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Streit in der Politik
Die Zeit der lauen Mitte ist vorbei

Schimpfen gehört wohl in jeder Gesellschaft zum Alltag. Das Internet hat aber Reichweite und Geschwindigkeit der Verbreitung wesentlich erhöht. Zudem werden die Grenzen des Sagbaren ständig getestet. Diese Angriffe auf gesellschaftliche Werte können aber auch zur Stärkung der Demokratie führen.

Von Doris Arp | 19.09.2019
Auf dem Boden des Bundestags ist ein Schattenriss eines Redners mit erhobener Hand zu sehen: Es handelt sich um Stephan Mayer (CSU), der am 22.02.2018 zur Debatte um Vollverschleierung im öffentlichen Raum spricht.
Konstruktiver Streit erhöht Glaubwürdigkeit der Politik, Streitereien nicht. (Wolfgang Kumm / dpa )
"Volksverräter, Volksverräter – Ihr seid die Nazis, guckt mal in den Spiegel. - Keinen Millimeter diesem rechtsradikalen Mopp."
Beleidigungen, Beschimpfungen, Schmähungen, Hetze begegnen uns auf der Straße, in sozialen Medien und zunehmend in den Parlamenten und politischen Debatten. Starke Gefühle finden starke Worte.
"Ich hatte vor kurzem einen AfD-Shitstorm am Hals aufgrund einer Globalisierungsäußerung. Da kommen dann Äußerungen, die möchte man nicht hören. Bis hin zu Wünschen, dass ich vergewaltigt werden soll, bis hin zu KZ für Sinti und Roma – man möchte das gar nicht lesen."
Doch Sabine Döring interessieren die Gründe hinter den Hassbotschaften. Die Philosophieprofessorin an der Universität Bielefeld befasst sich seit vielen Jahren mit dem Thema Gefühl und Politik.
"Oft wird so getan, als ob jetzt gerade die Gefühle überhand nehmen und der politische Diskurs zunehmend irrational wird. Das scheint mir eine Fehldiagnose zu sein. Ich glaube, dass schon immer Gefühle den politischen Diskurs wesentlich mitbestimmt haben und wir erwarten auch, dass Politiker für eine bestimmte Sache einstehen, manchmal muss es ums Ganze gehen."
Streit ist Teil der Politik
"Ich bitte die Kollegen, die stehen, sich zu setzen. Ich wiederhole meine Bitte, dass die Kollegen, die stehen, sich setzen und die Gespräche außerhalb des Saals zu führen."
Im März 1975 verließ die CDU/CSU-Fraktion nach Äußerungen des SPD-Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner unter Protest geschlossen den Plenarsaal. Wehner konterte mit dem legendären Satz:
"Wer raus geht, muss auch wieder reinkommen."

Schimpfen gehört wohl in jeder Gesellschaft und Kultur zum Alltag. Manchmal werden dabei Grenzen überschritten, immer schon. Selbst Goethe dichtete einst erbost: "Schlagt ihn tot den Hund! Es ist ein Rezensent." Heute sind die Wortgefechte allerdings oft schneller und weitreichender. Kaum kocht die Wut, wird schon ein Kommentar in die Tastatur gehackt und ab damit ins weltweite Netz. Mit dieser Reichweite werden auch gezielt politische Meinungen hervorgelockt.
Alexander Gauland: "Wir werden Frau Merkel oder wen auch immer jagen. Und wir werden uns unser Land und unser Volk zurückholen."
Der Bundestagsfraktionsvorsitzende Herbert Wehner spricht am 16.04.1971 auf der SPD-Wahlkampfveranstaltung für die bevorstehenden Landtagswahlen im schleswig-holsteinischen Neumünster.
Der SPD-Bundestagsfraktionsvorsitzende Herbert Wehner war ein Freund deutlicher Worte. Hier auf einer SPD-Wahlkampfveranstaltung 1971. (picture alliance / dpa / Wulf Pfeiffer)
Lange Phase der "lauen Mitte"
Döring: "Der politische Diskurs ist schon immer durch Emotionen geprägt. Was wir im Moment erleben ist eine sehr starke Instrumentalisierung von Gefühlen, indem gezielt versucht wird, auf Gefühle in bestimmten Wählergruppen zu setzen und die zu aktivieren."
"Wir hatten vor dem Rechtspopulismus eine relativ lange Phase des gesellschaftlichen Konsenses der Mittelstandsgesellschaft – also alle waren irgendwie Mitte, politische Mitte und gesellschaftliche Mitte und diese Phase hat ein jähes Ende gefunden in einer Gesellschaft, in der sich immer stärker Deklassierungen breit machen und Krisenerscheinungen dazu führen, dass gesellschaftliche Selbstverständlichkeiten und Leitbilder erschüttert werden."
Der rüde Umgangston, das An-den-Pranger-Stellen sei ein typisches Zeichen für eine Gesellschaft im Umbruch, erklärt die Soziologin Cornelia Koppetsch, Professorin an der Universität Darmstadt. Sie hat im Frühsommer einen Bestseller geschrieben mit dem Titel: "Die Gesellschaft des Zorns". Darin analysiert sie das Aufkommen des Rechtspopulismus als eine Reaktion auf fundamentale Veränderungen infolge der modernen Globalisierung. In der neuen Weltgesellschaft und Weltökonomie lösten sich alte Auffassungen von nationaler Souveränität, Staat und Gesellschaft.

