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Streifzüge über den Boulevard Ney

Clochards, Fixer, Exilanten und Prostituierte wohnen am Schauplatz Boulevard Ney, am nordöstlichen Stadtrand von Paris. Von ihrem Leben, ihrem tragischen Schicksalen erzählt der französische Journalist und Autor Jean Rolin.

Von Wolfram Schütte | 24.07.2009
    Seit James Joyce mit seinem "Ulysses" sowohl die Homerische "Odyssee" neu belebte, als auch die banale menschliche Existenz in einer Großstadt en détail et en gros beschrieb, hat seine "Ausweitung der Kampfzone" des epischen Erzählens mit der modernen Realität manche Nachfolger gefunden - wie zum Beispiel John Dos Passos oder Alfred Döblin. "Manhattan Transfer" oder "Berlin Alexanderplatz" bezeichnen nicht nur zwei der großen Romane der Weltliteratur des 20. Jahrhunderts, sondern auch jeweils zentrale Örtlichkeiten, an denen das metropolitane Leben der Stadtbewohner sich verdichtete, umschlug und zerstreute.

    Jean Rolins "Boulevard Ney" - der Name einer der großen Verkehrsachsen im Großraum des nördlichen Paris - greift im Titel diese lokalisierende Romantradition auf. Das bescheidenere Buch bleibt aber stärker als Dos Passos oder Döblin der exakten topografischen Benennung und Beschreibung seines gewählten Reviers verhaftet. Der nicht mit dieser prekären Pariser Banlieue vertraute Leser - und wer wäre das nicht, selbst wenn er in Paris lebte, aber nicht gerade dort? - muss sich durch einen Verhau wechselnder und wiederholter Namen von Plätzen, Gebäuden und Kreuzungen schlagen wie durch einen kartografischen Dschungel, um zu den Menschen und Geschichten vorzudringen, die dort - als Versprengte und Randfiguren des Molochs Paris - hausen, auf den Strich gehen, dealen oder sterben.

    Jedoch die literarische Expedition in den Pariser Alltag der Gegenwart, auf die einen der 1949 geborene Journalist und Romancier Jean Rolin mitnimmt, lohnt die Anstrengung - nicht nur, weil er ein Stilist von hohen Graden ist und das der Übersetzer Holger Fock uns nachempfinden lässt.

    Rolin, der 25 Jahre lang aus den Krisengebieten der Welt berichtete, hatte sich rund ein Jahr lang zur Jahrtausendwende in Billighotels in der Nähe der ewig dröhnenden Pariser Umgehungsautobahn Périphérique einquartiert, um rund um den "Boulevard Ney" die ärmliche Existenz von Gelegenheitsarbeitern, Clochards, Fixern und osteuropäischen Prostituierten zu beschreiben, denen allen das Leben ihr Waterloo bereitet hatte.

    Der Name von Napoleons endgültiger Niederlage ist eine naheliegende Metapher für verlorenen Lebenskampf - weil sie auch das Ende des Namensgebers des Boulevards bedeutete. Michel Ney galt unter des Kaisers Marschällen für Napoleon als "der Tapfersten der Tapferen", der aber für seine Frau eigentlich "immer nur ein schwacher Mann und ein Kind gewesen" ist. Er hatte sich dem von Elba entflohenen "Kaiser der 100 Tage" wieder angeschlossen und in Waterloo bis zuletzt an der Spitze seiner Truppen todesmutig gekämpft, war aber nicht gefallen und wurde am 7. Dezember 1815 als Hochverräter in Paris hingerichtet.

    Jean Roland nahm sich vor, sowohl "aus dem Blickwinkel des Boulevards, der seinen Namen trägt, über Marschall Ney zu schreiben", als auch den Boulevard und seine Menschen zu beschreiben - "aber aus dem mutmaßlichen Blickwinkel Marschall Neys". Es ist ein, wie der Autor bemerkt, "ziemlich weit gefasstes und wirres Vorhaben"; aber diese doppelte literarische Buchführung entfaltet - wenn auch nicht immer hinreichend eng geführt - einen abwechslungsreichen, ironischen, sympathetischen erzählerischen Reiz, in dem die Mythologie der Großstadt in Louis Aragons "Bauer von Paris", diesem fantastischen Prachtstück des Surrealismus von 1926, noch ein wenig nachglimmt.

    Die tragikomische Lebensgeschichte und das Schicksal des Flöten spielenden napoleonischen Feldmarschalls gibt als historische Kontrastfolie den nicht minder tragikomischen, heutigen Lebensschicksalen tapferer Verlierer, die sich, aus der Bahn geworfen, mit Zähigkeit, Schlauheit und Contenance am Leben erhalten - und wäre es nur in einem Wohnwagen oder dem Hohlraum eines Brückenpfeilers: eine erlebenspralle emotionale Tiefe.

    Rolin bewegt sich in seinem Revier sowohl wie ein Ethnologe, der die einheimischen Kiezbewohner bei ihrer Lebensbewältigung beobachtet, als auch wie ein müßiger Spaziergänger, der sich zu jeder Tages-, Nacht- und Jahreszeit von seiner Neugier durch die Straßen, auf die Plätze und in die Cafés treiben lässt und dabei seine vielfachen erzählerischen Momentaufnahmen macht, aus denen das Buch besteht.

    Der welterfahrene Reporter begegnet seinen zeitweiligen Lebensgenossen mit der Empathie und dem Respekt des großen Journalisten, der ihre Würde und Menschlichkeit bewundert; und der Schriftsteller Jean Roland versteht es, Menschen, Biografien, Orte und Situationen so erzählerisch zu beschwören und kompositorisch aufeinander zu beziehen, dass aus seiner literarischen Montage so etwas wie eine kleine schwarze Perlenkette des Lebens und Sterbens entsteht: an der Peripherie.
    Jean Rolin: Boulevard Ney
    Aus dem Französischen von Holger Fock
    Berlin-Verlag, Berlin 2007, 236 Seiten, 24 Euro