe in den ersten Wochen die Bundeswehr angefordert – am Anfang heftig umstritten, heute ganz normal –, wir haben Abordnungen aus den Ministerien zur Verstärkung hingeschickt und Abordnungen aus den Kommunen. Meine persönliche Meinung ist – und das werde ich mit Herrn Dr. Weise auch bereden –, alle Bundesländer müssten, meines Erachtens, zu den Einstellungen, die geplant sind, helfen. Weil 5.000 Menschen einzustellen, das dauert einige Zeit, das ist einfach so. In sofern sind wir alle gefordert. Das föderalistische System muss sich im Prinzip jetzt zu einem Einheitssystem zusammenraufen. Wir müssen alle helfen. Es macht keinen Sinn, wenn wir sogenannte "normale" Verwaltungen haben, die die normale Arbeit machen und diejenigen beim BAMF oder bei anderen Bundesbehörden wissen nicht mehr, wo ihnen der Kopf steht. Das heißt, auch hier werden wir neue Wege gehen müssen, um diese hohe Anzahl an unerledigten Anträgen zu beseitigen.
    Geuther: Wie viele Leute schickt das Saarland?
    Bouillon: Wenn wir gefragt werden, schicken wir. Wir sind jetzt schon dabei. Wir haben zurzeit ... wir sind in Umbaumaßnahmen für diese neue Verbundbehörde, für die gemischte. Wir haben schon fünf bis sechs unserer Leute vom LaVA (Landesverwaltungsamt) hingeschickt. Wenn Bedarf nach mehr besteht, wird das für uns innerhalb kurzer Zeit geregelt.
    Geuther: Ihre Amtszeit ist jung. Herr Bouillon, was haben Sie sich für Ihre Zeit als Vorsitzender der Innenministerkonferenz besonders vorgenommen?
    Bouillon: Ich hoffe, dass es mir mit den Kollegen gelingt, die Situation im Griff zu behalten, dass wir von Anschlägen verschont bleiben, dass die Asylverfahren schneller gehen, dass es gelingt, die Stimmung aufrecht gut zu erhalten und dass wir Wohnraum finden, damit wir die Menschen ordnungsgemäß unterbringen. Ohne Wohnraum scheitert für mich jede Integration.
    Geuther: Herr Bouillon, vielen Dank für das Gespräch.
    Bouillon: Gerne.
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