O-Töne einer Demo: "Hau ab, Hau ab. Das ist unsere gemeinsame Sprache, das ist das Grundgesetz. Warum rufen Sie: hau ab? Ja, warum? Die Merkel hat unser Land kaputtgemacht, das ist in unserer Geschichte einmalig. Eineinhalb Millionen Afrikaner, wer will das bezahlen? Warum rufen Sie: hau ab? Mann: Hau ab, Du verlogenes Dreckschwein."
Was treibt den Zorn?
Was wissen wir wirklich über die Gefühlslage der Menschen? Stimmt die Diagnose Angstgesellschaft? Das hat sich ein Team um den empirischen Sozialforscher Jan Delhey, Professor für Makrosoziologie an Universität Magdeburg gefragt. Die Wissenschaftler haben die "Sorgenbatterie" aus den Befragungen des Sozioökonomischen Panels über einen Zeitraum von fast 30 Jahren hinweg verglichen und kürzlich in einem Sammelband veröffentlicht. Sie kommen zu einem klaren Ergebnis:

"Insbesondere, wenn man unterscheidet zwischen den Sorgen, die auf das eigene Leben bezogen sind, und den Sorgen, die auf die Gesellschaft insgesamt bezogen sind, dann sieht man, dass die Menschen mit ihrem eigenen Leben sehr, sehr gut zurecht kommen und eigentlich nur manche gesellschaftsbezogenen Sorgen punktuell gestiegen sind, aber eben auch nicht alle."
Die Rede von der Angstgesellschaft halte empirisch nicht Stand, sagt der Soziologe Delhey. Er hat sich insbesondere Statusängste im europäischen Vergleich angeschaut. Am geringsten sind sie in den skandinavischen Ländern, direkt dahinter folgt Deutschland mit einigem Abstand zu europäischen Nachbarstaaten. Auch zwischen Ost- und Westdeutschland finden die Statistiker keine großen Unterschiede. Die private Stimmungslage sei viel besser als die öffentliche Rede darüber.

