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Strategie - Die Logik von Krieg und Frieden

Worum geht es, wenn das militärische - sprich: militärstrategische Denken - die Oberhand vor politisch-diplomatischen Erwägungen gewinnt? Um einen Paradigmenwechsel, bei dem beidseitige Verlässlichkeit gegen größtmögliche Handlungsfreiheit ausgewechselt wird. Dazu gehört jede Art von Täuschung, auch der eigenen Bevölkerung, was Demokratien in ihren Grundfesten erschüttert. Eigentlich vermögen nur absolute Diktatoren im Vorfeld militärischer Konflikte strategisch zu handeln, weil sie die nötige Prinzipienlosigkeit mitbringen. Vor dem Hintergrund der aktuellen amerikanischen Politik liest sich Edward Luttwaks große Unternehmung, eine Logik der Strategie zu entwickeln, wie die erbarmungslose Abrechnung mit dem hilflosen und zum Scheitern verurteilten Versuch, als demokratischer Staat die Fußfesseln der öffentlichen Meinung und Abhängigkeit vom Wähler zugunsten hegemonialer Bestrebungen abzustreifen.

Florian Felix Weyh | 20.02.2003
    Erbarmungslos ist Luttwak freilich in jeder Hinsicht, er teilt nach allen Seiten hin aus und folgt damit jenem Prinzip, das er selbst als tragend für strategische Prozesse erachtet. In Kriegen und vormilitärischen Konflikten, so Luttwak, herrscht stets eine nichtlineare, darum auch nicht vorhersehbare paradoxe Logik vor, die lineare Ergebnisse rasch in ihr Gegenteil verwandelt. Weder existiert ein gleichförmiges Zusammenspiel von Aktion und Reaktion, noch lässt ein formallogischer Rahmen bestimmte Züge der Gegenseite antizipieren. Als übergeordnete Regel entdeckt der Stratege das Prinzip der Überdehnung und Überschreitung eines Kulminationspunktes, in deren Folge sich die Verhältnisse umkehren. Ob Napoleon oder Hitler, ihre Siege im Osten überdehnten die eigenen Kräfte, weil die Nachschubwege zu lang wurden. Umgekehrt überschritt auch die Niederlage der Gegenseite ihren Kulminationspunkt, indem die fliehenden Truppen immer näher an eigene Versorgungslinien herangetrieben wurden. Wie in der realen Schlachtengeographie galt das Prinzip Überdehnung auch im abstrakten Rahmen des Wettrüstens.

    Wenn dann der Kulminationspunkt des Erfolgs überschritten ist, werden die gegen die neue Bedrohung eingesetzten Ressourcen größer sein, als es dem erzielten Ergebnis angemessen ist. Mit anderen Worten, durch die Schwächung der eigenen positiven Operation kann mehr verloren gehen, als durch die Verringerung der Gefahr an anderer Stelle gewonnen wird.

    Diese paradoxe Logik schlägt sich seit dem Altertum im Merkspruch "Si vis pa-cem, para bellum" nieder-wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg. Doch auch dieser Satz hat eine inverse Gegenwirkung, denn wer sich daran hält, rüstet möglicherweise so hoch, dass er für seine Nachbarn zur Bedrohung wird' und sie zu einem Präventivschlag verleitet. Ein weiteres Problem entdeckt Edward Luttwak in der demographischen Entwicklung. Die ohnehin individualistisch orientierte westliche Welt macht eine andere Kosten-Nutzen-Rechnung in Sachen Menschenleben auf als frühere Nationen mit ihrem Kinderreichtum und Bevölkerungsüberschuss. Darin sieht Luttwak die schlagendste Ursache dafür, warum selbst die Großmacht USA nur noch "postheroische" Kriege riskieren kann, also hochtechnisierte Materialschlachten ohne eigene Tote und Verletzte. Den Staaten der westlichen Welt fehlt Heldentum als ideologische Geschäftsgrundlage.

    Sie mögen zwar allesamt noch die militärische Stärke oder zumindest die ökonomische Basis besitzen, um eine bedeutende militärische Macht aufzubauen. Ihre Gesellschaften sind aber gegen Opfer so allergisch, dass sie faktisch oder nahezu "debellisiert" sind.

