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Strategie des IS
Experte: Terror soll Muslime radikalisieren

Erst Scharm el Scheikh, dann Beirut und schließlich Paris. Was kommt als nächstes? Die Terrormiliz IS hat sich zu den Anschlägen von Paris bekannt. Sie spricht von Vergeltung für die französischen Bombardierungen von IS-Stellungen in Syrien und im Irak. Ist das eine neue Strategie gegenüber Frankreich und Europa?

Von Birgit Kaspar | 15.11.2015
    Menschen sitzen auf dem Boden einer Moschee.
    Muslime in der Moschee von Luce bei Chartes. In dieser Moschee war regelmäßig auch einer der Selbstmordattentäter vom 13. November. (AFP / Jean-François Monier)
    Zum ersten Mal töteten Dschihadisten ausgerüstet mit schweren Waffen und Sprengstoffgürteln auf französischem Boden quasi blind, ohne zu diskriminieren. Dies sei eine neue Qualität, betont der Islamexperte Gilles Kepel im französischen Fernsehen, denn bisher hätten sie ihre Opfer nach klaren Gesichtspunkten ausgewählt:
    "Es hat drei große Ziele gegeben, die der Chefideologe Abu Musab al Souri in einem voluminösen Werk über den modernen Jihad aufgelistet hat: die laizistischen islam-kritischen Intellektuellen, die Juden und die so genannten Apostaten, die schlechten Muslime. Heute gibt es in der Vision der radikalen salafistischen Dschihadisten weder Christen, Juden oder andere Moslems. Heute gibt es nur noch die Mitglieder der eigenen Sekte und wenn man nicht so radikal ist wie sie, dann ist man zum Abschuß frei."
    Eine weitere Entwicklung zeichnet sich nach Ansicht von Experten ab: Der IS war lange Zeit darauf konzentriert, territoriale Gewinne im Nahen Osten zu erwirken. Doch die Organisation gerät derzeit militärisch stärker unter Druck. Das russische Militär unterstützt ebenso wie die radikal-schiitische libanesische Hisbollah die Truppen des syrischen Präsidenten Bashar al Assad. Beide wurden jüngst Ziele von Attentaten. Die französische Luftwaffe begann im September, Ziele des "Islamischen Staates" ins Visier zu nehmen. Die Attentate von Paris können als Antwort darauf gesehen werden. Kepel meint jedoch, dass nicht nur Frankreich, sondern ganz Europa von den Dschihadisten als weiches Ziel ausgemacht worden sei:
    "Hier müsse man häufiger angreifen, so die Doktrin, mit dem Ziel, die Bevölkerung zu spalten und scharfe Reaktionen gegen die Muslime zu provozieren. Letztere radikalisierten sich infolge dessen, so das Kalkül, und man könne schließlich eine bürgerkriegsähnliche Situation erreichen."
    Davon kann derzeit in Paris noch keine Rede sein.
    Risiko von Flüchtlingen als Täter wird überschätzt
    Die Ermittlungen haben unterdessen erste Erfolge verzeichnet. Der Staatsanwalt von Paris spricht von wahrscheinlich drei Attentäterteams, die sich koordiniert hätten. Die Ermittler identifizierten einen der Täter als jungen Franzosen mit algerischem Migrationshintergrund. Er war den Behörden als Kleinkrimineller bekannt, der sich radikalisierte und nach Angaben der Zeitung "Le Monde" auch einige Monate bei Dschihadisten in Syrien verbrachte.
    Zudem haben die Ermittler einen syrischen Pass am Anschlagsort gefunden. Ob er zu einem der Attentäter gehört, ist noch unbestätigt. Jedoch war ein Mann mit diesem Pass nach griechischen Angaben am 3. Oktober in einem Flüchtlingscamp der griechischen Insel Leros registriert worden.
    Diese Information wärmte nicht nur in Frankreich Spekulationen auf, auf die Weise könnten mehr als Flüchtlinge getarnte, gewaltbereite Dschihadisten einsickern. Ein Risiko, das angesichts der lebensgefährlichen Flüchtlingsrouten wohl überschätzt wird. Reinoud Leenders, Nahostexperte am King's College in London, verweist auf das große Reservoir an IS-Sympathisanten, die alle einen europäischen Pass besitzen und sich bestens in ihren Heimatländern auskennen. Warum also gut ausgebildete Kämpfer auf eine so gefährliche Reise schicken, die sie möglicherweise nicht überleben?
    Es ist deshalb die Kategorie der so genannten Dschihad-Rückkehrer, die den französischen Behörden das größte Kopfzerbrechen bereitet. Der ehemaliger Pariser Antiterror-Richter Marc Trévidic fordert aus dem Grund eine Stärkung der Justiz:
    "Man sollte sie zumindest in die Lage versetzen, sich all Syrien-Rückkehrer näher anzusehen. Bisher kommt etwa die Hälfte in die Hände der Justiz, mit dem Rest beschäftigen sich die Nachrichtendienste."
    Das reiche aber nicht aus, um der großen Gefahr, die von den Rückkehren ausgehen könne, zu begegnen.