"Da haben wir uns genauer sogenannte Statusängste angeschaut, also dass andere auf einen herabblicken und die Art von Ängsten und Gefühlen, dort ist der Ost-West-Unterschied komplett verschwunden, der war vor zehn Jahren noch erkennbar. Und auch Lebenszufriedenheitsdaten zeigen, dass die Lücke zwischen Ost und West noch nie seit der Wiedervereinigung so gering war wie heute. Also das subjektive Wohlbefinden der Ostdeutschen hat sich auf breiter Front verbessert. Das ist schon ein interessanter Befund, weil einen das schon ein bisschen rätseln lässt, wo ansonsten diese negative Stimmungslage und die politische Aufgeladenheit herkommt."
Angst mache weniger die eigene Gegenwart sondern, wenn überhaupt die Zukunft. An der Spitze stehen hier die Themen Klimawandel, Zuwanderung, Kriminalität und Ausländerfeindlichkeit.
"Letztlich ist die Frage der Zuwanderung, der kosmopolitischen Gesellschaft, einer multikulturellen Gesellschaft ist ab einem bestimmten Punkt dann auch eine Wertefrage, bei der man mitgeht oder auch nicht. Ich glaube, da steckt auch für die Erklärung von Ost-West-Unterschieden fast mehr Musik drin als in Sozioökonomie oder in der Stimmungslage."
Es geht um Werthaltungen
Zornig macht also nicht allein der Blick in den eigenen Geldbeutel. Das zeigte schon die Wahl zum Europäischen Parlament 2014. Die Rechtsparteien machten gerade in den Ländern ihre stärksten Zugewinne, die von der Finanz- und Eurokrise 2008 am wenigsten betroffen waren, also Österreich, Dänemark, Deutschland, Frankreich, die Niederlande und Schweden.
Alexander Gauland, Spitzenkandidat der Partei Alternative für Deutschland (AfD) und Alice Weidel, Spitzenkandidatin der Partei Alternative für Deutschland (AfD), umarmen sich am 24.09.2017 auf der Wahlparty ihrer Partei in Berlin.
"Wir werden Frau Merkel jagen", sagte Alexander Gauland in 24.09.2017 in Berlin. Und weiter "Wir werden die Regierung vor uns hertreiben. Im Bild die AfD-Spitzenkandidaten Weidel und Gauland. (picture-alliance / dpa / Jens Büttner)
Der Rechtspopulismus geht quer durch alle sozioökonomischen Lagen, das bestätigen auch die Wahlanalysen zur Bundestagswahl 2017 der Bertelsmann-Stiftung. Die Soziologin Cornelia Koppetsch sieht darin das Resultat weltweiter Umbrüche seit dem Fall der Mauer 1989: Der Wegfall des Ost-West-Konflikts, der Ausbau der EU, globale Finanz- und Kapitalströme, die sich von nationalen Entscheidungen zunehmend unabhängig entwickeln. Die Weltgesellschaft biete dem Einzelnen kein privates Geländer mehr.

"Wir haben eine Situation, die ich als "Querfront der Verlierer" mal bezeichnet habe. Wir haben nicht die eine Klasse, die von der Globalisierung abgehängt wird, also beispielsweise die prekären Schichten. Sondern wir haben in jeder Klasse die verschiedenen Gruppen, die davon negativ betroffen sind."
Die kosmopolitisch Orientierten träten die Flucht nach vorne an und ließen sich auf globale Märkte und neue Wissensökonomien ein, von denen sie auch profitierten. Andere blieben in alten Strukturen verhaftet oder würden teilweise ganz vom globalen Markt ausgespuckt, da es für ihre Qualifikationen keine Verwendung mehr gibt, höchstens noch im Dienstleistungssektor.

Alice Weidel: "Stopp der unkontrollierten Einwanderung und Sicherung unserer Grenzen, Abkehr von den Euroinflationspolitik."

Während die einen weltläufig Öffnung, Verschiedenheit und Vielfalt in Lebensstil und Kultur praktizieren, sind die anderen irritiert bis verärgert über deren exzentrischen Lebensstil. Mit dem Rechtspopulismus sei ein Kampf um die richtige Lebensweise entfacht, meint die Soziologin, ähnlich wie schon einmal in den 70er-Jahren.
Eine zu "luftige Gesellschaft"
"Also die 68er war eine Bewegung gegen eine zu verkrustete Gesellschaft und der Rechtspopulismus ist heute eine Bewegung gegen eine zu luftige Gesellschaft, also eine Gesellschaft, die keine Grenzen mehr zu haben scheint, wo alles durcheinandergewirbelt wird, wo es multiethnische und diversity Geschlechterverhältnisse gibt, also alles irgendwie durcheinander ist, jedenfalls empfinden das die Träger dieser Anhängergruppen und dagegen errichten sie ein Modell, wo es wieder um Ordnung, Struktur und autoritäre Muster geht."
Gauland "Wir werden uns unser Land und unser Volk zurückholen."
"Ich habe es die symbolische politische Therapie genannt, weil es nicht darum geht, dass man den AfDlern oder den Rechtsparteien tatsächlich zutraut, dass sie unsere Gesellschaft zum Besseren verändern. Was aber tatsächlich der Fall ist, dass die Partei und ihre Zugehörigkeit eine emotionale Wunde heilt. Nämlich die Wunde der Frustration, des Abgehängt-Werdens, des Aufholens von Außenseitern und des Ressentiments, dass die Partei sagt, die Gesellschaft ist ganz grundsätzlich schlecht, die von den kosmopolitischen, wie sie sagen, links versifften Milieus angeführt wird, die ist moralisch korrupt und wenn es euch schlecht geht, dann hat das genau diesen Grund und eine sofortige Genugtuung zu verschaffen."

