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Nescio: Werke
Ein Meister der Stimmungen

Als Europas Autoren noch weitgehend auf sprach­liche Überwälti­gung setzen, schrieb Nescio eine lako­ni­sche Prosa, die ihrer Zeit weit voraus war. 1918 erschien sein Debüt, 1961 kam sein zweites Buch heraus. Mehr veröffentlichte er nicht. Erst nach seinem Tod wird er in den Niederlanden entdeckt. Nun ist sein Werk auch auf Deutsch zu lesen.

Von Matthias Kußmann | 17.04.2017
    Die Innenstadt von Amsterdam mit St. Francis Xavier Kirche (links).
    Nescio, bürgerlich Jan Hendrik Frederik Grönloh, wurde 1882 in Amsterdam geboren. (picture-alliance / Daniel Kalker / Daniel Kalker)
    "Jongens waren we – maar aardige jongens. Al zeg ig ’t zelf. We zijn nu veel wijzer, stakkerig wijs zijn we, behalve Bavink, die mal geworden is. Wat hebben we al niet willen opknappen. We zouden hun wel eens laten zien hoe `t moest. We, dat waren wij, met z'n vijven."
    So klingt Nescio im Original, auf Niederländisch, gelesen von Christiane Kuby. Und so in der Übersetzung von ihr und Herbert Post:
    "Jungs waren wir – aber nette Jungs. Wenn ich das so sagen darf. Wir sind jetzt viel klüger geworden, erbärmlich klug sind wir, abgesehen von Bavink, der ist durchgedreht. Was wollten wir nicht alles besser machen. Wir würden denen schon zeigen, wo es lang geht. Wir, das waren wir fünf."
    Das ist der Anfang der Erzählung "Kleine Titanen", die auf 40 Seiten den ganzen Nescio enthält – in Stoff, Ton und Haltung. Wie war das zu übersetzen, zumal, wenn man zu zweit übersetzt? Christiane Kuby:
    "Wir haben von Anfang an uns vorgelesen, weil wir dachten, wie kriegen wir jetzt das Mündliche rein? Es muss die Melodie haben, es muss schön klingen und es muss mündlich klingen – und das kann man am besten erreichen, indem man es laut sich vorsagt, das haben wir sehr viel gemacht. Und natürlich versuchen, so nah wie möglich an das ranzukommen, was Nescio im Niederländischen ausdrückt."
    Nescio findet eine wunderbar leichte Sprache
    Es ist sehr gut gelungen. Ein Ich-Erzähler blickt zurück auf die Zeit, als er und seine Freunde um die 20 waren: Büro-Angestellte, arm, oft ins falsche Mädchen verliebt. Sie schimpfen aufs Geld und die Gesellschaft, sehen sich als Künstler und Schriftsteller. Halbgare Bohemiens, die alles anders und besser machen wollen, ewig diskutieren – aber kaum handeln. 20 Jahre später sind sie gesetzte Herren in bürgerlichen Berufen.
    "Abgesehen von Bavink, der ist durchgedreht."
    Der Abschied von den frühen Idealen scheint also nicht unbedingt leicht gewesen zu sein. Doch dieses Scheitern, vielleicht auch nur ein Ermüden, wird nicht anklagend oder bitter erzählt, sondern wehmütig, sanft ironisch. Ein erstaunlicher Text: Es geschieht fast nichts, die Freunde reden (auch Belangloses), rauchen, trinken, gehen in der Natur herum. Das könnte langweilig sein – aber Nescio findet eine wunderbar leichte Sprache, er ist ein Meister der Stimmungen:
    "Stundenlang saßen wir im Dunkeln. Die Lampe war runtergebrannt und ausgegangen. Wir blieben sitzen und rauchten, stundenlang. Ab und zu sagte einer was. Bavink meinte, Malen sei das Dümmste, was man machen konnte. Kees kapierte wieder gar nichts. "Man müsste einfach nur still dasitzen", sagte Bavink und sah zum Himmel, an dem ein großer grünlicher Stern funkelte. "Man müsste einfach nur still dasitzen und sich sehnen, ohne zu wissen wonach." Und er stopfte sich noch eine Pfeife."
