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Streetart
Kunst an längst vergessenen Orten

Eine Woche lang haben internationale Graffiti-, Street Art- und Medienkünstler aus aller Welt mit Sprühdosen, Pinseln und Farbeimern in leer stehenden Fabrikhallen in der sächsischen Provinz gearbeitet. Das Gesamtkunstwerk kann nun drei Tage lang betrachtet werden.

Von Claudia Euen | 29.08.2014
    Das Kulturzentrum "Rote Flora" im Hamburger Schanzenviertel ist am 16.01.2014 zu sehen.
    Graffitis - wie hier am Kulturzentrum Rote Flora in Hamburg - sind nicht immer gern gesehen. (picture alliance / dpa / Maja Hitij)
    Crimmitschau. Westsachsen. Ein altes Industriegelände, leere Fabrikhallen schlucken den Hip-Hop, der vom betonierten Innenhof herüberschallt.
    Da wo Guido Zimmermann gerade hängt, wird anderen allein beim Hingucken schlecht: an einer Hauswand in zehn Metern Höhe. Gerade ist er dabei die Barthaare einer Ratte zu glätten, mit einer Sprühdose und ziemlich viel Abstraktionsvermögen. Denn das Bild, an dem er malt, ist so groß, dass er aus nächster Nähe höchstens einen kleinen Gesichtsausschnitt erkennen kann. Ein Baukran transportiert den 35-Jährigen von links nach rechts.
    "Ich versuch jedes Mal, mit neuen Tieren zu arbeiten. Ratten passen aber auch gut. Einmal gab es bestimmt auch in der Fabrik, zum anderen haben Tiere ja so eine bestimmte Charaktereigenschaft und Ratten sind diese dreckigen, fiesen Sprüher halt."
    Guido Zimmermann ist Graffitikünstler aus Frankfurt. Er weiß, was es heißt, sich heimlich nachts im Dunkeln an fremden Wänden selbst zu verwirklichen. Illegal. Hier auf der IBUG ist das anders. Rund 80 Street-Art-Künstler sind in diesem Jahr gekommen, um ganz offiziell die leer stehenden Gebäude zu bemalen - für Zimmermann der richtige Ort, um das Negativ-Image der Sprayer auf die Schippe zu nehmen. Seine Ratten sprühen gerade, als ein minikleines Polizeiauto, ein Käfer, aus düsteren Wolken auf sie zurast.
    "Meine Bilder sind immer vermenschlichte Tiere im Kontext von klassischer Malerei. Ich versuch immer, Bezug auf den Ort zu nehmen, und hier war ja mal eine Textilfabrik, deswegen haben die Ratten auch so schöne Gewänder an, also gefärbte Tücher."
    Das Manchester des Ostens
    Vor 100 Jahren gehörte Crimmitschau zu den Hotspots der sächsischen Textilindustrie. Am Ufer der Pleiße reihten sich Textilfabriken, Arbeiter- und Fabrikantenvierte aneinander. Nicht umsonst wurde sie "Stadt der hundert Schornsteine" genannt. In den vergangenen Jahren bemalten IBUG-Künstler Brachen in Glauchau, Zwickau und Meerane, dem Geburtsort der IBUG im Jahr 2006. Wie Crimmitschau haben auch diese Städte ihre Hochzeit längst hinter sich. Gerade deshalb fühlen sich die Festivalmacher in den Ruinen Westsachsens beheimatet. Die Orte üben nicht nur einen enormen Reiz auf Künstler aus aller Welt aus, auch identifizieren sich viele Einwohner mit ihnen, sagt Festivalorganisatorin Maxi Kretzschmar.
    "Westsachsen ist das Manchester des Ostens. Die Wende kommt, bricht alles weg, die Produktion wird eingestellt von heute auf morgen. Man sieht auf den Schreibtischen, wenn man in die Brachen geht, zum Teil noch den letzten Brief liegen. Die meisten Leute, gerade in den ländlichen Regionen, haben irgendeine Beziehung zu dieser Brache, sei es, weil die Mama da gearbeitet hat oder der Onkel da was eingekauft hat."
    Steigende Besucherzahlen zeigen, dass die Freiluftkünstler willkommen sind. Mit 6.000 rechnen die Macher in diesem Jahr, die allein mit den Eintrittsgeldern, viel Selbstausbeutung und dem Wohlwollen der Anwohner das Kunstevent auf die Beine stellen. So mancher hat schon Essen beigesteuert oder seine Dusche zur Verfügung gestellt. Benjamin Duquenne ist extra aus Frankreich angereist, ein Festival wie dieses gibt es dort nicht.
    Ein Magnet für junge Menschen
    "Die Stimmung auf der IBUG ist einzigartig, so familiär. Es ist cool hier zu arbeiten, und gleichzeitig ist das künstlerische Niveau sehr hoch. Wichtig ist auch der Austausch mit anderen: Zu zeigen was man macht und zu sehen, was die anderen machen und vielleicht gemeinsam etwas zu schaffen."
    Die Stadtoberen und der Eigentümer des Geländes sind froh über die kostenlose Kunst. Sie belebt den Ort, wo Menschen einst ihre Existenz verloren. Gerade in Zeiten des demografischen Wandels ist das Festival ein Magnet für junge Menschen. Die Leipziger Künstlerin Elisabeth Wolf malt gerade mit einem Pinsel und blauer Farbe ein Karussell an eine Hauswand. Vor dem Karussell steht eine Frau und blickt verträumt.
    "Der Grundgedanke ist eben, dass das Rad der Zeit eben nicht stillsteht und die Person im Bild mit dem dunklen Hintergrund verschwimmt und die Zeit vergeht und auch Erinnerungen vergehen."
    Die farbenprächtigen Bilder aber bleiben vorerst erhalten. Der Eigentümer will die Gemäuer nicht abreißen. Er ist stolz, die Kreativen zu Gast zu haben, unterstützt sie und freut sich auch über die nächtlichen Partys. Denn Disco gibt es sonst in Crimmitschau nur einmal im Monat, im Klubhaus.