Auch die Philosophin Sabine Döring sieht hinter Hassbotschaften das Ringen um Meinungsmacht, die ins Unversöhnliche driftet. Gefühle seien immer auch Werthaltungen und hätten einen rationalen Kern. Über den könne man, wenn die Wut verraucht sei, reden. Letztlich gehe es um die Frage, in welcher Gesellschaft wir künftig leben wollen.
"Wenn dann der Diskurs ein reiner Haltungsdiskurs wird, der es mir erlaubt, als Mitglied einer sich selbst so verstehenden Elite andere nur noch moralisch zu verurteilen, dann wird das auf Widerstand stoßen. Ich selber bin deshalb auch skeptisch über diesen identitätspolitischen Diskurs, weil wir müssen über die Werteinstellungen hinweg dahin kommen, dass wir uns verständigen darüber, was ist ein für alle Menschen lebenswertes Leben. Dann muss man aber auch die eigenen Werthaltungen immer wieder infrage stellen."
Das gelte für die AfD und den Umgang mit ihrem rassistisch-rechtsextremen Rand ebenso wie für die linksliberale Meinungselite. Cornelia Koppetsch schreibt:
"Der Liberalismus verteidigt nicht mehr Minderheiten gegen Minderheiten, vielmehr sind es Minderheiten wie Politiker, Journalisten, Banker, Hochschullehrer, Gewerkschaftsführer, die Mehrheiten erklären, was das Beste für sie sei."
Gefühle sind auch rational
Die Überzeugung, dass es für alle gut ist, sich vegetarisch zu ernähren, keine Dieselfahrzeuge zu fahren, die Umwelt nicht zu verschmutzen, an das Klima zu denken und andere Menschen nicht auszugrenzen, sei gut gemeint. Aber oft würde darüber vergessen, dass andere Menschen nicht unter den gleichen Bedingungen leben. Man kennt sich nicht, ein Resultat der Blasenbildung, die vom gentrifizierten Stadtteil bis ins Internet reicht. So wundert es nicht, dass die AfD besonders dort große Wahlerfolge hat, wo die Bevölkerung abwandert. Das gilt für ländliche Regionen in Baden-Württemberg genauso wie für Städte wie Gelsenkirchen, Hagen und Herne in Nordrhein-Westfalen. Die Jungen gehen, die Alten bleiben zurück. Die Kneipe schließt, der Lebensmittelladen macht zu, der Arzt geht in Ruhestand und wird nicht ersetzt. Das führt zu Verunsicherung und Verlustängsten und dafür haben die Rechtspopulisten Schuldige ausgemacht: Flüchtlinge, Migranten und die "da oben" in Brüssel und Berlin.

Johannes Kahrs: "Jetzt haben wir einen Haufen rechtsradikaler Archlöcher hier im Parlament sitzen."
Gauland: "Da wir ja nun offensichtlich drittstärkste Partei sind, kann sich diese Bundesregierung, wie immer sie aussieht, sie kann sich warm anziehen."
Andrea Nahles: "Und ab morgen kriegen sie in die Fresse."
Politik wieder wichtig nehmen
Die gegenwärtige Emotionalisierung der Gesellschaft ist eine Belastungsprobe demokratischer Institutionen und Umgangsformen. Aber das müsse nicht unbedingt bedrohlich sein, meint die Soziologin.
"Insofern, als die Zeit der Alternativlosigkeit vorbei ist. Auch die Zeit der lauen Mitte, die ja noch bis in die Nuller-Jahre das Lebensgefühl dominiert hat und dass sich vielleicht so etwas wie Integration durch den Konflikt vollziehen könnte im Idealfall. Das heißt, die Parteien diskutieren miteinander und wägen verschiedene Gesellschaftsbilder, verschiedene Möglichkeiten gegeneinander ab und versuchen über diesen Streit wieder zueinander zu finden, das ist ja auch eine Option. Es zeigt, dass viele Menschen sich wieder berufen fühlen, sich einzumischen, mitzudiskutieren und Politik wieder wichtig nehmen."
Streit gehört zur Politik. Gefährlich ist es, wenn er sich gegen die Institutionen und Prozesse der Demokratie selbst richtet. Diese Linie ist schon einige Male überschritten worden – in Parolen und Taten. Für alle anderen soll hier der Altmeister des wütenden Streitens das letzte Wort haben:

"Wer rausgeht, der muss auch wieder reinkommen!"