    Vollends erstaunt, dass die Erzählung von 1914 stammt. Als Europas Autoren noch weitgehend auf sprachliche Überwältigung setzen, schreibt Nescio eine lakonische Prosa, die ihrer Zeit weit voraus ist.
    "Er war da wirklich ein Neuerer, er hat unglaublich viel gefeilt und gearbeitet an diesen Texten. Aber es ist ihm gelungen eine ganz einfache mündliche Sprache zu produzieren – die sich liest im Niederländischen, als ob es heute geschrieben wäre".
    Nescios zweites großes Thema ist die Natur
    Der schöne Band aus der Bibliothek Suhrkamp trägt den Titel "Werke" und hat doch nur 200 Seiten. Er enthält drei längere Erzählungen über die jungen Bohemiens und sechs kurze Texte, das war‘s. Nescio hat wenig veröffentlicht. Bürgerlich hieß er Jan Hendrik Frederik Grönloh, wurde 1882 in Amsterdam geboren. Er war Direktor einer Handelsgesellschaft und publizierte unter dem Pseudonym Nescio, lateinisch für "ich weiß nicht".
    "Und das sagt ja auch schon was über sein Werk aus. Dass man eben keine Weisheit zu verkünden hat, das mochte er gerade nicht. Man kann Fragen stellen, man kann Unsicherheiten zeigen, wie der Mensch so im Leben hin und her geworfen wird. Das wollte er zeigen."
    Nescios zweites großes Thema, neben Erinnerungen an die Jugend, ist die Natur. In den Erzählungen, aber auch in Texten aus dem Nachlass und Briefen. Eine gute Auswahl gibt es jetzt in der Literaturzeitschrift "Schreibheft", ausgewählt und eingeführt von Lieneke Frerichs.
    "Ich schaute am Stamm eines hohen Baumes hinauf und in den Himmel und sah, dass der Abend nicht herabsank, denn oben war es viel heller als unten. Die Blätter zitterten und wirbelten, und ein gelbes Blatt löste sich und segelte ins Gras. Da spürte ich, dass alles gut war und dass noch etwas kommen würde, später. Ich empfand eine große Zufriedenheit und zugleich eine große Sehnsucht. Und die Gewissheit, so ein Tag wird nie wiederkommen."
    Nescios Naturbeschreibungen sind lyrisch, doch auch seine Erzählungen sind letztlich Prosagedichte.
    "Er sagte auch mal: Am liebsten hätte ich nur diese lyrischen Stellen genommen. Aber das kann man ja nicht verkaufen, ich musste mir eine Geschichte ausdenken".
    1918 erscheint Nescios Debüt mit den drei Bohème-Erzählungen. Es gibt gute Kritiken, aber bis zur zweiten Auflage vergehen 15 Jahre. Da sein Buch wiederholt einem anderen Autor zugeschrieben wird, erklärt Grönloh dann doch, er sei der Verfasser. Erst 1961 kommt sein zweites Buch heraus, mit Prosa und Fragmenten. Da wird sein Werk von Kollegen wie Cees Nooteboom geschätzt – doch erst nach seinem Tod im selben Jahr wird dieser stille, eigenwillige Autor in den Niederlanden "entdeckt". Heute ist er dort berühmt – und jetzt endlich auch auf Deutsch zu lesen.
    "Und Bavink schlenderte durch die Kalverstraat davon, den Kragen hochgeschlagen und eine Beule unter dem Mantel, und er pfiff die Marseillaise, und roch nach frischem Brot."
    Nescio: "Werke"
    Aus dem Niederländischen von Christiane Kuby und Herbert Post.
    Suhrkamp Verlag, 200 Seiten, 22 Euro.
    Schreibheft. Zeitschrift für Literatur. Nr. 87, 13 Euro.