    Wie geht das mit der aktuellen Irakpolitik der Bush-Administration zusammen? Vordergründig gar nicht, doch Edward Luttwak ist so etwas wie ein neutraler Falke. In den Verdacht des Pazifismus kommt er gewiss nicht, denn die Nützlichkeit von Kriegen und die Schädlichkeit von UN-Missionen stehen für ihn in einem superbellizistischen Ansatz völlig außer Frage:

    Ein vollständig ausgetragener Krieg, in dem alle Kräfte bis zum letzten ausgeschöpft und jeder erfolgversprechende Ausweg probiert wurde, in dem Zerstörungen erlitten und angerichtet wurden und keine Hoffnung mehr auf einen größeren Erfolg besteht, kann zu einem potentiell stabilen Frieden führen. Wird der Krieg aber unterbrochen, bevor er sich selbst zerstört hat, muss darauf nicht unbedingt Frieden folgen. (...). Die Kriegführenden können sich erneut in Position bringen und ausrüsten, so dass die Kampfhandlungen nach dem Ende der Waffenruhe intensiver und nachhaltiger fortgesetzt werden.

    In diesem Sinne geißelt der Stratege auch jeden gutgemeinten Eingriff in fremde Streitigkeiten:

    Humanitäre Hilfsaktionen sind die uneigennützigsten Interventionen in die Kriege anderer Völker. Es sind auch die destruktivsten.

    Beispiele finden sich auch für diese Ansicht, da paradoxe Logik keine Konsistenz nachweisen muss, jeder Einzelfall belegt ihre Gültigkeit. Ebenso inkonsistent - und deswegen für die praktische US-Politik dieser Tage unbrauchbar - erweist sich die Haltung Luttwaks zum amerikanischen Großmachtstreben. Ursprünglich geschrieben vor dem 11. September 2001, danach jedoch nochmals revidiert, bleibt der distanzierte Gestus des Buches unberührt von Stimmungen im eigenen Lande. Natürlich sind die USA die einzige verbliebene Supermacht der Welt, aber sie werden das nicht bleiben. Das Prinzip Überdehnung duldet keine statische Größe, und in diesem Punkt lesen sich die letzten Seiten des Buches prophetisch. Ganz deutlich hat George W. Bush im Konflikt mit den Europäern den eigenen Sieg überdehnt.

    Wenn die passive Realität der amerikanischen Vormachtstellung (...) dem aktiven Streben nach globaler Hegemonie weicht, könnte die nur die Reaktion hervorrufen, die es in der Vergangenheit immer hervorgerufen hat: untergründigen Widerstand seitens der Schwachen, offene Opposition seitens der weniger Schwachen.

    Natürlich wird Amerika einen Irakkrieg mit seiner erdrückenden militärischen Übermacht gewinnen, aber das bedeutet nur einen Sieg innerhalb einer möglicherweise bereits gescheiterten Gesamtstrategie. So eisig diese Analyse des zynisch formulierenden Strategen an seinem Schreibtisch auch wirkt, ihre intellektuelle Brillanz ist bestechend. Der Abstraktionsgrad militärischer Effektivitätsberechnungen legt sich allerdings wie ein schleichendes Betäubungsgift über die Lektüre, so dass man erst spät bemerkt, wovon eigentlich die Rede ist: nicht von paradoxer, sondern von perverser Logik. Sie zur Kenntnis zu nehmen, wäre die erste Stufe, um ihr widersprechen zu können. Radikaler ausgedrückt: das Denken der Militärs vom politischen Diskurs auszuschließen. In Demokratien mag das theoretisch gelingen, in Diktaturen bleibt es utopisch. Darum schließt sich der Kreis zu einem Dilemma. Darf man Diktatoren militärisch beseitigen, um das von ihnen genährte militärische Denken aus der Welt zu schaffen, das man wiederum zu ihrer Beseitigung selbst in Anspruch nimmt? Ist der Teufelskreis irgendwie friedlich zu durchbrechen? Vermutlich nicht, denn das schrecklichste Paradoxon bleibt ewig bestehen:

    Wenn Frieden nicht Krieg hervorrufen würde, dann gäbe es keinen Krieg - denn Krieg kann sich nicht selbst unendlich fortsetzen.